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VII.

Auf dem Weg zum Flughafen ist Gitta immer noch aufgewühlt. Sie ist unfair gewesen, hat die Lehrerin in dem Glauben gelassen, dass die Drohgestalt ein Mann wäre, womöglich gar Paul, aber sie weiß, dass es auch jemand anderer sein könnte. Ihr Bernhard! Hat er nicht bloß in der Nacht Angst? Sie umklammert das Lenkrad. Aufpassen. Überholen lassen. Es ist noch Zeit.

Am Flughafen steuert sie langsam aufs zweite Parkhaus zu, fährt nahe genug an die Ticketsäule heran, um die Karte ohne Streckübungen aus dem Schlitz ziehen zu können. Alles bestens. Das Licht bei der Einfahrt ist grün, der Schranken geht hoch, aber sie findet keinen Parkplatz. Gitta kurvt von einem Stockwerk zum nächsten, schaut dazwischen auf die Uhr und trommelt aufs Armaturenbrett, als endlich einer rausfährt. Nach zweimaligem Reversieren steht sie halbwegs gerade in der Lücke. Fünf nach zwölf! Sie hastet zum Lift, sucht nervös die Taste für die Ankunftsebene. Dann die langen Gänge. Sie nehmen kein Ende. Früher, mit dem alten Terminal, war das viel einfacher. Paul wird doch nicht schon draußen sein und sie mit vorwurfsvoller Miene begrüßen. 11.50 Uhr. Merk’s dir! Endlich die Ankunftshalle. Gitta zittert am ganzen Körper. So darf Paul sie nicht sehen. Mit überkreuzten Armen drückt sie gegen ihre Brust und blickt sich um. Kein Paul in Sicht, und sie ist bloß eine von vielen, nicht gestresster als der junge Mann vorm Café, der sein Smartphone bearbeitet und nasse Schweißflecken unter den Achseln hat, oder die Frau direkt an der Absperrung, die ständig hochspringt. Gittas Atmung wird ruhiger, das Zittern hört auf. Über die Köpfe der Wartenden hinweg späht sie auf die Anzeigetafel. Der Flug aus Zürich ist pünktlich gelandet. Da Paul immer nur Handgepäck hat, müsste er jeden Augenblick herauskommen, aber sie ist nun hier, erwartet ihn. Alles normal. Eine Frau, die ihren Mann abholt. Pünktlich. Wieder öffnet sich die automatische Tür, entlässt eine Schar Japaner, die offensichtlich einer Reisegruppe angehören. Dahinter entdeckt sie Paul. Er überragt die meisten Leute um Haupteslänge, nicht bloß Asiaten. Ein großer Mann, aber nicht stattlich. Gitta lächelt. Paul ist die Bohnenstange geblieben, als die sie ihn kennenlernte. Damals hielt sie ihn für attraktiv, heute nur noch für lang und dürr.

Federnden Schrittes kommt Paul auf sie zu. Vor Gitta taucht ein kahl in den Himmel ragender Zweig auf, an dem noch eine verdorrte Frucht baumelt. Schon wieder so ein Bild! Es ist aber keine Halluzination, nein, eine Vorstellung. Das ist schon okay.

- Hallo, Schatz!

Gitta antwortet nicht, gibt Paul bloß einen flüchtigen Kuss auf die Wange.

- Was hast du denn mit deinen Augen angestellt? Du siehst ja aus wie ein Kaninchen.

- Wahrscheinlich eine Allergie.

- Die kommt von deinen Farben.

- Nein!

- Warst schon beim Arzt?

- Nein.

Schweigend gehen sie zum Kassenautomaten und weiter zu Gittas kleinem Fiat. Paul legt die Reisetasche auf den Rücksitz und klopft ostentativ seinen Anzug ab. Ach ja, die Waschanlage! Sie ist noch immer nicht dort gewesen. Gitta will kein schlechtes Gewissen haben, schon gar nicht wegen eines dreckigen Autos. Nur jetzt keine miese Stimmung aufkommen lassen.

Während Gitta aus dem Flughafengelände hinausfährt, steigt erneut ein Bild vor ihr auf. Streng steht Paul in der Tür des Kinderzimmers, die Arme verschränkt, und beobachtet den trotzig verheulten Bernhard, wie er sein Zimmer aufräumt. Gitta sieht ein, dass Bernhard Ordnung halten soll, aber doch nicht derart pedantisch. Sie ist zufrieden, wenn Bernhard abends die Sachen so verstaut, dass sie nicht darüber stolpert. Außerdem fühlt sie deutlich, dass sie nicht das Recht hat, von Bernhard übergroße Sorgfalt zu verlangen, wenn ihr eigenes Atelier pittoresk, aber sicher nicht aufgeräumt aussieht. Andere Bilder kommen hoch. Paul, der Seiten aus Bernhards Hausübungsheft reißt, weil der Bub schlampig geschrieben hat. Nur ist das danach Geschriebene um nichts besser. Sie liest, wenn darum gebeten, die Aufgaben durch, macht Bernhard auf Fehler aufmerksam, die er dann auskillert und korrigiert. Natürlich sieht so eine Seite nicht schön aus, aber sie deshalb nochmals schreiben … Paul, der im Wohnzimmer auf und ab geht, Gitta anherrscht, wie sie das zulassen könne, nichts dagegen unternehme, Bernhards Schludrigkeit geradezu fördere. So viel Disziplin wirst du doch noch aufbringen können. Für deinen Sohn! Immer mehr Bilder fallen über Gitta her, Bilder vom rigiden Paul, der darauf besteht, dass Bernhard eine vorgegebene Struktur einhält. Er soll ihm nicht auch noch entgleiten, so wie Gitta. Die Drohgestalt auf Bernhards Zeichnungen, das könnte schon Paul sein.

- Pass doch auf!

Automatisch steigt Gitta aufs Bremspedal. Gerade rechtzeitig. Sie hat einen ausscherenden Lastwagen übersehen. Besser jetzt kein Gespräch. Sie ist zu angespannt, Paul eindeutig auch.

VIII.

Im Schweizertrakt der Hofburg öffnet Carola das vertraute Tor, über dem in dünnen Lettern Säulenstiege steht. Die altbekannten Stufen liegen vor ihr. 89. Erstmals gezählt bei ihrem Vorstellungsgespräch. So nannten es damals die zwei verknöcherten Herren, die sie in einem mit Akten, Büchern und Folianten vollgestopften Raum empfangen hatten. Die beiden plauderten entspannt über Carolas Dissertation, den voraussichtlichen Zeitpunkt der Fertigstellung und darüber, was sie ihr bieten konnten: einen B-Posten, später natürlich A, keine Frage. Ein Fräulein Doktor müssen wir dann schon neu einstufen. Das würde heute niemand mehr sagen, und sicher nicht in diesem wohlwollend herablassenden Ton. Sie wurde auch befördert, aber erst, als sie mit dem Doktoratszeugnis in der Hand auf dieser Zusage und ihrem Recht beharrt hatte. Im Staatsdienst hatten Männer wie Frauen mit Universitätsabschluss einen A-Posten zu erhalten und damit mehr Geld. Zu diesem Zeitpunkt kannte sie sich mit Gesetzestexten schon sehr gut aus. Dank Wilfried.

Carola verlangsamt für einige Augenblicke den Schritt und blinzelt nach oben. Dort hat sie gearbeitet, mit Freude gearbeitet, bis zur Pensionierung vor nunmehr, Carola stockt, Wahnsinn, acht Jahre ist das schon wieder her. Sie ist doch eben erst zum Bewerbungsgespräch hier hinaufgegangen. Immer noch kann sie die Aufgeregtheit spüren, die sie mit dem Stufenzählen niederzuringen versucht hatte. Nun pocht ihr Herz auch, aber vor Anstrengung. Gestern im Museum war sie trotz des morgendlichen Schocks besser beisammen. Zuerst der Spaziergang im Garten des Belvedere, dann die Begegnung mit dem energiegeladenen Vitochyl und den wohlbekannten Exponaten. Alles anregend, belebend. Heute hingegen fühlt sie sich schlapp. Auf dem Treppenabsatz unterm Eingang zur Burghauptmannschaft bleibt sie stehen und starrt auf den gusseisernen Fußabstreifer. Wer aller hier wohl seinen Dreck hinterlassen hat! Seit 1780 gibt es die Säulenstiege bereits. Einst führte sie zu den Privaträumen der Habsburger, zu denen von Kaisern, Erzherzögen und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Appartement von Kronprinz Rudolf. Diesen viel zu gut bewachten Treppenaufgang benutzten Rudolfs zahllose Liebschaften wohl kaum, und trotzdem kommen Carola herausgeputzte Frauen in den Sinn, die hier heraufschlichen und rasch an der eisernen Querstange den Schmutz von den Schuhsohlen abstreiften, weil sie heimlich zu Fuß hierhergetrippelt und nicht in der Kutsche vorgefahren waren. Wie viele von ihnen steckte der Kronprinz mit Syphilis an? Und wer war diejenige gewesen, die ihn angesteckt hatte? Carola ist überzeugt, dass sich der Thronfolger nicht aus politischem Protest oder gar unglücklicher Liebe umbrachte, sondern schlicht aus Angst vorm Zerfressenwerden durch die damals unheilbare Krankheit.

Auch sie hat schon mit Suizidgedanken gespielt. Sie würde es weniger theatralisch anlegen, ohne romantisches Pipapo, ohne Kutschenfahrt, Abendessen, Abschieds­schnacksler, nicht bloß, weil sie keinen Mann hat, nein, aus Prinzip. Die kleine Vetsera mit hineinzuziehen, war doch letztklassig! Carola würde einfach den gesamten Tablettenvorrat schlucken und sich zu den Klängen von Schuberts Arpeggione-Sonate, ihrem einzigen sentimentalen Zugeständnis, ins Bett legen. Aber sie kann doch Jari nicht im Stich lassen. Und außerdem ist noch einiges zu erledigen.

Carola steigt weiter in den zweiten Stock. Toni wird ganz schön verblüfft sein, dass sie aufkreuzt, die alte Hofrätin. Vielleicht ist er nicht einmal im Haus. Sie wollte keinesfalls anrufen und sich am Telefon verplappern. Ihr fällt es leichter, direkt mit Menschen zu sprechen als über den Umweg eines Anrufs. Da hat sie oft aus Konzentrationsmangel etwas Falsches oder sogar kompletten Unsinn gesagt. Wenn sie aber jemandem gegenübersitzt, ihn ansieht, dann ist sie fokussiert. Sie braucht den Blickkontakt, das Lesen im Gesicht, die intuitive Erfassung der Körpersprache ihres Gegenübers. Toni wird sie nicht überraschen. Wenn er verlegen ist, verschwindet sein Hals zwischen den hochgezogenen Schultern. Bei echter Freude breitet er die Arme aus wie ein Schauspieler, der am Schluss der Vorstellung das Publikum umarmen möchte. Während heikler Gespräche zeichnet sich Toni die Konzentration herbei. Sie hätte schon immer gern seine Kritzeleien analysieren lassen, hat es aber letztlich doch nicht getan. Zu Toni passt das altmodische Wort rechtschaffen. Er wird sie nicht anlügen. Und wenn er gar nichts weiß? Das ist unmöglich. Er ist für die Ausfuhrbewilligungen durchs Bundesdenkmalamt zuständig.

Sie öffnet die Glastür und schleicht durch die altbekannten Korridore zum Zimmer von Dr. Anton Mandl. Sie weiß, wie sie die Sekretärin umgehen und ungesehen zu ihm kommen kann. So etwas wäre in modernen Bürogebäuden unmöglich, aber in der Hofburg mit ihren Tapetentüren und versteckten Gängen … Vorsichtig dreht sie am Messingknopf und späht hinein. Da sitzt er, ihr Toni, den sie wie ein Ziehkind hochgepäppelt und als ihren Nachfolger aufgebaut hat. Er war ihr vom ersten Tag an sympathisch gewesen, der blonde Mann mit seinen durch die dicke Brille noch größer wirkenden Kinderaugen. Einige Frauen im Haus hatten ihr vorgehalten, auf Männer fixiert und mit Frauen nicht solidarisch zu sein. So ein Unsinn. Sie ist heute noch überzeugt, dass ihr Anschieben bei Tonis Karriere gut war. Er ist der richtige Mann am richtigen Ort.

- Servus, Toni.

Irritiert schaut er auf und erschrickt. Carola weiß, warum. Ihr Gesicht. Die fahle Haut. Die eingefallenen Wangen. Doch rasch fängt sich Toni, springt hoch und eilt mit weit geöffneten Armen auf sie zu.

- Carola! Was für eine Überraschung! Wie geht’s dir?

- Wie soll’s schon gehen. Frag lieber was anderes.

- Das wird schwer. Ich weiß doch nichts von deinem jetzigen Leben.

- Na, dann frag, was ich gerade mache, außer still vor mich hin zu leiden.

- Carola, still leiden ist noch nie deine Stärke gewesen.

- Ich hab doch niemanden, den ich ankeifen könnte.

- Du findest immer jemanden.

Carola lacht. Wie gut er sie kennt. Im Amt gab es genug Auswahl. Heute muss sie sich an den Arzt oder die Hausverwalterin halten. Die beiden liefern immer einen Grund zur Beschwerde, der eine aus Ohnmacht, die andere aus Inkompetenz. Wenn ihr das zu blöd ist, brüllt sie Jarolim oder die Wand an, aber raus müssen sie, die Wut, der Frust und die Angst vor dem, was kommen wird. Sie ist nicht fügsam, selbst wenn sie weiß, dass die Ungeheuer sie niederringen werden, egal, wie sehr sie sich dagegen wehrt.

- Na, dann frag, was ich von dir will.

Während er sie übertrieben besorgt zum Besuchersessel führt, lächelt er aufmunternd:

- Ich höre.

- Ich will Auskunft zu einem von Messerschmidts Charakterköpfen, der nicht mehr im Land ist.

- Zu welchem?

Was soll die Frage? Er weiß genau, um welchen es geht. Doch so leicht lässt sie sich nicht beirren, zumal Toni nun nach seinem Notizblock greift.

- Na, wie viele hast denn in den letzten Jahren ausreisen lassen? Oder ausreisen lassen müssen?

Toni schaut auf das rechteckige Blatt, das bereits einige seiner Girlanden zieren, dann auf Carola:

- Du meinst keinen restituierten Kopf.

- Nein. Beim Mismuthigen und dem Unfähigen Fagottisten war ich noch im Amt, g’rad noch.

- Stimmt. Schad, dass s’ nimmer im Wien-Museum sind. Jetzt haben s’ dort nur noch einen Original-Messerschmidt.

- Ja. Die Einfalt im höchsten Grade. Irgendwie passend. Meinst nicht, Toni?

- ’s war halt ein klarer Fall. Die zwei anderen mussten an den Erben nach Richard Beer-Hofmann restituiert werden.

- Und der hat s’ gleich über Sotheby’s versteigern lassen.

- Ja.

- Mit einem tollen Auktionsergebnis. 3,7 Millionen Euro hat der Louvre für den Mismuthigen hingeblättert und 1,9 Millionen Euro die Mailänder Etro-Sammlung für den Unfähigen Fagottisten. So haben auch andere Lust gekriegt, Messerschmidt-Büsten auf den Markt zu werfen.

- Leute, die du gut kennst, meine Liebe.

- Nicht mehr.

Die letzten Worte hat Carola so bestimmt gesagt, dass Toni von seinem nahezu vollgekritzelten Notizzettel aufblickt.

- Hast gar keinen Kontakt mehr?

- Nein.

Carola schielt auf das Blatt, das Toni soeben vom Block gerissen hat. Konzentrische Kreise aus Spiralen, Blättern und Zweigen, ein bisschen wie die Deckenrosette draußen im Stiegenhaus. Vielleicht hätte sie doch einmal … eine Analyse … nur so … nein, das wäre nicht recht gewesen.

- Was ist da gelaufen, Toni?

- Wir wurden sehr spät informiert.

- Ja und?

- Es konnte nicht festgestellt werden, dass die ›Erhaltung im Inland im nationalen Interesse gelegen ist‹.

- Zitier nicht aus dem Denkmalschutzgesetz. Das kenn ich selber. Sag mir lieber, warum ein wertvoller Messerschmidt-Kopf an ein ausländisches Museum gegangen ist und alle gekuscht haben: ihr, die Museumsdirektoren, die Bildungsministerin.

- Der Verkauf lag in aller Interesse.

- Was heißt das?

- Es wurde ein bisserl interveniert. Ein bisserl sehr.

- Von wem?

- Von höchster Stelle.

Carola weiß, dass sie Toni in einen Loyalitätskonflikt treibt. Hier die ehemalige Förderin und irgendwo da oben, da draußen, vielleicht bloß ein paar Zimmer weiter diejenigen, die sich eingemischt und ein Geschäft begünstigt haben, das so nie hätte stattfinden dürfen. Diese Bewilligung hat ihm sicher schlaflose Nächte beschert. Und nun kommt auch sie noch daher, erinnert ihn an etwas, an das er nicht erinnert werden möchte.

- Wieso hast dich nicht früher erkundigt?

Tonis aggressiver Tonfall lässt sie zusammenzucken. War das jetzt ein Vorwurf oder aber eine simple Frage?

- Toni, ich hab’s erst gestern erfahren. Im Internet war ein Bericht über die geplante Ausstellung Messerschmidt and Modernity im Getty Museum. Ich dachte, ich seh nicht recht, als mir der Verdrüssliche, The Vexed Man, vom Plakat entgegengrantelt. So wie mir wird’s auch anderen ergehen.

- Wieso? Davor haben s’ den Verdrüsslichen schon im Pariser Louvre und in der Neuen Galerie in New York gezeigt. Der war auf Tournee. Für jedermann sichtbar.

Tonis Stimme klingt immer noch angriffig. Verunsichert fragt Carola:

- Wann?

- Letztes Jahr.

Das wäre ihr früher nie passiert, sich so konfus, so unvorbereitet auf ein Gespräch einzulassen. Davor gehört recherchiert, ein Akt angelegt und erst dann gehandelt. Ganz heiß wird ihr plötzlich, so sehr geniert sie sich.

- Carola, niemand hat sich aufgeregt. Ein Kunstwerk ist vor ein paar Jahren aus einer österreichischen Privatsammlung in ein amerikanisches Museum gewandert.

Privatsammlung! Ein Witz! Wilfried hatte nie eine Sammlung, sondern ein Geschäft. Vielleicht haben es die Erben so genannt. Sie muss sich zusammenreißen, dem etwas entgegensetzen. Irgendetwas.

- Vor vier Jahren, um genau zu sein.

- Eben. Das ist schon eine Weile her. Wo ist das Problem?

- Das ist jetzt nicht dein Ernst!

Entgeistert schaut Carola in Tonis verschlossenes Gesicht. Und sie dachte immer, sie könne in seinen wasserblauen Augen lesen. Doch heute hat er keine Augen, nur Brillen.

- Es ist mein voller Ernst.

- Du weißt, dass ein Ausfuhransuchen für den Verdrüsslichen schon einmal auf diesem Schreibtisch gelegen ist.

- Ja. Damals wurde keine Bewilligung erteilt. Aus … wie soll ich sagen …

- Sag’s ruhig.

- Aus persönlichen Gründen.

- Nicht nur. Außerdem hab nicht ich die Bewilligung verweigert, sondern der Antragsteller hat sein Ansuchen zurückgezogen.

- Dafür hast du den Kopf nicht unter Denkmalschutz gestellt und damit ein Hintertürl für eine spätere Ausfuhr offen gelassen.

Ist das nun ein mitleidiger Blick, den Toni auf sie richtet, auf sie, die einen faulen Kompromiss schloss? Wilfried war fuchsteufelswild. Schon davor hatte sie begonnen, sich zu emanzipieren, seine Wünsche zu ignorieren. Der Verdrüssliche war nicht das erste Kräftemessen, aber ein entscheidendes. Mit dem Ausfuhrantrag für diesen Kopf hätte Wilfried sie nie behelligen dürfen. Reichte es nicht, dass er sein Versprechen gebrochen hatte? Musste er noch weitergehen? Vom Vertrauensbruch zum Verrat? Die Genugtuung, ihm erneut und gerade hier Grenzen aufgezeigt zu haben, war groß. Auch seine Drohungen beeindruckten sie nicht. Ich zeig dich an. Anonym. – Und ich zeige mit dem Finger auf dich. Offiziell. Hat da nicht soeben eine Tür geknallt? Nein. Wilfried ist tot. Er stürmt nicht mehr aus diesem Raum. Ihre soeben noch verspürten Hitzewallungen wechseln in Fröstelschauer über. Das sind die alten Mauern. Sonst nichts. Sie strahlen die Kälte aus, die sich auf Carola überträgt. Haltung, Frau Hofrat, Haltung bewahren! Einfach ein Gespräch beenden, das zu nichts führt. Was will sie überhaupt? Die Wahrheit? Wen interessiert die schon? Carola friert nicht nur, sie ist auch müde. Warum wurde sie nicht in einem dieser baufälligen alten Denkmäler, die sie so gerne beging, von einem abbröckelnden Stein erschlagen? Aus. Vorbei. Nichts mit schön pomali. Wie sie diese plötzlichen Ermüdungsanfälle hasst. Schonung. Ein Unwort für eine wie sie. Aber es hilft nichts. Sie ist erschöpft. Von dem bisschen Stiegensteigen und einem kurzen Gespräch! Möglichst unauffällig stützt sich Carola an der Schreibtischkante ab, während sie aufsteht.

- Danke, Toni.

- Wofür?

Wo, verdammt noch mal, ist ihre Konzentration geblieben? Was plappert sie denn da? Sagt Danke, statt Toni zur Schnecke zu machen! Er hätte für den Verdrüsslichen doch selbst ein Unterschutzstellungsverfahren einleiten können. Sich auf Carolas Versäumnis auszureden, ist wirklich stark. Egal. Sie kann es ja doch nicht ändern. Resigniert antwortet sie:

- War bloß so dahingesagt.

Im Hinausgehen stolpert sie über den Perserteppich, den sie noch nie leiden konnte. Toni springt auf und ergreift ihren Arm.

- Alles in Ordnung?

- Nein.

Er will sie zur großen Flügeltür begleiten, doch dann meint er:

- Geh lieber so, wie du gekommen bist.

Carola versteht. Sie ist nie hier gewesen.

- Toni, das hättest du nicht bewilligen dürfen.

- Ich weiß. Ciao, Carola.

Er öffnet für sie die Tapetentür. Carola lächelt. Ein bisschen traurig, ja, aber auch erleichtert. Da ist er wieder, der alte Toni, so wie sie ihn kennt. Ciao hat er gesagt. Carolas Codewort für Machenschaften, bei denen sich Staatsbedienstete besser raushalten, wollen sie keine Scherereien bekommen. Deshalb flüstert sie noch schnell durch den Türspalt:

- Ciao, Tonio.

IX.

Gitta beobachtet Paul, wie er seine Reisetasche auspackt. Penibel stapelt er die Schmutzwäsche auf dem Bett: zuerst die Hemden, dann die Unterwäsche und obenauf die Socken. Nun hält er den Pyjama in der Hand und weiß nicht, was er tun soll. Diesen einfach über die Socken zu legen, widerspricht Pauls Ordnungssinn. Er runzelt die Stirn, presst die Lippen aufeinander. Wird das sein Altersgesicht werden? Tiefe Stirnfalten, zusammengekniffene Augen, freudlos schmaler Mund? Übernächtig sieht er aus. Demnächst wird er 60. Doch heute wirkt er viel älter. Das sind die vielen Reisen. Einmal zur Fortbildung nach Basel, dann wieder von einem österreichischen Krankenhaus zum nächsten. Gitta kann sich nicht vorstellen, wie das ist, wenn Paul im Auftrag seiner Firma Ärzte berät. Wie preist man Medikamente an? Die Ärzte müssen doch selbst entscheiden, was sie ihren Patienten geben. Oder lassen Mediziner sich genauso verführen wie Konsumenten? Sie hat einmal etwas gelesen. Von Geschenken und so. Macht Paul das auch? Viel ausgehen mit seinen Kunden tut er schon.

Gitta hat keine Ahnung, ob Paul seinen Beruf liebt. Geäußert dazu hat er sich nie. Kennt er überhaupt die Begeisterung, die sie erfasst, wenn ihr eine neue Idee kommt? Die fieberhafte Anspannung aber, die darauf folgt, ist nicht gut. Da läuft ihre Fantasie Amok, während schon die Angst lauert und den Angriff vorbereitet. Solche Hochs und Tiefs sind Paul fremd. Trotzdem kann er seinen Beruf mögen. Früher hatte er ihr Anekdoten aus dem Spitalsalltag erzählt. Bei einem Glas Wein am Abend hatten sie darüber gelacht, aber nun, da sie diesen speziellen Alltag selbst erlebt hat und außerdem keinen Alkohol mehr verträgt, schweigt er. Davor hatte er auch nicht so verbissen Ordnung gehalten, nur zuweilen ihr Atelier kritisiert. Wie du in diesem Chaos arbeiten kannst! Mag schon sein, dass sich ihre Form der Ordnung nicht jedermann erschließt, aber sie findet sich darin zurecht, besser als außerhalb.

Interessiert verfolgt Gitta, wie Paul den Wäschestoß mit der einen Hand hochnimmt, ihn auf den Pyjama in der anderen Hand legt und damit ins Badezimmer geht. Warum tut er das? Im Wäschekorb purzelt ja doch wieder alles durcheinander. Absurd das, aber ein witziges Motiv: Auf einem wirren Haufen aus Kindersocken und Frauenkleidern thront Pauls Pyramide. Eine Familienaufstellung der besonderen Art. Gitta beginnt zu kichern.

- Was ist denn so lustig?

Mit leeren Händen steht Paul in der Schlafzimmertür. Seine Gereiztheit stachelt sie noch mehr an. Das fertige Bild müsste sie der Psychotante in der Schule zeigen. Verstehen Sie, die kleinen Socken da, die verstecken sich, damit die Mumie in der Pyramide sie nicht sieht und mit dem bösen Blick bestraft. Die Frauensachen können nicht helfen. Die sind zu unordentlich, wabern durch die Gegend und erledigen keine Hausaufgaben.

- Hör auf damit!

- Womit?

- Mit deinem hysterischen Lachen!

Prustend wehrt Gitta ab:

- Lass mich doch. Ich hatte einen lustigen Tag.

- Schön für dich. Meiner war anstrengend.

Seiner! Als ob nur er etwas vorzuweisen hätte. Gittas Lachflash erstirbt.

- Das eine schließt das andere nicht aus. Mein Tag war auch anstrengend.

- Du meinst, weil du mich abgeholt hast.

Gitta reckt den Kopf, um an Größe zu gewinnen. Schließlich hat sie etwas geleistet.

- Weil ich heute bei Bernhards Lehrerin war.

Irritiert blickt Paul auf sie herab.

- Du warst in der Schule?

27 Zentimeter Größenunterschied. Sie müsste schon die Wäschepyramide auf ihrem Kopf balancieren, um Paul zu überragen. Wieder beginnt sie zu kichern, ein bisschen, mehr traut sie sich nicht.

- Ja-haha. Die Lehrerin wollte doch einen Elternteil sprechen. Einen, nicht zwei.

- Oh Gott, das hab ich verschwitzt. Und du warst dort?

- Ja.

- Na, toll.

Paul lässt sich auf die Bettkante plumpsen und starrt vor sich hin.

- Hab ich was falsch gemacht?

Nun ist Pauls Blick von unten auf sie gerichtet.

- Das weiß ich nicht.

- Was heißt, du weißt es nicht?

- Erzähl einfach.

Gitta schluckt. Schon wieder kommt sie sich vor wie bei einer Prüfung. Gitta, an die Tafel! Das hat sie gehasst. Schriftliche Arbeiten, Multiple-Choice-Fragen, wunderbar, Zeichnen sowieso, doch vorne stehen und reden, schlimm. Einem ersten Impuls folgend, will sich Gitta neben Paul aufs Bett setzen, nur dann würde er sie schon wieder überragen, ohne dass sie ein Wort gesagt hat. Das wäre nicht gut, doch vor ihm stehen fühlt sich genauso verkehrt an. Sie kann nichts richtig machen, egal, wie sie es anpackt, und nun beginnt sie auch noch zu zittern. Kaum hörbar stößt sie hervor:

- Bernhard hat Probleme.

Gleich wird Paul, nein die Lehrerin – sprich lauter! – sagen, aber Paul meint nur ebenso leise:

- Klar hat er die.

- Wieso?

- Begreifst du’s nicht oder willst du’s nicht begreifen?

- Was?

- Wie es ihm, wie es mir geht. Ständig in Bereitschaft. Steht sie’s durch? Oder kommt der nächste Schub?

- Aber ich hab mich doch wieder im Griff?

Gitta ärgert sich über die Angst in ihrer Stimme und über Pauls prüfenden Blick. Sie will nicht ständig Tests bestehen. Sie will so sein dürfen, wie sie ist. Ohne Angstzustände, das schon. Draußen im Flur hört sie Bernhard trällern. Ach ja, er ist zurück aus der Schule. Vor wenigen Minuten erst hat sie ihn hereingelassen. Angestrahlt hat er sie, weil die Lehrerin ihn gelobt hatte. In Rechnen! Mama, stell dir vor … So redet doch kein Kind, das um die Mutter bangt. Wenn bloß dieses blöde Zittern nicht wäre! Bernhard hat aufgehört zu singen. Weil er in Bereitschaft sein muss? Die Mutter beobachten, das geht nur lautlos. Er muss sich anschleichen wie ein Späher der Apachen. Und was sieht er dann? Auch Paul ist auf seinem Posten, starrt sie an. Nein, er schaut durch sie hindurch. Warum hat sie die Löcher in ihrer Brust nicht schon früher bemerkt? Durch sie können Pauls Gedanken flutschen. Aber wohin fliehen sie? Gitta will sie anhalten und fragen, doch keiner bleibt stehen. Fort, nur fort! Mit jedem Gedanken, der entkommt, schrumpft Pauls Schädel. Bald wird nichts als ein Stecknadelkopf auf seinem Hals sitzen. Wenn sie brav gewesen war, durfte sie in Mutters Nähkorb die Stecknadeln ordnen. Die grünen und roten ins linke, die gelben und blauen ins rechte Fach. Oba pass auf, dass du di’ net stichst. Gitta hält die Hände vor die Brust. Halt! Hier darf keiner mehr durch. Die Gedanken müssen eingesperrt werden. Sie sollen nicht frei herumlaufen. Und Paul muss seinen Kopf behalten. Gitta greift nach Pauls Gesicht. Wie eine Blinde tastet sie es ab. Die dichten Augenbrauen, die glattrasierten Wangen, die dünnen Lippen. Auch die Ohrläppchen sind nach wie vor angewachsen. Schweißnass sein Haar. Warum fasst er nach ihren Handgelenken? Warum das laute Atmen? Hat er gerade gekämpft? Mit den Gedanken? Die Adern auf der Stirn treten hervor, unter den geröteten Augen sind tiefe Ringe. Konvex und konkav. Stark ausgeprägte Wölbungen und Vertiefungen. Wie beim Verdrüsslichen. Nur die zwei Falten von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln sind noch nicht so ausgeprägt. Wenn sie die malte, müsste sie weniger dunkle Farben nehmen als beim Porträt des Charakterkopfes.

- Gitta!

Warum schreit er denn? Klaro, er will nicht den Kopf verlieren. Gitta muss ihm beistehen, aber das geht nicht, wenn er sie weiter schüttelt. So wird sie erneut zum Sieb, das seine Gedanken durchlässt.

- Gitta!

- Lass mich los!

- Erst wenn du dich wieder beruhigt hast.

- Ich bin doch ruhig.

- Bist du nicht!

Sie will sich losreißen, aber Paul ist stärker. Den Griff kennt sie. Er wird ihn erst lockern, wenn sie aufhört – aufhört womit denn? Tief einatmen, tief ausatmen. Ein. Aus. Ein. Aus. Verwirrt blickt Gitta auf ihre Fingernägel, die dunkle verklebte Ränder haben. Kommt das vom Reiben der juckenden Augen? Oder von Pauls Haar? Aus dem rinnt etwas über die Stirn und versickert in seinen Augenbrauen. Roter Schweiß. So etwas hat sie schon einmal gemalt. Ein tolles Bild, gut verwahrt im Atelierkasten hinter den Stillleben, Skizzen und Zeichenblöcken. Auch der Mann mit dem weit aufgerissenen Maul ist dort. Keine Porträts. Gesichte. Die muss sie doch verstecken. Vor Bernhard. Vor Paul. Vor sich selbst.

- Bernhard, wo ist er?

Gittas Stimme ist heiser. Hat sie geschrien?

- In seinem Zimmer.

- Hat er was mitbekommen?

- Ich denke nicht. Du warst nicht laut.

- Was war ich dann?

Vorsichtig öffnet Paul seine Hände. Gittas dünne Unterarme hängen in der Luft, gehalten vom Nachgefühl der Umklammerung. Erst, als sie die Handgelenke wie nach einer anstrengenden Gymnastikübung schüttelt, antwortet Paul:

- Kämpferisch.

- Wie?

- Du bist auf mich losgegangen.

- Ich wollte nur …

- Was wolltest du?

Gitta kann doch nicht sagen, dass sie Pauls Gedanken am Entwischen hindern wollte. Absurd das alles. Sie schaut an ihrem schwarzen Pulli entlang zum Hosenbund. Ihr Oberkörper ist schmal, aber kein Sieb. Was war denn gerade los mit ihr?

- Nichts. Ich wollte nichts.

- So hat es sich aber keineswegs angefühlt.

Erneut starrt Paul sie an. Gitta weicht seinem Blick aus. Sie will sich nicht verrückt machen lassen. Die letzten Wochen, ja Monate, war sie unauffällig. So stand es auch im Befund der Baumgartner Höhe. Verhalten: unauffällig. Wie früher. Wie vor ihrem Ausbruch. Ein stilles Kind. Eine zurückhaltende junge Frau. Sie ist wieder im alten Gitta-Modus. Ein bisschen achtgeben muss sie, aber sonst ist alles in Ordnung mit ihr, mit Bernhard, mit Paul.

- Wie wär’s, wenn du die Ausstellung absagst.

Gitta fährt zusammen. Nur das nicht! Die Ausstellung ist wichtig. Sie holt sie heraus aus ihrem Schneckenhaus, so wie es Paul, wie es die Psychiaterin immer predigen.

- Sie macht dich doch schon seit Wochen nervös. Warte ab. Nimm stattdessen einen kleinen Job an, nichts Stressiges, damit deine Woche eine Struktur bekommt.

Paul mit seinem Tagesgerüst für sie und Bernhard. Er hört nicht auf damit.

- Und mehr verdienen als mit deinen Bildern würdest du auch.

Was soll das? Will er ihr so einen Job schmackhaft machen? Sie soll raus, nicht nur zum Einkaufen und Abholen. Warum glaubt Paul, dass Malen krank macht? Es stimmt, sie ist in der Welt der Bilder gefangen, kommt nicht davon los. Aber wer sagt, dass das ungesund ist?

- Du musst anders eingestellt werden. Ich rede mit Frau Dr. Hebel. Hörst du mich?

Natürlich hört sie ihn. Sie ist ja nicht taub.

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Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
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9783839267226
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