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Eine neue Avantgarde …
Der Kölner Gruppe Can kommt durch den Einfluss des Avantgarde-Komponisten Karlheinz Stockhausen – zu dessen Studenten neben Schmidt auch Bassist Holger Czukay zählt – zweifelsfrei eine Sonderstellung in der elektronischen Rockszene zu. Doch auch viele andere deutsche Bands entstehen vor einem akademischen Hintergrund, darunter die wohl erfolgreichste, Kraftwerk, die 1968 von den Musikstudenten Ralf Hütter und Florian Schneider-Esleben unter dem Namen »Organisation« gegründet wird. Musiker wie Wolfgang Nickel von den Herforder Missus Beastly bringen ebenfalls umfangreiches theoretisches Wissen in die neue Rockmusik ein: »Wolfgang ist ein klassisch ausgebildeter Kirchenmusiker, ganz typisch für diese Musikergeneration«, erklärt Klaus Sonntag, der Anfang der Siebziger mit den »Beastlies« in einer Wohngemeinschaft lebt. »Er hatte die klassische Ausbildung, war aber in seinem Denken sehr frei.«
Häufig verfügen einzelne Bandmitglieder zudem über weitreichende praktische Erfahrung – etwa der Kraan-Mitbegründer Jan Fride, der seit seinem zwölften Lebensjahr in Amateurbands spielt. Studierte Jazzmusiker wie Christian Burchard sind ernst zu nehmende Profis. »Das ist nicht nur so ein kiffender … du weißt schon«, sagt Embryo-Bewunderer Nick McCarthy. »Embryo sind überhaupt keine Hippies. Die Band hat vielleicht so einen Ruf, aber ich fand das überhaupt nicht. Christian hat mich fasziniert, denn er ist einer der unglaublichsten Musiker, die ich kenne.«
Als der 27-jährige Mani Neumeier 1968 The Guru Guru Groove gründet, hat er bereits mehrere Jazzpreise gewonnen. Auch Can-Schlagzeuger Jaki Liebezeit ist ein über Deutschland hinaus erfolgreicher Musiker, der ebenfalls eine kleine Karriere im Jazz hinter sich hat. »Diese musikalische Reife in den verschiedenen Stilen hatte den Haupteinfluss auf die Musik«, sagt Schmidt. Standesdünkel entsteht jedoch nicht – man versucht vielmehr, die Spannungen zwischen den Welten auszunutzen. So komplettiert ein eifriger Gitarrenschüler Czukays die Can-Besetzung. Schmidt: »Auch Michael (Karoli, Anm. d. Red.), der einzige von uns, der kein Komponist oder ausgebildeter Musiker war, sondern neunzehn Jahre alt und das, was man damals einen Beat-Gitarristen nannte, war mit Herz und Seele leidenschaftlicher Musiker und Komponist.«
Alle Gruppen verbindet das Gefühl, einer geistigen Elite anzugehören. »Wenn man arbeitet, hat man keine Zeit mehr zum Nachdenken«, sagt Hans-Joachim Irmler. »Deswegen konnte Krautrock nie von einer reinen Proll-Band gespielt werden, so hart das vielleicht klingt. Die Szene war schon recht kopflastig. Es gab höchstens vielleicht mal einen Schlagzeuger, der ein bisschen einfacher strukturiert war. Man musste ja immer erst darüber nachdenken, in welcher Situation und Zeit man lebte.«
In den Krautrock-Kellern beginnt man zunächst mit einem künstlerischen Abgleich, um gemeinsam zu einem neuen, demokratischen Stil zu finden. Die Ergebnisse sind entsprechend vielfältig. Irmler: »Jeder brachte irgendetwas mit, das ihm ganz besonders gut oder ganz besonders übel erschien. Ich persönlich fand die Beatles damals nicht so toll, und ich habe eine sehr bedenkliche Meinung über James Last. Ein bewundertes Hassobjekt von mir ist Bach – der findet sich auf der ersten Platte ja auch wieder …«
… und teures Gerät
Die allgegenwärtige Aufbruchstimmung tröstet über eine – nach heutigen Maßstäben – zuweilen mangelhafte Ausrüstung hinweg. Insbesondere elektrisch verstärkte Instrumente bleiben lange Zeit unerschwinglich. Roman Bunka erzählt:
»Es war sehr schwer, Equipment zu bekommen. Die Leute sind dafür zum Teil nach London gefahren. Der erste Gitarrenverstärker von Marshall wurde in einem Würzburger Proberaum regelrecht ausgestellt. Man ging dorthin, nur um den Verstärker einmal zu sehen.«
Der erst 17-jährige Hans-Joachim Irmler greift selbst zum Lötkolben und bastelt sich aus einem Holzgehäuse und einer gebrauchten Tastatur eine Orgel in Heimarbeit. »Natürlich hätte ich gerne eine Hammondorgel gehabt,« räumt er ein. »Im Nachhinein bin ich aber froh, dass ich mir das nicht leisten konnte.«
Durch das Selbermachen eröffnen sich künstlerisch neue Wege: Im Anschluss an die Proben tüftelt Irmler oft bis spät in die Nacht an seinem Instrument – und an dessen klanglichen Möglichkeiten. Die etwas schrullige Arbeitsweise zwischen Werkbank und Übungsraum hat er bis zum heutigen Tage beibehalten.
6. »Ganz neue Klänge«
»Es kommt auf neue Ideen an und nicht darauf, in irgendeinem alten Quark auf Sommerschlussverkaufsbasis herumzurühren.«
– Peter Leopold –
»Die große Leistung der Krautrocker besteht darin, dass sie die Musik von ihren starren Blues-Wurzeln befreit haben und somit eine ganz neue, eigene Stilrichtung geschaffen haben.«
– Nathan Bennett, Flashback Records, London –
Abnabelung vom Blues
Eine neue, nicht rein angloamerikanisch geprägte populäre Musik zu schaffen, heißt für einen Großteil der angehenden Krautrocker zunächst, dass sie sich von der Urform aller Rock- und Popmusik, dem Blues, lossagen müssen. Leichter gesagt als getan. Kein Blues, das bedeutet unter anderem auch: keine »Blue Notes«. Diese dem chromatischen System fremden, aus der afrikanischen Pentatonik stammenden Töne sind verantwortlich für den klagenden, »erdigen« Charakter des Blues und vor allem für das klassische Rockgitarrenspiel mit seinen gezogenen Melodiebögen unverzichtbar. Der Krautrock indes liebäugelt nun verstärkt mit Zwölftonmusik, elektronischer Musik und der sogenannten Musique concrète, bei welcher Geräusche mit dem Mikrofon aufgenommen und dann verfremdet werden. Auch der swingende, aus dem Blues entwickelte Off-Beat des klassischen Rock und Jazz weicht häufig einer fast maschinenhaften Rhythmik – von britischen Kollegen und Fans gern als »Motorik« bezeichnet (eine Kombination der Worte »Motor« und »Musik«).
Viele der ungestümen frühen Experimente klingen aus heutiger Sicht vielleicht noch etwas unbeholfen – und doch manifestiert sich in den aggressiven Trommel-, Geräusch- und Gitarrengewittern der 1969 erschienenen LP Amon Düül I oder den elektronischen Verzerrungen des Can-Debüts Monster Movie aus dem Jahre 1968 der klare Wille zur Abgrenzung. »Für die meisten Musiker in den USA und Großbritannien war der Blues das einzige Ausdrucksmittel, welchem sie starr verhaftet blieben«, meint Brandon Curtis von den New Yorker Secret Machines, die sich dem deutschen Kraut-Erbe musikalisch verbunden fühlen. In bundesdeutschen Großstädten sind von 1967 an neue Rockgruppen zu hören, die, wenngleich von den angelsächsischen Veröffentlichungen ihrer Zeit nicht gänzlich unbeeinflusst, in Konzept, Klang und Konzeption wesentlich origineller sind als die Vertreter der deutschen Beat-Ära. Der Krautrock wirft Ballast ab und versucht dabei, äußere und innere (auch nicht-musika-
lische) Einflüsse möglichst direkt in Klänge umzusetzen.
Von der zwischen Anfang 1967 bis etwa 1970 produzierten neuen »Underground-Musik« ist leider nur ein sehr geringer Teil auf Tonträgern dokumentiert – ein musikhistorischer Verlust, denn manch stilbildende Formation klingt in ihren Anfangstagen noch wie eine vollkommen andere Band. So lassen bereits Anfang der Siebziger die kosmischen Klänge der Berliner Tangerine
Dream nichts mehr davon erahnen, dass die Gruppe einst mit einer Mixtur aus Free Jazz und hartem Rock ausgezogen war, um die Welt der Popmusik zu verändern.
Bruch mit alten Formen
»Wir haben das bis dahin bestehende Sound-Gefüge an sich in Frage gestellt.«
– Hans-Joachim Irmler –
»Wir haben uns keine Limitierungen und keinen Rahmen gesetzt.«
– Hellmut Hattler –
Als musikalisches Spiegelbild der Spätsechziger-Gesellschaft erproben Can, Guru Guru oder Embryo die Auflösung herkömmlicher Strukturen. Kompositorische Arbeit wird als Technik eines künstlerisch überkommenen »Establishments« abgelehnt. Hans-Joachim Irmler: »Es war immer ein ganz wesentlicher Bestandteil unserer Musik, sich gegen das Alte zu richten. Das waren nicht nur die Eltern, sondern das gesamte System und alle, die mit dem System konform gegangen sind.« Dieser System-Nonkonformismus rebelliert nicht nur gegen Beat und Schlager, sondern auch gegen die sogenannte Neue Musik, die zeitgenössische Klassik. »Ich habe das Recht dieser Musik angezweifelt, zu behaupten, sie sei das einzig legitim Neue«, sagt Irmin Schmidt. »Teilweise war es spannend, teilweise nicht, teilweise wurde es so überintellektualisiert, dass es kaum noch jemandem verständlich war.«
Anderes wiederum kann gar nicht neu genug sein. »Starre Musik« nennt der Publizist Rolf-Ulrich Kaiser die kommerzielle Rockmusik der späten Sechziger. Mit Feuereifer forscht man nach einem Weg aus der musikalischen Krise. »Es ging darum, neue Hörgewohnheiten zu erschaffen und Stücke in Aufbau, Harmoniegerüst und Rhythmen neu zu erfinden«, beschreibt Othmar Schreckeneder die Ambitionen der Musiker. Bisweilen überschlagen sich die sendungsbewussten Bands freilich in ihrer Experimentierfreude: »Das wurde ausgereizt bis zum Gehtnichtmehr. Wenn sie dann mit ihren Sechzehn-Siebzehntel-Takten ankamen, konnte man nur noch sagen, ›Aha, sowas gibt’s auch‹.«
Roman Bunka spielt damals bei Missus Beastly, die über einem Grundgerüst aus Jazzrock und Funk ausgedehnte Experimentalstücke entwickeln: »Ich glaube, es war eine Zeit, wo man sich gegen alles Starre wehren wollte. Es gab ja viel mehr Schubladen in der Musik, und auch Starrheit innerhalb der Rockmusik. Missus Beastly wollten sich musikalisch freischwimmen.« Den Anfang dieser musikalischen Revolution müssen die Musiker jedoch bei sich selbst machen. Irmin Schmidt:
»Das alles war am Anfang schon reichlich provokativ, obwohl Provokation an sich nicht so sehr wichtig war. Sie richtete sich mehr nach innen als nach außen. Man musste sich selbst erst einmal entlasten und im wahrsten Sinne entladen, die ganze Last von angelerntem Zeug wegwerfen. Wir sagten, wir vergessen erst einmal alles, was wir gelernt haben. Es war nicht die Idee, dass daraus eine Rockgruppe entstehen sollte. Wir haben uns alle verboten, eine Idee zu haben, was das werden soll. Wir hatten kein vorgefasstes Ziel.«
Nicht zu unterschätzen ist dabei der Einfluss von Karlheinz Stockhausen. Der 1928 in Mödrath bei Köln geborene Komponist gilt als einer der wichtigsten musikalischen Neuerer des 20. Jahrhunderts und als zentrale Figur bei der Entstehung einer eigenständigen deutschen Rockmusik. Stockhausen befasst sich seit den Fünfzigern mit serieller Musik (eine Weiterentwicklung der Zwölftontechnik von Arnold Schönberg) und setzt als Mitbegründer der sogenannten punktuellen Musik Zeichen. Von 1953 an arbeitet er eng mit dem Studio für Elektronische Musik des Westdeutschen Rundfunks zusammen. Seine Experimente mit elektronischen Klängen werden für eine Gruppe junger Musiker und Musikstudenten buchstäblich zur Initialzündung (auch im Ausland schätzt man den deutschen Hochschuldozenten: Sein Gesicht ist auf dem Cover des Beatles-Albums Sgt. Pepper zu sehen).
Der erweiterte Klangbegriff
»Ich habe nicht versucht, James Brown mit Stockhausen zu collagieren, sondern etwas Eigenes zu erfinden, was all das als Ausdrucksform akzeptiert und daraus schöpft.«
– Irmin Schmidt –
Die von Stockhausen vermittelte Erkenntnis, dass jeder Ton und jedes Geräusch zu Musik werden können, beflügelt nicht nur Schüler wie Holger Czukay und Irmin Schmidt, sondern auch Ralf Hütter, Florian Schneider und Karl Bartos von Kraftwerk. Als Stockhausen 1962 einige der wichtigsten zeitgenössischen Komponisten nach Berlin einlädt, darunter John Cage, hinterlässt dies ebenfalls tiefe Spuren. Doch sind es weniger die kompositorischen Strukturen, die später Eingang in die Musik von Can oder Kraftwerk finden sollen – vielmehr ist es Stockhausens radikale Auflösung traditioneller musikalischer Ordnungen zugunsten einer Konzentration auf den Klang an sich. So wird das Tonstudio zum neuen Instrument, das den Klang von den Zwängen akademischer Musikproduktion befreit.
Geprägt von diesem Denken lehnen Musiker nun auch die herkömmliche Ausbildung ab. Verächtlich belächelt man Musiktheorie und Notenlehre, denen man allenfalls noch eine Eignung zur Hausmusik zugesteht. »Meine Mutter hat zu Hause immer ihre Lieblingskompositionen gespielt«, erzählt Michael Rother. »Ich habe um eine musikalische Ausbildung immer einen Bogen gemacht. Ich wollte nie Noten lesen lernen, das war schon von Anfang an nicht der Weg, der mir vorschwebte.« Noten gelten als äußerlicher Zwang, als verordnete, erstarrte Musik, die keinerlei Modulation durch den Interpreten mehr zulässt – das krasse Gegenteil des grenzenlosen Krautrock-Ansatzes also. »Ich habe gemerkt, dass ich besser bin, wenn ich die Augen schließe und nicht nach fremdbestimmten Notenbildern spielen muss«, sagt Hellmut Hattler. »Ich habe gemerkt, dass ich dann am besten bin, wenn ich nichts will und nichts denke. Dann bekommt die Musik einen Ausdruck.«
Man versucht, zum Kern des eigenen Empfindens vorzudringen, wo man die Basis aller schöpferischen Arbeit vermutet. Das Ergebnis dieses Experiments versetzt die Musikkritiker zumindest in Erstaunen: Als »völlig ungehemmt, leidenschaftlich und frei« bezeichnet die Kölnische Rundschau im Oktober 1968 die Musik der Band-Kommune Amon Düül.
Der intuitiv-spontane Ansatz ist auch Jahrzehnte später noch gültige Krautrock-Doktrin. Embryo-Lehrling Nick McCarthy, der in München Jazz studiert hat, erinnert sich an eine Busfahrt mit Christian Burchard: »Das war eine echte Liebe, die auf dem Konservatorium total gefehlt hat. Diese Mischung aus dem Akademischen und ›learning by doing‹, das hat es ausgemacht. Christian hat zum Beispiel gesagt, ›da hast du ein Instrument, das du noch nie gespielt hast, das spielst du jetzt beim nächsten Konzert‹.«
Im Zeitalter von Konsum und Kommerz etwas Unverfälschtes zu finden – diese Sehnsucht verbirgt sich auch hinter dem glasklaren Minimalismus der Düsseldorfer Elektrojünger Kraftwerk. In einem Interview mit Lester Bangs äußerte sich Kraftwerk-Mitbegründer Florian Schneider-Esleben zum Thema Emotionalität: Es gebe eine »kalte« Emotion und andere Emotionen, alle seien gleichwertig. »Uns interessiert sehr, wo die Musik herkommt. Die Quelle der Musik. Der reine Klang ist etwas, das wir gerne erreichen würden.«
Auf der Suche nach dem reinen Klang wird ein »erweiterter Klangbegriff« formuliert. Die offensichtliche Parallele zum »erweiterten Kunstbegriff« aus der bildenden Kunst ist dabei kein Zufall, sondern Programm: Jedes Geräusch ist Klang, jeder Klang ist Musik. Die Befreiung der Klänge wird zum zentralen Element einer Rockmusik, in der die strenge Zäsur zwischen Ton und Geräusch fortan abgeschafft ist. Neben der übernommenen Rock-Besetzung (Gitarre, Bass, Schlagzeug, Orgel) und den Klang verändernden Effektgeräten (Phasenverschiebung, Verzerrung, Echo) werden nun auch neu aufgekommene elektronische Instrumente wie der (anfangs noch sündhaft teure) Synthesizer eingesetzt. Verschiedene Gruppen – darunter die in einer alten Schule in Wümme residierenden Faust – verwenden für ihre Musik Sinusgeneratoren und Monochorde, aber auch Alltagsgegenstände wie Staubsauger oder Spielautomaten.
Offene Ohren
»Macht das Ohr auf!« – so lautet der Slogan der 1969 gegründeten Plattenfirma Ohr Musik Produktion GmbH. Das Werbemotto persifliert nicht nur eine politische Forderung der Bild-Zeitung, die sich auf das Brandenburger Tor als unpassierbare Grenze zwischen Bundesrepublik und DDR bezieht (»Macht das Tor auf!«), sondern definiert auch ein Wesensmerkmal der neuen Popmusik: »Es war eine allgemeine musikalische Bewusstseinserweiterung«, erklärt Ur-Embryonide Christian Burchard. »Wir waren interessiert an ALLEM und haben uns neben dem Jazz zum Beispiel auch Béla Bartók angehört, zeitgenössische Musik wie Stockhausen und solche Sachen.«
Vorgefundene Musik jeder Art wird auf ihre Tauglichkeit zur Schaffung eigener Kreationen überprüft. Beim Begehen neuer Wege scheut sich der Krautrock nicht vor einem mutigen Blick über den Tellerrand. »Mir persönlich haben die
ersten Elektronik-Bastler aus Frankreich sehr gut gefallen«, sagt Hans-Joachim Irmler. »Man kann das, womit man konfrontiert wird, ablehnen, annehmen oder ausbauen. Wir haben die ganzen Elemente, die es gab, nicht ignoriert, sondern verwurstet. Es wäre auch idiotisch gewesen, sie zu ignorieren.«
Die unbekümmerte Übereinanderschichtung verschiedenster musikalischer und nicht-musikalischer Elemente wirkt oft verstörend. Gruppen wie Faust oder Can machen ihre Collagetechnik zum Markenzeichen und betreten damit musikalisches Neuland. »Krautrock war eine echte Stil-Verschmelzung«, urteilt Simon Reynolds 1996 im englischen Melody Maker. Zu Recht: Als Antithese jeglicher Heterogenität pendelt die Musik zwischen ohrenbetäubendem Lärm und ausladenden Melodien wild hin und her und verbindet dabei Psychedelic-Rock, Jazz und Ethno spielerisch mit elektronischen Avantgarde-Klängen. Zwar greift auch der Krautrock gern auf solche Idiome zurück, doch werden sie – und hierin liegt der gravierende Unterschied zur Kopie – niemals zum musikalischen Dogma.
Von der Improvisation zur Innovation
»Über die Improvisation findet man ganz leicht heraus, was zusammenpasst, wo es Anknüpfungspunkte gibt. Wenn man darüber redet und sich in der Theorie verliert, passiert gar nichts.«
– Hellmut Hattler –
Die Ablehnung zeitlich und schematisch organisierter Musik führt – auch auf der Bühne – zu Gruppenimprovisationen von nicht selten bis zu einer Stunde Dauer. »Es wurde in allen deutschen Gruppen viel improvisiert«, sagt Roland Bunka. »Das war die Basis.« Viele experimentell und fortschrittlich ausgerichtete Bands suchen die Entfaltung in langen musikalischen Prozessen. Diese besitzen eine gruppendynamische, kommunikative Funktion, ganz im Geiste der Zeit – was sich für Außenstehende allerdings nicht immer eins zu eins in der Musik abbildet: »Als Amon Düül anfingen, waren das noch keine Songs, keine Popmusik, sondern eine Art freier Improvisation, so eine Art Kommunismus«, sagt Christian Burchard. »Man hat zusammen gewohnt. Wer nicht so gut spielen konnte oder gar kein Instrument spielte, sollte sich trotzdem am musikalischen Geschehen beteiligen. Denen hat man dann Bongos gegeben oder eine marokkanische Trommel, oder man hat ihnen ein paar Griffe auf der Gitarre gezeigt, damit sie trotzdem den Klang bereichern konnten.«
Politisch korrekter Dilettantismus allein reicht zur Konstituierung einer neuen Rockmusik jedoch kaum aus. Die ellenlangen Soloausflüge und lärmigen Instrumentalpassagen dienen vielmehr der stilistischen Selbstfindung. Man betrachtet die freie Improvisation als Grundlage, die es handwerklich zu festigen gilt. Roman Bunka: »Wir haben viel improvisiert, aber auch nächtelang mit ungeraden Rhythmen geübt. Wir haben dabei immer gehofft, dass aus der Improvisation heraus etwas Neues entsteht, dass sich Themen entwickeln. Wir haben aber auch hart geübt, vor allem an Rhythmen. Diese Balance ist sehr wichtig.«
Viele Fans, gewohnt, dass Beat-Gruppen zweieinhalbminütige Songs herunterschrammeln, sind bald fasziniert von der neuen Möglichkeit, dem Entstehen von Musik als Zuhörer beizuwohnen. »Ganz besonders wichtig war die Improvisation«, erzählt Klaus Sonntag begeistert. »Durch sie entstand ein Wir-Gefühl. Es gab bei den meisten Auftritten zwar immer ein paar festgeschriebene Passagen, aber niemand hätte erwartet, dass eine Band auf der Bühne wie auf Platte klingt. Teilweise waren nur Fragmente wiederzuerkennen.«
Die Erwartungshaltung an eine ernst zu nehmende Band kehrt sich während der Siebzigerjahre sogar regelrecht ins Gegenteil um: Das in Mode gekommene LP-Doppelalbum fängt die spontane Atmosphäre ganzer Live-Konzerte ein und entwickelt sich gerade aufgrund der oft sehr freien Interpretationen bekannter Stücke zum Verkaufsschlager. »[Es] kam in dieser Zeit die Vorstellung auf, dass man jemanden in der Musik auf eine Reise in die eigenen Erlebniswelten mitnehmen wollte«, sagte Edgar Froese gegenüber dem taz Magazin. »Anfang der Siebzigerjahre war der Punkt erreicht, wo man in der Musik Züge bestieg, um nicht nur einen Kaffee zu bestellen, sondern man wollte am liebsten gleich in dem Zug auch noch übernachten.«
Erst mit einem gegen Ende des Jahrzehnts neu einsetzenden Perfektionismus in der Popmusik wird wieder akribisch darauf geachtet, dass eine Band ihr Material möglichst LP-getreu präsentiert. Zu diesem Zeitpunkt hat das Konzert bereits an Stellenwert verloren und wird von der Plattenindustrie schließlich vollends zur verkaufsfördernden Maßnahme degradiert.