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TEIL II: Aufbruch

4. »Etwas Eigenes machen«:
Musik und Identität

»Wenn ich an die späten Sechziger zurückdenke, weiß ich, dass ich zunächst zunehmend unzufriedener geworden bin und dann angefangen habe, nach irgendwelchen neuen Wegen zu forschen. Ich hatte noch gar keine klare Vorstellung, wohin das gehen sollte.«

– Michael Rother, Gitarrist von Kraftwerk, NEU! und Harmonia –

»Wir waren auf der Suche nach unserer eigenen Identität. Es war ein Bedürfnis, etwas Eigenes zu machen.«

– Lothar Stahl –

»Wir hatten diese ganze Geschichte satt!«

– Hans-Joachim Irmler –

Noch Anfang 1966 dröhnen aus deutschen Übungskellern holprige Versionen von »(I Can’t Get No) Satisfaction« oder »Sweet Little Sixteen«. Andere bemühen sich in heute längst vergessenen Eigenkompositionen, dem Sound aus Übersee möglichst nahezukommen. 1967 gelingt der nach britischem Muster geformten Beat-Kapelle The Rattles mit »The Witch« sogar der erste internationale Hit aus Westdeutschland. Nach wie vor aber hängt die deutsche Rockmusik am Rockzipfel ihrer großen angelsächsischen Schwester. »Ich habe mich damals immer noch an englischen und amerikanischen Musikern orientiert«, gesteht der ehemalige Düül-Schlagzeuger Peter Leopold rückblickend.

Viele Bands sind es jedoch leid, als zweitklassige Kopien den Samstagabend im Jugendclub zu bestreiten. »Ich glaube, wir sind die erste Generation, die das abschüttelte«, so Ralf Hütter (Kraftwerk) 1975 in einem Interview mit dem US-amerikanischen Musikjournalisten Lester Bangs. »Wir können nicht leugnen, dass wir aus Deutschland stammen, denn die deutsche Mentalität […] wird immer ein Teil unseres Benehmens sein.«

Der britische Beat und die Rockmusik als uramerikanisches Phänomen sind zwar zweifellos auch die Wurzeln des Krautrock, andererseits zeigt jedoch gerade die amerikanische Jugendkultur der Sechziger, dass es möglich ist, sich über eine eigene Musik zu definieren und von gesellschaftlichen Fesseln zu befreien. Wie eine solche Musikkultur aussehen kann, haben die Besatzer auf deutschen Bühnen hautnah vorgemacht. »Man merkte, dass die Musiker, die man bewunderte, ihre eigene Sache verfolgten«, erzählt Roman Bunka. »Das hat natürlich dazu angespornt, sich selbst auf den Weg zu machen. In dieser Hinsicht war das auch eine klare Vorbildfunktion.«

Münchener, Düsseldorfer und Berliner Lokalmatadoren arbeiten nun hartnäckig daran, sich von ihren übermächtigen Vorbildern abzunabeln. Doch der Wille zum Umbruch allein genügt nicht. Was fehlt, ist musikalische Orientierungshilfe. Zum Dreh- und Angelpunkt wird so die Suche nach einer Ausgangsbasis für das eigene Schaffen. Kraan-Bassist Hellmut Hattler erinnert sich noch genau an einen Nachmittag im Haus der Eltern seines Freundes Jan Fride: »Wir saßen bei Jan im Wohnzimmer. Seine Eltern besaßen so eine große Braun-Stereoanlage. Es war ein ruhiger, sonniger Nachmittag. Ich sagte, ›eigentlich sollten wir eigene Stücke spielen‹. Jan antwortete, ›wie willst du denn das machen?‹«

Schlüsselrolle:
Free Jazz

»Mein Bruder Ulrich, der heute Musiklehrer ist, hat damals zu mir gesagt, ›sag mal, hörst du immer noch Dixieland?‹ Ich antwortete, ›na, und was hörst du?‹ Er sagte nur, ›Free Jazz‹. Das war ein Schlag ins Gesicht … das ging zur Sache.«

– Peter Leopold –

Für viele bietet der moderne Jazz neue Entfaltungsmöglichkeiten. Zur ersten Riege deutscher Jazzmusiker, die einen entscheidenden Schritt in Richtung progressiver Formen und Spielweisen wagen, gehören Mitte der Sechziger unter anderem der Pianist und Komponist Wolfgang Dauner, der Posaunist Albert Mangelsdorff und der Saxofonist Peter Brötzmann. Doch auch der Jazz, einst Synonym geistig-musikalischer Freiheit, droht in bürgerlicher Spießigkeit zu verkrusten: »Jazz ist zum Kulturgut stilisiert und damit in den Konsumprozess bürgerlicher Kunstverwalter integriert worden«, wettert der Publizist Rolf-Ulrich Kaiser 1969 in seinem Buch der neuen Pop-Musik. Der Begriff ›Jazz‹ stehe für »die Überreste einer vormals spontanen und vitalen Kreativität. Jazz hört man sich in luxuriösen oder wenigstens erhabenen Sälen an; extra dafür zubereitet, gepudert, parfümiert und frisiert wie für einen Opernbesuch.« Wie Kaiser können sich viele Fans und Musiker mit der akademischen Schlips-und-Kragen-Mentalität mancher Veranstaltungen nicht mehr identifizieren. »Die normale (Jazz-) Szene in den Sechzigern war konservativ«, sagt Christian Burchard. »Die haben gespielt, was gerade gefragt war – Standard-Jazz.«

In »angesagten« Lokalen wie dem Ulmer Jazzkeller hingegen legt man großen Wert auf ein fortschrittliches Programm. Unter den regelmäßigen Besuchern ist auch der junge Hellmut Hattler: »Nachdem wir mit fünfzehn, sechzehn Beat und Soul abgehakt hatten, waren wir fasziniert von der Free-Jazz-Szene. Über gemäßigte Sachen wie Albert Ayler und John Coltrane haben wir uns dann in die Extreme reingehört – das war eine Zeit lang eine sehr intensive Hör- und Verarbeitungsgeschichte.«

Wegbereitern wie Coltrane, Coleman, Eric Dolphy, Sun Ra oder Pharoah Sanders folgend, experimentieren deutsche Gruppen mit freier Tonalität, dissonanten Akkorden, neuen Spieltechniken und einer geradezu ekstatischen Intensität – und wagen sich so auf ein Terrain vor, das auch für die Jazz-Nation USA noch größtenteils Neuland ist. »Meiner Ansicht nach wurde der Free Jazz in den Clubs von Köln erfunden« sagt Hans-Joachim Irmler. »Er hat sich dann nach New York fortgepflanzt und ist später als Neuheit aus Amerika verkauft worden.« Diese These mag zwar einigermaßen gewagt klingen, doch ganz Unrecht hat der Faust-Orgler damit nicht: Während der Sechzigerjahre bildet sich ein europäischer Free Jazz heraus, an dessen Entwicklung deutsche Musiker wie Brötzmann, Gunter Hampel, Joachim Kühn, Manfred Schoof oder Alexander von Schlippenbach maßgeblich beteiligt sind.

Der oft auch als »Avantgarde-Jazz« bezeichnete Stil bietet endlich eine Möglichkeit, der eigenen Kreativität freien Lauf zu lassen. In einer Konzertbesprechung aus dem Jahre 1969 schreibt die Ulmer Schwäbische Zeitung über die neu gegründete Veith Wolbrandt Group, aus welcher später Kraan hervorgehen soll:

»Die Gruppe nimmt bekannte Themen und variiert sie im eigenen Arrangement zu dem Sound, den sie für richtig hält. Dabei gelingt es ihnen, den Stil der ›Kinder von Marx und Coca Cola‹ zu interpretieren. Gitarre und Querflöte simulieren Drogenrausch, unterbrochen von dem harten Schlagzeug und dem Bass. Den Melodieinstrumenten gelingt es immer wieder, eine ›verträumte‹ Atmosphäre zu schaffen.«

Dem Free Jazz komme für die Entwicklung der deutschen Rockmusik »eine Schlüsselrolle als musikalische und soziale Revolution zu«, betont Roman Bunka. »Es war ein sehr starker Einfluss. Free Jazz war ein Mythos.« Ein Mythos, der eine sehr reale Wirkung entfaltet: Das bequem gewordene Jazzpublikum zeigt sich von den schrillen Tönen zu beiden Seiten des Atlantiks gleichermaßen schockiert. »The New Thing« ist nicht nur Musik, sondern auch lautstarker Protest einer jungen Generation gegen soziale Ungerechtigkeit und verstaubte Konventionen. Die jazzbegeisterte deutsche Jugend nimmt diesen Ansatz mit Feuereifer auf. Hellmut Hattler: »In der Jugend ist alles voller Leidenschaft … Es gab damals eine Band namens Progressive Jazz Group Ulm. Auf dem Plakat war mein entblößtes Hinterteil mit einer Zigarette drin zu sehen. Das war schon unglaublich.«

Popmusik mit Botschaft:
»Underground«

Gleichzeitig mit dem Free Jazz dringt auch eine neue Popmusik an deutsche Ohren, die das musikalische und inhaltliche Format der Beat-Single sprengt. In »Kill For Peace« singen die New Yorker Fugs um den Beatnik-Poeten Tuli Kupferberg gegen den Vietnamkrieg an, Frank Zappa rüttelt an der bürgerlichen Sexualmoral und propagiert die Revolution. Diese »Underground-Musik« übt eine bislang ungekannte Faszination aus: »Sie ereignet sich innerhalb einer Gesellschaft, die dem Menschen verwehrt, über sich selbst zu verfügen«, schreibt Rolf-Ulrich Kaiser euphorisch. »Untergrund« sei die »direkte Beziehung der Musik zur politischen und sozialen Situation, in der die Gruppe agiert«.

Die gesellschaftskritischen Textbotschaften spiegeln sich in aggressiven Gitarrenriffs und drogenschwangeren Instrumentalteilen wider. Inhalt und Form verschmelzen zu einer Einheit, die den konservativen Vorgaben der Musikindustrie zuwiderhandelt und eine eigene Sprache sucht. Resultat ist eine Musik, wie sie auch vielen deutschen Rockmusikern vorschwebt. »Irgendwann kommt eine Generation und sagt, ›Hoppla, wie lange soll diese Verarschung noch weitergehen‹«, kommentiert Othmar Schreckeneder, Betreiber von Schneeball Records, den raschen Siegeszug der »neuen Popmusik«. »Das war bei uns genau dasselbe. Es gab eine Popmusik, die war so schlimm und verlogen, dass sich niemand mehr mit ihr anfreunden konnte. Plötzlich hörte man aus irgendwelchen Ecken etwas ganz anderes.«

MC5, Blue Cheer, die Doors oder Jimi Hendrix brechen Tabus – und geben ihren deutschen Eleven damit buchstäblich einen Baukasten für eine eigene Popmusik an die Hand. Roman Bunka schwärmt noch heute von den kostbaren Langspielplatten, die mit einem Preis von um die 20 Mark (bei einem Netto-Durchschnittsgehalt von knapp 700 Mark) regelmäßig Löcher in die Haushaltskasse reißen: »In der Rockmusik gab es wichtige Bewegungen: The Greatful Dead, die stundenlang improvisierten, Zappa mit seinen Endlos-Gitarrensoli, Cream – all diese Doppel-LPs mit den endlos langen Sessions.«

Zum eigentlichen Schlüsselerlebnis werden jedoch die Konzerte. Christian Burchard erzählt: »Als Jimi Hendrix noch gar nicht so bekannt war, ist er durch die Clubs getourt und hat dabei auch in München im PN gespielt. Das war etwas ganz Neues, selbst im Vergleich zum Free Jazz. Ganz neue Klänge.«

Neues Selbstverständnis:
Vielfalt und Rückbesinnung

Gegen Ende der Sechziger schwappen Hippietum, Protestsongs und Psychedelic-Welle mit geballter Kraft nach ganz Europa. Die scheinbar grenzenlose Vielfalt von destruktiven Rückkopplungen bis hin zu exotisch gefärbten Blumenkinder-Ringelreihen macht vor allem eines deutlich: Die ehernen Gesetze, wie Rock- und Popmusik zu klingen hat, sind abgeschafft. Alles ist möglich. »Deutsch« bedeutet folglich auch in einem rockmusikalischen Kontext nicht mehr automatisch »minderwertig«.

Daneben bereitet noch ein anderes Phänomen den Boden für ein neues musikalisches Selbstverständnis. Weltweit besinnt sich ein wachsendes Publikumssegment auf sein nationales kulturelles Erbe und versucht, dieses in der Gegenwart neu zu verankern. Nach dem großen amerikanischen Folk-Revival der Fünfzigerjahre verbinden Bands wie die New Yorker Mugwumps oder die bekannteren Byrds bereits 1964 traditionelle Strukturen mit Beat- und Rock-Elementen.

In Deutschland forscht der während des Dritten Reiches verbotene und nach dem Krieg wieder gegründete »Arbeitskreis Burg Waldeck« nach einer neuen Liedkultur und veranstaltet im Jahre 1964 das erste Festival »Chanson Folklore International«. Verschüttete oder diskriminierte deutsche Traditionen wie die jiddische Kultur oder die Lieder der gescheiterten Revolution von 1848 werden wiederentdeckt und weiterentwickelt, die Fragen der Zeit kritisch reflektiert. Bei der dritten Ausgabe des »bundesdeutschen Newport« tritt 1966 die Speerspitze einer neuen Liedermacher-Generation auf: Franz Josef Degenhardt, Dieter Süverkupp, Hannes Wader. Über 3.000 Menschen pilgern zu der Burgruine im Hunsrück. Die Presseberichterstattung über das Konzert reicht von »Gammlertreffen« bis zum Jubelruf: »Es gibt wieder eine Generation.«

Der Liedkultur gelingt so der Sprung in eine neue Zeitrechnung. Die deutsche Rock- und Popmusik indes leidet bei ihren Emanzipationsversuchen unter erheblichen Startschwierigkeiten: Das Genre ist zu jung und kann daher weder auf eigene, deutsche Traditionen zurückgreifen, noch sich – wie etwa der Jazz – als verselbständigte Szene behaupten. Um die angelsächsische Dominanz aus eigener Kraft zu überwinden, bedarf es noch einer allerletzten Motivation …

»Ami Go Home«:
Abkehr von Amerika

Diese liefert bemerkenswerterweise die amerikanische Außenpolitik. Die musikalische Kinderstube vieler Krautrocker ist seit jeher geprägt von einem gespaltenen Verhältnis zu Amerika: Zwar bewundert man die Rock-Rebellen und Jazzmusiker, lehnt aber Vietnamkrieg, Südamerikapolitik und Kulturimperialismus ebenso vehement ab. Linke Studenten befassen sich mit den Lehren Maos, und für viele wird der aus Argentinien stammende Revolutionär Che Guevara zum Idol.

Mitte der Sechziger hat das positive Bild der Schutzmacht USA, die einst über die sowjetische Blockade hinweg Berlin per Luftbrücke versorgte, in Deutschland tiefe Risse bekommen. Die nach der Ermordung John F. Kennedys von dessen Nachfolger Lyndon B. Johnson mit unerbittlicher Härte und einem nunmehr offenen Militärengagement fortgesetzte Intervention in Vietnam trifft weltweit auf Widerstand. Hohe Opferzahlen, Massaker unter der Zivilbevölkerung sowie der massive Einsatz von Brandbomben und dioxinhaltigen Entlaubungsmitteln lassen den Glauben an die propagierte Befreiung vom Kommunismus schwinden. Der Ruf »Ami Go Home« wird bei Protesten laut, auch viele Deutsche sprechen vom Völkermord und wenden sich gegen die von ihnen als blind empfundene Amerikahörigkeit der Bundesregierung. »Deutschland als entwurzelte Nation schmiss sich besonders an die westlichen Lebensformen regelrecht heran und übernahm in vorauseilendem Gehorsam alles, was aus Amerika kam«, ärgert sich Hellmut Hattler noch heute.

Die bislang pauschal verehrte Musik der Amerikaner gerät in einen Zwiespalt: Vieles wird nun endgültig als reaktionäre Besatzermusik abgestempelt, anderes wiederum als Stimme eines aufbegehrenden, aufrechten Teils der amerikanischen Bevölkerung empfunden, dem es nachzueifern gilt. Auch viele deutsche Musiker identifizieren sich mit der Bürgerrechts- und Protestbewegung in den USA. Othmar Schreckeneder:

»Amerika war damals auch schon sehr zweigeteilt, etwa so wie heute – einerseits eine etwas unmoralische Großmacht, die aber andererseits mit der Beatnik-Bewegung, Bob Dylan usw. ein aufrührerisches politisch-kulturelles Potenzial besaß. Je krasser die eine Seite, desto konstruktiver und kreativer die Gegenbewegung. Amerika war ein kreativ-poetischer Einfluss und hatte natürlich auch diesen Touch mit den ganzen bewusstseinserweiternden Drogen. Wir haben uns immer als Unterstützer derjenigen verstanden, die dort drüben den Kopf hingehalten haben und zum Beispiel gesagt haben, ›wir gehen nicht zum Militär‹. [Es herrschte] eine Sympathie für diejenigen Amerikaner, die auf der anderen Seite des Zaunes standen.«

In diesem Spannungsfeld zwischen Ablehnung und Anlehnung erwacht bei den Musikern ein politisch motivierter, kreativer Aktionismus: »Auf einmal war der Gedanke da: Ey, du kannst es doch, also mach’s doch einfach«, sagte Edgar Froese von Tangerine Dream 2006 in einem Interview mit dem taz Magazin. »Grundsätzlich war Befreiung der Grundtenor, der sich in der Musik widerspiegelte.«

Das im Oktober 1969 aufgenommene Debütalbum der zuvor mehrfach umbesetzten Band Tangerine Dream liefert ein Zeugnis der neu gewonnenen Freiheit: »Electronic Meditation« schöpft aus Rock’n’Roll, Klassik und experimenteller Musik und verschmilzt diese Elemente zu einem anarchisch dahinwabernden Ganzen. Entsprechend ungewöhnlich ist die Instrumentierung: Neben Orgel, Gitarre und Cello kommen auch Trinkgläser und eine Registrierkasse zum Einsatz.

Viele Bands der heraufdämmernden Krautrock-Ära vollziehen denselben Schritt und lassen ihrem Willen zur Gestaltung freien Lauf. Einflüsse werden dabei akzeptiert, dienen jedoch lediglich als Fundament der eigenen Entwicklung. »Teilweise wurde sicher viel von den Engländern und Amerikanern kopiert, aber man hat stets versucht, etwas Eigenes daraus zu machen«, erinnert sich der Sammler Klaus Sonntag, der seine Jugend im nordrhein-westfälischen Landkreis Lippe verbringt. »Missus Beastly zum Beispiel haben auf Funk und Jazz nur aufgebaut. Es macht den Krautrock aus, dass er in der Art und Weise, WIE Musik gemacht wird, klar definierbar ist: als vom angloamerikanischen Erbe abgekoppeltes Experiment.«

»Man kann nicht sagen, dass das, was wir gemacht haben, unbedingt ANTI-amerikanisch war«, beschreibt der damals in Hamburg lebende Hans-Joachim Irmler die neue Geisteshaltung. »Als wir die erste Platte gemacht haben, waren wir überzeugt, dass das etwas BESONDERES war – es war zeitgenössisch!« Und auch im Süden der Republik ändert sich die Arbeitsweise. Hellmut Hattler: »Wir haben im Prinzip die Energie des Jazz genommen und geschaut, was man selbst daraus machen kann. Die vielleicht wichtigsten Signalgeber für mich waren John Coltrane und Jimi Hendrix, durch sie bin ich auf Ideen gekommen. Ich denke aber, ich habe daraus etwas gemacht, was mir gemäß war.«

Freiheit:
Die Free Music Scene

An verschiedenen Punkten der Bundesrepublik verändert sich nun beinahe über Nacht das Antlitz der populären Musikszene. Aus vielen Jazz-, Beat- und klassischen Musikern werden progressiv eingestellte Rocker, die nicht selten ihren gesamten Lebensstil dem neuen Denken unterordnen. Als Christian Burchard von einer längeren Tournee mit dem Pianisten Mal Waldron zurückkehrt, ist er erstaunt über das veränderte Bild, das sich ihm in München bietet: »Damals fing das an, dass die Leute in Kommunen zusammengezogen sind. Chris (Karrer, Anm. d. Red.) wohnte in der Einsteinstraße, der ersten Kommune, wo auch Uschi Obermaier und diese ganze Szene verkehrte. Um 1964, 1965 hatte er noch fast ausschließlich Saxofon gespielt. Plötzlich sah man ihn nur noch mit einer Gitarre in der Hand, und er begann, mit Verstärkern zu arbeiten.«

Die sogenannte Free Music Scene trifft sich zu Sessions in einschlägigen Clubs wie der Münchener Diskothek Blow Up, im ehemaligen Straßenbahndepot an der Ungerer Straße oder im PN. Burchard:

»Dort gab es jeden Montag eine Session, so ein … Ereignis, das hieß dann zum Beispiel ›studentisches Meeting‹. Da waren zum Teil bis zu fünfzehn Musiker auf der Bühne und haben nonstop gespielt. Ich war manchmal als Zuhörer da und habe es ungemein genossen. Diese Vielzahl an Stimmen, die da aus dem Lautsprecher kam, erzeugte einen besonderen Klang, den ich vorher noch nie gehört hatte – wie eine Sinfonie aus verschiedenen Tönen. Die Sache sprach sich schnell herum, und der Club war jeden Montag knallvoll. Die Leute standen da und hörten zwei Stunden lang zu. Da habe ich mir gedacht: Mensch! Ich spielte damals noch Jazz, aber ich fand es auf einmal viel faszinierender, da mitzumachen, als weiterhin in den Clubs Jazz zu spielen. Die Freiheit und das Klangerlebnis waren faszinierend.«

5. Berufsmusiker aus gutem Hause:
Eine Szene entsteht

»Fast alle berühmten Popmusiker kommen aus ziemlich kleinbürgerlichen Verhältnissen.«

– Irmin Schmidt –

Ende der Sechziger ist das Berufsmusikertum in Deutschland – etwa im Vergleich zu den Vereinigten Staaten – noch kaum entwickelt. Kritiker der deutschen Rockszene haben dies stets als entscheidenden Makel empfunden und den deutschen Rockern jene Authentizität abgesprochen, die man nur durch den Staub der Straße erwirbt. Sicher – der Krautrock ist kein Aufschrei einer unterdrückten Klasse wie der Blues, er kommt auch nicht aus den Arbeitervierteln Liverpools, sondern ist die bewusst vollzogene, intellektuelle Kopfgeburt einer gebildeten Mittelschicht. Dabei wird aber eine wichtige Tatsache gern übersehen: Die junge deutsche Szene spielt zwar nicht primär ums wirtschaftliche Überleben, wirft jedoch, ganz im Gegensatz zu vielen englischen und amerikanischen Rockmusikern, oft eine vorgezeichnete oder bereits wohl geordnete bürgerliche Existenz über Bord. Obwohl sich das Krautrock-Einstiegsalter innerhalb einer für die Rockmusik ungewöhnlich weiten Spanne von etwa fünfzehn Lebensjahren bewegt, ähneln sich die gesellschaftlichen Ausgangslagen der meisten Musiker.

Roman Bunka, der seit frühen Teenagerjahren in Bands musiziert, bricht ein Kunststudium in Würzburg nach wenigen Semestern ab, um Profimusiker zu werden. Der Vater, ein großer Swingfan, billigt die Entscheidung: »Er hat selbst Gitarre gespielt, in einer Big Band in der Kriegsgefangenschaft.«

Peter Leopold, Spross einer Münchener Arztfamilie, stößt nicht auf solches Verständnis. Der Sohn soll später Medizin studieren (was Leopold Ende der Siebziger auch tatsächlich versucht) und seine Zeit nicht mit brotloser Kunst verplempern. »Mein Vater kam nach Hause und hat sich nach dem Mittagessen hingelegt«, schildert Leopold die häusliche Situation. »Ich wollte aber Schlagzeug spielen. Da kollidierten Welten. Ich habe gespielt, aber danach habe ich gesagt, ich will lieber ins Internat.« Über den privaten Musikunterricht erhält er dort Zugang zum Free Jazz: »Wir hatten mit meinem Klavierlehrer zusammen ein sehr schönes Free-Jazz-Trio. Da habe ich mich in Sachen Schlagzeug richtig reingehängt. Das war eine antiautoritäre Angelegenheit.« Als er in Musik trotzdem eine Fünf bekommt, muss Leopold die Schule verlassen. Zwei Jahre später ist er Berufsmusiker.

Über eine außergewöhnlich gute Startposition kann sich Irmin Schmidt freuen, der vor seinen revolutionären Klangexperimenten eine komplette klassische Musikausbildung durchläuft. Als er 1968 Can gründet, ist er bereits über 30 Jahre alt und legt eine viel versprechende Karriere auf Eis: »Natürlich haben meine Eltern nach meinen ersten größeren Erfolgen in Salzburg und Wien gedacht, dass ich ein großer Dirigent werde, aber als ich dann Can gegründet habe, fanden sie das auch toll.«

Manch anderem ist selbst noch ein wenig bange vor der eigenen Courage: »Wir hatten uns dazu entschlossen, alles hinzuschmeißen und die Musik als Surfbrett zu benutzen«, erzählt Hellmut Hattler. »Natürlich waren wir total davon besessen, Musik zu machen. Sie aber als Lebensgrundlage zu akzeptieren, war ein harter Schritt.« In der ersten Presseinfo der »Firma Kraan« steht, fast trotzig, eine Rechtfertigung für diesen Schritt zu lesen: »Wir haben keine festen Jobs in dieser Gesellschaft. Wir können leben und uns voll auf die Musik konzentrieren.«

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