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Identifikationsmodell Beat

»Die englischen Beat-Gruppen haben etwas Neues gemacht«, erinnert sich Roman Bunka. »Ich weiß noch deutlich, wie die ersten Sendungen des Beat-Club im Fernsehen kamen, die wir begeistert verfolgt haben.« Als am 25. September 1965 die erste Folge des legendären TV-Formats von Radio Bremen live ausgestrahlt wird, beginnt eine mediale Durchsetzung der jüngeren Bevölkerungsgruppen, die sich wohl nur noch mit der Wirkung von MTV in den Achtzigern vergleichen lässt. Die Stars aus Großbritannien und Übersee flimmern erstmals zum Greifen nah über die Bildschirme der Wohnstuben. Musik, Kleidung, Instrumente, Haarschnitte sind nun direkt erlebbar und ergeben das Gesamtbild einer neuen Kultur, die zum Vorbild für die deutsche Jugend wird – auch für Bunka: »Das war DIE Serie, wo zum ersten Mal Beatmusik im Fernsehen kam. Meine Mutter hat voller Entsetzen ein paar Kommentare dazu abgegeben. Ein paar von den Jungs mochte sie aber auch. Es gab eben die Guten und die Bösen. Die Pretty Things waren die Bösen.«

Auf deutschen Bühnen tummelt sich englischer Pop-Import, Jugendliche feiern fanatisch ihre Idole. Die bürgerliche Gesellschaft ist angesichts dieser neuen Hysterie verunsichert. Lothar Stahl, späterer Schlagzeuger der Karlsruher Checkpoint Charlie, erinnert sich:

»Hauptsächlich sind damals englische Bands rübergekommen, da war es immer voll. Alle Kids sind hingerannt. Die Schwarzwaldhalle in Karlsruhe, wo drei-, viertausend Leute hineingehen, war übervoll, und es standen nochmal ein paar hundert, vielleicht tausend Leute vor der Tür. Dann wurde die Halle gestürmt. Wir sind als Kids um die Halle gekreist und haben geguckt, wo man noch reinkönnte, ob vielleicht einer ein Klofenster offen gelassen hat oder sowas. Irgendwann ging eine Scheibe zu Bruch, dann kamen sie mit Hundestaffeln und haben angefangen, alles abzusichern.«

2. Vorbilder und erste Gehversuche

»Es gab in Deutschland verschiedene Musikkulturen, bedingt durch die verschiedenen Besatzungszonen. Im Norden waren die Engländer, im Süden die amerikanische Zone. Die ganzen deutschen Beat-Bands kamen daher aus Hamburg und nicht unbedingt aus Bayern.«

– Roman Bunka –

Beat-Bands in Deutschland

Bald beginnen auch deutsche Musikgruppen, die Briten zu kopieren. Bands wie The Lords und The Rattles eifern in Musik, Text und Kleidungsstil (oft erfolgreich) ihren Vorbildern nach. In Schulaulen und Kneipensälen entwickelt sich zaghaft eine deutsche Beatszene: »Während der Beat-Zeit habe ich in Kassel gewohnt«, erzählt Roman Bunka. »Meine erste Beat-Band habe ich mit dreizehn, vierzehn auf dem Weg zur Schule gesehen – da wurde ein Eiscafé eröffnet. Man trat auch viel in Sportclubs, bei Schulfesten und Uni-Feten auf. In Kleinstädten wie Rothenfels am Main fanden Beat-Wettbewerbe mit Gruppen aus der Gegend statt.«

Besonders im Norden der Bundesrepublik entsteht, unter dem Einfluss der von den Beatles geprägten Hamburger Clubszene, eine ambitionierte Liga von Imitatoren. Anschauungsmaterial gibt es reichlich: Viele, auch weniger bekannte britische Bands spielen regelmäßig auf dem »Kontinent«, Hamburg wird zum deutschen Mekka des Beat. In der Gruppe The Cavern Beat spielt und singt der junge Frank Bornemann: »Wir haben viel von den Beatles nachgespielt – ich musste immer die McCartney-Stimmen singen.« Von einer lokalen Musikerszene im heutigen Sinne ist man freilich auch im Norden noch Jahrzehnte entfernt. »Vor allem die Schlagzeuger waren damals zum Teil furchtbar schlecht«, sagt Bornemann. »Die Bassisten waren auch nicht gerade zum Angeben. Wir mussten ja alle erstmal lernen – Musik war noch kein Breitensport wie heute.«

Die Nähe zum Beat-Mutterland England erweist sich jedoch als künstlerische Offenbarung. Bornemann ist heute noch begeistert: »Man hatte sehr engen Kontakt zur englischen Szene. Das waren ja vorwiegend Bands aus England, die dort spielten, und als deutsche Band rutschte man so mit rein. Für uns war das ideal: Wir haben ihnen die Riffs und die Gitarrentechniken abgeguckt. Was ich genial fand, war das Gitarrenspiel dieser Londoner Bands. Manchmal hat man sich auch hinter der Bühne unterhalten und gefragt, ›Wie machst du denn das, kannst du mir das mal zeigen?‹ Wir haben Hits nachgespielt und richtig duftes Geld damit verdient.«

Eine gute Amateurcombo kann damals immerhin Gagen zwischen 300 und 600 Mark erzielen. Zudem bieten manche Clubs auch lukrative Wochen- oder Monatsengagements. Die Bedingungen für die Musiker sind allerdings knochenhart. »Im Star Club spielten wir mit fünf, sechs Bands, die sich gegenseitig abgewechselt haben«, erzählt Frank Bornemann. »Das ging bis nachts.« Andere Clubs wie der Top Ten Club in Hamburg und Hannover verlangen fünf Sets von jeweils einer Dreiviertelstunde. Der Rest des Musikeralltags besteht aus Fahrten im klapprigen Bandbus, schnellem Essen an der Imbissbude und dem Schleppen von Instrumenten und Verstärkern.

Im Süden Deutschlands gedeiht derweil eine andere Szene. Nur selten finden britische Gruppen den Weg bis nach München oder Stuttgart. Die Musik, die in den amerikanischen GI-Clubs gespielt wird, ist daher weniger am Beat orientiert. Mitte der Sechziger schwappt dort die Soul-Welle nach Deutschland.

Der musikalische Transfer erfolgt oft über persönliche Kontakte, die sich nicht im Teilen derselben Bühne erschöpfen: Viele zum US-Militärdienst eingezogene Musiker finden in den aufgeschlossenen Deutschen neue Partner. Christian Burchard, Multiinstrumentalist und Gründer der Münchener Embryo, erzählt: »Ich komme aus Hof. Da hatten wir einen Bassisten, Richie, der vorher mit Little Richard gespielt hatte. Wir haben viel mit den GIs gespielt. Hauptsächlich mit den Schwarzen, weil die eine Musik gemacht haben, die uns interessiert hat. Das war so eine Mischung aus Rhythm’n’Blues und Jazz. Chris Karrer (Amon Düül, Anm. d. Red.) hat Banjo in einer Band gespielt, die in amerikanischen Clubs aufgetreten ist.« Das Spielen in den »Amiclubs« bringt für die meist behütet aufgewachsenen Jungmusiker noch einen Kulturschock der besonderen Art mit sich. Roman Bunka:

»Später bin ich nach Würzburg gezogen und habe mit sechzehn in den amerikanischen Clubs gespielt. Das war das erste Mal, dass ich Ratten und Prostituierte gesehen habe. Richtige, lebendige Ratten. Es war unglaublich dreckig, und nachts hingen dort zwielichtige Mädels herum, die ich, aus gutbürgerlichem Milieu stammend, in einer Kleinstadt wie Würzburg vorher nicht zu Gesicht bekommen hatte. Ich wurde dort auch zum ersten Mal mit faulen Eiern beworfen, weil wir zu »schwarze« Musik machten. Die weißen GIs wollten Johnny Cash hören, wir hingegen spielten damals schon mehr R&B-Musik und Underground – Otis Redding und so weiter.«

Vor dem Hintergrund solcher Erfahrungen begreifen junge Musiker, welche Bedeutung Musik für die eigene kulturelle Identität hat – und beginnen im nächsten Schritt daran zu zweifeln, ob sich auf dem adaptierten Fundament aus Soul oder Beat eine künstlerische Entwicklung gründen lässt. Die Logik erscheint zwingend: Die aktuelle gesellschaftliche und politische Situation in Deutschland unterscheidet sich so grundlegend von der in England und den USA, dass angelsächsische Muster kaum dauerhaft für die deutsche Jugendkultur übernommen werden können.

Offene Musikform:
Der deutsche Jazz

Der Jazzszene sind derlei Probleme Mitte der Sechziger (noch) fremd. Im Vergleich zu anderen Musikstilen hat der Jazz in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg sehr früh ein internationales, europäisches Selbstverständnis entwickelt. Bandleader wie der Saxofonist Helmut Brandt leisten bereits in den Fünfzigerjahren Pionierarbeit, Tourneen und Festivals mit internationalen Größen machen die Musik in ganz Europa für das Publikum greifbar. Eine Gruppe Gleichgesinnter beginnt, sich über ihre Vorlieben zu definieren: Man ist interessiert, raucht Pfeife, tauscht Platten, fachsimpelt, lernt sich kennen. »Vieles entstand aus der frühen Jazz-Bewegung in Deutschland«, erinnert sich Peter Leopold. »Es gab eine Menge Querverbindungen: Christian Burchard von Embryo zum Beispiel habe ich in einem Nürnberger Jazzkeller kennengelernt.« Burchard kann dies bestätigen: »Es war eine Clique, die sich mit Jazz beschäftigt hat, der in der sogenannten Boheme-Szene sehr verbreitet war. In München gab es damals viel mehr Jazz-Clubs als jetzt.«

Anders als Beat und Rock’n’Roll ist der Jazz nicht Sprachrohr einer spezifischen (amerikanischen) Jugendkultur, sondern vielmehr die Musik einer intellektuellen Elite, der nach den Erfahrungen des Dritten Reiches jede Massenbewegung zutiefst suspekt ist. Jazz ist neu, lebensbejahend und gilt als internationale, offene Musikform. Die erblühende junge Jazzszene leidet deshalb auch nicht unter einem Minderwertigkeitskomplex gegenüber den angelsächsischen Kollegen: »Wir haben viel experimentiert und alle möglichen Sachen ausprobiert«, sagt Hellmut Hattler, der seine Karriere als Bassist in einer Ulmer Jazzband beginnt. »Es war ein guter Testlauf.«

Musik für Minderheiten:
Blues

Eine andere Nische, die sich vielen deutschen Nachwuchsmusikern eröffnet, ist der Blues: Im Rahmen des musikalischen Wanderzirkus American Folk Blues Festival zeigt sich dieser erstmals in einer modernen Vielfalt, die ihre kulturellen Eigenheiten bejaht. Die von Horst Lippmann und Fritz Rau präsentierte Tournee gastiert von 1962 an regelmäßig auf großen europäischen Bühnen wie dem Pariser Olympia oder dem Berliner Titania-Palast und löst eine wahre Blues-Begeisterung aus. Bejubelte Auftritte US-amerikanischer Legenden hieven den in seiner Heimat vergleichsweise wenig geschätzten Stil plötzlich ins internationale Rampenlicht. »Viele amerikanische Musiker haben in Europa den Respekt bekommen, der ihnen zu Hause verwehrt blieb«, sagt Roman Bunka. Vor allem Textinhalte und Gesang bieten ein willkommenes Ventil für eine lang angestaute Emotionalität. Dieses neu geweckte Interesse verstärkt sich ab Mitte der Sechziger durch den Boom des britischen Rhythm and Blues. John Mayall, Alexis Corner, Savoy Brown oder Ten Years After spielen eine leicht unterkühlte Variante des US-amerikanischen Stils und setzen damit einen »erwachsenen« Gegenpol zur grassierenden Beat-Hysterie.

Wenngleich man die britischen Bands als europäische Pioniere bewundert, fühlt man sich doch auch in Deutschland nicht weniger berechtigt, die Musik der ehemaligen afrikanischen Sklaven zu kopieren. Bunka: »Wir haben gesagt, ›aha, die klauen ja auch bloß bei den schwarzen Musikern‹. Das war schön zu sehen. Man hat mehr Selbstbewusstsein bekommen, weil man gemerkt hat, dass die Engländer genauso Weißbrötchen aßen wie wir.« Ein Teil der Nachkriegsgeneration im besiegten Deutschland identifiziert sich mit der unterdrückten Minderheit Amerikas. So kommt es zu vielen Bandgründungen, die den Grundstein für eine bis heute sehr vitale deutsche Bluesszene legen. Roman Bunka verdient sich Mitte der Sechziger zusammen mit Klaus »Funky« Götzner, dem späteren Schlagzeuger von Ton Steine Scherben, in der Gruppe The Blues Campaign seine ersten musikalischen Sporen.

3. Totschweigen und Protest:
Deutsche Lebensgefühle

Unter der dünnen Oberfläche der heilen Welt in Westdeutschland beginnt es Mitte der Sechzigerjahre zu brodeln: Prozesse gegen ehemalige KZ-Aufseher und eine 1965 geführte, unglückliche Parlamentsdebatte über die Verjährungsfristen bei NS-Verbrechen kommen nicht nur für die Opfer viel zu spät. In der intellektuellen Leere zwischen Totschweigepolitik, staatlicher Autorität und Konservativismus ist es die jüngere Nachkriegsgeneration, die nun erstmals wieder beginnt, unbequeme Fragen zu stellen. Roman Bunka:

»Es wurde in dieser Zeit – nicht nur von den Musikern – viel geforscht. Die Frage lautete, ›Was sind denn die Ursachen unseres Dilemmas?‹ Vor allem für unsere Generation, die die Folgen des Zweiten Weltkrieges noch unmittelbar erlebt hat, war es der Generationenkonflikt, der gerade in Deutschland besonders stark war. Hier hatte der Untergang stattgefunden. Man hat sich also gefragt, ›wo führt das alles hin?‹ Das christliche Abendland mit all seinen Errungenschaften war zunächst einmal in einer großen Katastrophe geendet.«

Aus Fragen entwickelt sich bald eine allgemeine Protesthaltung, die später auch in der Musik ihren Niederschlag finden soll: »Die abgedrehteste Musik der ganzen Welt wurde in den Sechzigern und frühen Siebzigern in Berlin gemacht«, sagte der englische Musiker und Kraut-Spezialist Julian Cope 1995 in einem Interview mit Denise Sullivan. »Natürlich wird jeder von seiner Umwelt geprägt, aber man muss sich einmal vorstellen, wie es sich anfühlt, wenn in der unmittelbaren Nachbarschaft fünfzig-, sechzigtausend Menschen getötet wurden.«

»Tiefen ausloten«:
Neue Werte und Selbstbefreiung

»Wir wollten die erste Generation sein, die keine Ausblendungen mehr vornehmen muss, um in der Öffentlichkeit bestehen zu können. Wir haben sozusagen innerlich die Hosen runtergelassen und gesagt: ›So sind wir.‹«

– Hellmut Hattler –

In der Bundesrepublik setzt ein allgemeiner Wertewandel ein: Die Rufe nach einem neuen Aufbruch werden lauter, die traditionelle Ordnung gerät ins Wanken. In allen Lebensbereichen zeichnet sich eine allmähliche Ablehnung jeder Form von überkommener Autorität ab.

So wird die Verweigerung des Kriegsdienstes erstmals auf breiter gesellschaftlicher Ebene diskutiert. Den oft als »Drückebergern« abgestempelten jungen Männern macht man die Entscheidung nicht leicht: »Die Zeiten waren bedeutend repressiver als heute«, berichtet Lothar Stahl. »Es war ja nicht so, dass man einfach sagen konnte, ›ich will nicht‹. Man hatte das zu begründen. Oft hat das dann immer noch nicht gereicht.« Der Antragsteller muss einen stichhaltigen Nachweis der behaupteten Friedfertigkeit präsentieren. Eine Mitgliedschaft in der Deutschen Friedens-Union, aktive Kriegsgräberpflege oder ein Arbeitseinsatz im Kibbuz werden meist akzeptiert. Auch Michael Rother, der später als Gitarrist bei Kraftwerk, NEU! und Harmonia Wegmarken der Rockgeschichte setzt, erinnert sich an eine unangenehme Gewissensprüfung: »Es war wie eine Verhandlung. Ich bin aber durchgekommen. Man hat jedoch nicht versäumt zu betonen, dass ich die Herren Vorsitzenden nicht überzeugt hätte.«

Rother, der eigentlich Psychologie studieren will, spürt während des Zivildienstes in Düsseldorf die überall herrschende Umbruchstimmung: »Die (psychiatrische) Einrichtung wurde von einem Bruderorden geführt. Sogar dort konnte man dieselben Spannungen wie in der übrigen Gesellschaft beobachten: Es gab die Bewahrer, die Konservativen, und zwei von vielleicht fünfzig Ordensmitgliedern, die versucht haben, etwas zu verändern.«

Gesellschaftlich-kulturelle Wechselwirkungen aller Art werden überall eingehend unter die Lupe genommen. Die Sexuelle Revolution, der Titel eines 1966 erstmals in deutscher Sprache veröffentlichten Buchs von Wilhelm Reich, ist ein Stichwort der Zeit. Nach Auffassung des Autors führen Doppelmoral und Unterdrückung der sexuellen Triebe zu Aggression und Frustration, die sich in einer Lust an Herrschaft und Hierarchie entladen. Die Unterdrückung der Sexualität lähmt zudem die kreativen Potenziale des Einzelnen und stützt so das kapitalistische System, in welchem der Mensch seiner Unterdrückung nichts mehr entgegensetzen kann. Daraus folgt: Eine Befreiung der Sexualität bedeutet auch die friedliche Veränderung gesellschaftlicher Strukturen.

Die bürgerliche Moralgesellschaft fühlt sich bedrängt und reagiert mit Entrüstung: Ende der Sechzigerjahre kommt es vor einem Flensburger Gericht zum spektakulären Prozess gegen die Sex-Großhändlerin Beate Uhse, die wegen des Verkaufs von Spezialpräservativen schließlich zu einer Geldstrafe von 6.000 Mark verurteilt wird. Dies erfülle »den Tatbestand einer unnatürlich gegen Zucht und Ordnung verstoßenden Aufpeitschung und Befriedigung geschlechtlicher Reize«, heißt es in dem Urteil.

Die moderne Medienkultur mit ihren Freiheiten – und Gefahren – muss erst noch erfunden werden. Der jungen Generation der Sechziger geht es zunächst darum, »eigene Wege zu finden, in jedem Bereich zu experimentieren«, wie Roman Bunka die Motivation seiner Zeitgenossen beschreibt. »Man hat in allen möglichen Richtungen Tiefen ausgelotet und neue Horizonte gesucht. Das hieß auch, dass man länger geprobt hat, ganze Nächte durchgemacht hat.« Der Weg von der Selbsterfahrung zur Selbstfindung und schließlich zur Selbstbefreiung scheint vorgezeichnet. Die freiheitlichen Ansätze durchdringen auch das Denken der Musikschaffenden. Irmin Schmidt: »Wir wollten Musik machen, die so ist, wie wir eben sind, wie wir in unserer speziellen Umwelt geworden sind.«

»Kulturstress«:
Atomare Bedrohung und gesellschaftliche Polarisierung

»Die Russen haben gesagt, bis hierher und nicht weiter, sonst werfen wir eine Atombombe.«

– Peter Leopold –

Mit der zunehmenden Entfremdung von Bürger und Staat entwickelt sich auch ein neues Bewusstsein für die außenpolitische Situation Deutschlands. So finden nach dem Vorbild der britischen »Campaign for Nuclear Disarmament« bereits 1960 die ersten »Ostermärsche« gegen die atomare Aufrüstung statt, die sich später zur »Kampagne für Abrüstung« und schließlich zur gesellschaftskritischen Massenbewegung »Kampagne für Demokratie und Abrüstung« entwickeln. Von 1960 bis 1968 steigt die Zahl der Teilnehmer von 1.000 auf rund 300.000.

Nach der Amtsenthebung Chruschtschows im Jahre 1964 vollzieht sich ein Wandel im Verhältnis der beiden Supermächte. Die Gefahr eines dritten Weltkrieges scheint vorerst gebannt. Dem Kalten Krieg folgt nun eine Phase der Entspannung, in der sich sowohl die USA als auch die UdSSR zumindest um die Wahrung des Status quo bemühen. Für Deutschland bedeutet dies die Festschreibung als geteilte Nation, Atomwaffenstandort und Pufferzone für den Ernstfall. Eine solch massive Bedrohung bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die Orientierung der jungen Musikergeneration. Roman Bunka:

»Durch die atomare Nachrüstung stand man nun zwischen zwei Atommächten und wusste, wenn irgendetwas passiert … diese atomare Bedrohung war sehr präsent, und wir befanden uns an der Schnittstelle. Diese Situation erzeugte für junge Leute einen ganz speziellen Kulturstress. Deshalb schaute man überall anders hin, weil man sich sagte, ›Was soll bei dieser Scheiße hier denn noch herauskommen? Da dreht sich alles nur im Kreis.‹ Also schaute man verstärkt danach, was im Orient, in Afrika oder bei den Eskimos los war. Man wollte an irgendetwas anschließen, das uns wieder vorwärtsbrachte.«

Die Jugend fühlt sich von der Wohlstandsgesellschaft betrogen. In ihren Augen haben sich die Eliten diskreditiert, und eine neue Linke propagiert nun offen den zivilen Ungehorsam. Im deutschen Untergrund gärt eine explosive Mischung aus umstürzlerischen Ideen, kreativer Energie und nicht kanalisiertem Tatendrang. Was fehlt, ist nur noch die Initialzündung. Lothar Stahl hat diese Zeit in Karlsruhe miterlebt: »Es gab ständig Demos. Als Schüler sind wir da begeistert mitgerannt, wenn man auch nicht immer ganz genau wusste, worum es eigentlich ging. Aber Rebellion war einfach angesagt.«

Ausgehend von Bemühungen um bildungspolitische Reformen entwickelt sich eine vorwiegend von Studenten getragene Protestbewegung, die gesellschaftliche Veränderung und eine Demokratisierung aller Lebensbereiche fordert – und die sich in Ermangelung einer parlamentarischen Opposition bald als außerparlamentarische Opposition (APO) versteht. In den Protesten findet eine lang angestaute, weltweite Identitätskrise der Demokratie ihren Ausdruck, die ihre Wurzeln in einer zunehmenden Bürokratisierung und Selbstgefälligkeit der Konsumgesellschaft hat. Diese Konsumgesellschaft hat für Abweichler und Andersdenkende nur wenig übrig. Hellmut Hattler:

»Ende der Sechziger, Anfang der Siebziger war die gesellschaftliche Polarisierung ohnehin schon sehr stark. Wenn du dann gesagt hast, du willst raus aus dem bürgerlichen Ding, dann warst du sofort abgestempelt, und zwar nicht nur als Gammler. Die Leute waren zum Teil richtig aggressiv. Was man sich von stinknormalen Leuten auf der Straße zuweilen anhören musste, glaubt man heute gar nicht mehr: ›Zuchthaus, an die Wand stellen‹ – das gab es damals alles noch. Das war nicht alles so lustig, wie sich das heute anhört.«

Gegen Ende des Jahrzehnts kommt es in Berlin zu Studentenunruhen, die sich zur Bewegung der sogenannten 68er ausweiten. Die Zeit für den Umbruch scheint gekommen. »Man war liberal, anarchisch, man hat keinen Millimeter frei gegeben«, erzählt Peter Leopold, der zu den politisch wie musikalisch radikalsten Köpfen zählt. »Wir wollten alles ganz anders machen.« Es sind dieselben politisch-gesellschaftlichen Ursachen, die nun auch in der Musik eine Palastrevolte einläuten.

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