Читать книгу: «Der Verdrüssliche», страница 5

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- Das mach ich schon selbst.

Gitta ist erstaunt, wie energisch ihre Stimme plötzlich klingt. Auch Paul wirkt überrascht.

- Gut, dann rede du mit ihr, am besten heute noch. Ich kann nicht mehr so wie vor einem Jahr abwechselnd mit deiner Mutter hier sein, um für Bernhard zu sorgen. Die Schweizer haben dafür wenig Verständnis. Ich verlier sonst meinen Job.

Da macht es klick bei Gitta.

- Haben wir Geldsorgen?

- Nicht direkt.

- Und indirekt?

- Gitta, es geht sich alles aus.

- Aber du hast doch geerbt.

- Den Pflichtteil.

- Und der ist aufgebraucht?

- Nein, aber viel davon ist nicht mehr übrig, und ich will nicht meine letzten Sachen aus der Familienstiftung holen. Außerdem ist die jährliche Leihgebühr, die wir dafür kassieren, auch ganz gut.

Paul, der lange Paul, schaut betreten zu Boden. Seine Lippen sind so fest aufeinandergepresst, dass der Mund nur mehr ein dünner Strich ist, den sie mit einer einzigen Linie festhalten könnte.

- Ich soll also nicht auf bessere Zeiten hoffen, sondern lieber jetzt schon jobben, damit ich etwas dazuverdiene.

Gitta beobachtet Pauls Fußspitze, mit der er das Fischgrätmuster des Parkettbodens nachzeichnet.

- Nein, das meine ich nicht.

- Was dann?

- Gitta, ich halt’s nicht mehr aus. Ich muss weg, und du musst raus. Sonst werden wir alle noch wahnsinnig.

Gitta merkt, dass ihre Brust schon wieder durchlöchert ist, doch kein Gedanke will durch, weil Paul sich schon umgedreht hat und seine Reisetasche nicht mehr aus-, sondern einpackt.

X.

Carola holt Reklamezettel aus dem Postkasten und wirft sie in den Papiercontainer neben dem neu eingerichteten Fahrradraum. Ein altes Barockhaus und immer noch so funktionell. Ihr Daheim! Als sie die Wohnung bezogen hatte, meinte sie scherzhaft zu Wilfried, dass man sie von hier nur mehr mit den Füßen voran rausbringen könne, so begeistert war sie vom Blumenrelief überm Hauseingang, den frisch gestrichenen Holzfenstern, dem begrünten Innenhof, den gemütlichen Pawlatschen. Doch nun, da das einst so leichthin Gesagte bald eintreten wird, sieht sie den Charme des Hauses mit Wehmut. Nirgendwo sonst ist sie sich ihrer Vergänglichkeit derart bewusst wie bei seinem Anblick. Von Generationen von Eigentümern immer wieder renoviert, adaptiert, gefärbelt, damit es wie neu aussieht. Bei Gebäuden funktioniert das, vorausgesetzt, sie haben eine gute Substanz, bei Menschen hingegen … Carola steigt die Wendeltreppe hoch, stützt sich dabei auf den von zigtausenden Fingern abgegriffenen Handlauf. Keuchend erreicht sie den dritten Stock. Sie und einige andere Mieter haben verhindert, dass ein Lift eingebaut wird. Für ihn wäre ein Teil der hofseitigen Pawlatschen zerstört worden. Nun muss sie für ihren denkmalschützerischen Einsatz büßen. Wenn nach der zweiten Operation die Nachbarin nicht die Einkäufe erledigt hätte, wären sie und Jari arm dran gewesen. Ach was! Sie ist zäh. Jari auch. Leider!

Als Carola die Tür aufsperrt, schlägt ihr widerlicher Geruch entgegen. Jarolim wird doch nicht … Carola rückt die Brille zurecht und inspiziert jeden Winkel des Vorraums. Da! Nein, das ist bloß der Schatten des Schirmständers. Sie betastet Schuhe, Pantoffel und den Fleckerlteppich. Nichts. Jari! Schon kommt es angehoppelt, das dreibeinige Monster und schaut sie erwartungsvoll an. Normalerweise lässt sich Jari nach so einem Fehltritt nicht blicken, wartet erst ihre Schimpftiraden ab. Deshalb hält Carola Nachschau im Badezimmer. Oh Gott! Jarolim hat Durchfall. Das Katzenklo ist übervoll! Ein Wunder, dass er sich noch keine Alternative gesucht hat. Rasch holt Carola einen großen Plastiksack, in den sie die gesamte Streu hineinkippt, und stellt ihn vor die Tür.

Carola weiß, dass sie den stinkenden Sack augenblicklich entsorgen sollte, aber sie ist zu mitgenommen, um erneut die vielen Stufen hinunter- und hinaufzugehen. Deshalb öffnet sie bloß die Fenster der Pawlatschenveranda vor ihrer Wohnung und schließt die Tür. Sie füllt frische Streu nach, wäscht die Hände und schlurft in die Küche. Sie braucht Tee. Auch so eine Angewohnheit, die neu ist. Ihre Geschmacksnerven müssen umgepolt worden sein. Moderten früher Earl-Grey-Packungen jahrelang vor sich hin, ist Tee nun ihr bevorzugtes Getränk, getreu dem Motto ihrer Mutter: Tee trink i nur, wenn i krank bin. Doch dass sie den heißgeliebten Kaffee nicht mehr verträgt, ist ärgerlich. Riechen tut sie ihn allerdings nach wie vor gern. So steht denn auch wenig später neben der dampfenden Teetasse eine Schale Kaffee, deren Duft Carola mit geblähten Nasenflügeln einsaugt, ehe sie in kleinen Schlucken die vom Bioladen empfohlene Hochlandmischung trinkt. Hilft’s nichts, schadet’s auch nicht.

Carola schreckt auf. Sie muss eingenickt sein. Direkt am Küchentisch. Sie versucht, sich zu sammeln, ins Hier und Jetzt zurückzukehren. Irgendetwas hat sie irritiert. Sie hört Jarolim fauchen und dazwischen Klopfgeräusche. Benommen rappelt sich Carola hoch und tapst ins Wohnzimmer. Sprungbereit lauert Jarolim am Fenster, vor dem an einer roten Kordel befestigt eine Karteikarte hängt, die der Wind immer wieder gegen die Scheibe weht. Herr Nierlich! Carola kann sich denken, was da in pedantisch leserlicher Schrift steht. Trotzdem öffnet sie das Fenster und löst die Karte von der Schnur. Oje, diesmal ist sie vorne und hinten beschrieben.

Werte Frau Dr. Broggiato!

Darf ich Sie erneut an die wesentlichen Vorschriften des Nachbarschaftsrechts erinnern. Darin ist festgehalten, dass ›Einwirkungen durch Abwässer, Rauch, Gase, Wärme, Geruch, Geräusch, Erschütterungen und Ähnliches insoweit‹ untersagt werden können, ›als sie das nach den örtlichen Verhältnissen gewöhnliche Maß überschreiten‹. Ich weiß, Sie sind keine Juristin, daher hier eine für Sie verständliche Erläuterung des an sich glasklaren Gesetzestextes: In einer bäuerlichen Gegend habe ich das Ausbringen von Gülle zu dulden, da diese Tätigkeit und deren Emissionen ›ortsüblich‹ sind. Im ersten Wiener Gemeindebezirk, der noch dazu die Bezeichnung INNERE STADT trägt, muss ich den bestialischen Geruch, der von Ihrer Veranda zu mir aufsteigt, keineswegs dulden, sondern überlege nunmehr ernsthaft eine Unterlassungsklage. MfG

Für die Unterschrift war kein Platz mehr, für ausgeschriebene Höflichkeiten schon gar nicht. Eilig reißt Carola ein Blatt vom Notizblock. Ich trage den Mist gleich hinunter, schreibt sie darauf, heftet den Zettel mit einer Büroklammer an die Karteikarte, windet darum die Kordel und verknüpft sie, so fest sie nur kann, damit die Post auf ihrem Weg in den nächsten Stock nicht verlorengeht. Sie zupft an der Schnur. Umgehend wird diese nach oben gezogen. Herr Nierlich sitzt dort und wartet wahrscheinlich schon eine halbe Stunde auf Antwort, statt wie jeder vernünftige Mensch an ihrer Tür zu läuten oder sie anzurufen. Gerade als sich Carola umdrehen will, um auf die Veranda zu gehen, bemerkt sie, dass erneut etwas heruntergelassen wird und Jarolim Taubenfang-Knurrgeräusche von sich gibt. Seufzend öffnet sie das Fenster. In Großbuchstaben schreit sie die Frage WIE LANGE DAUERT IN IHREM UNIVERSUM ›GLEICH‹? an. Nun reitet Carola der Teufel. 2 bis 12 Minuten, fetzt sie in nahezu unleserlicher Schrift darunter. Die Antwort erfolgt prompt: Ich gebe Ihnen 3 (in Worten: drei) Minuten. Die Zeit läuft.

Carola verzichtet auf einen weiteren Kommentar, doch ehe sie die Steinchen des Anstoßes hinunter zu den Mistkübeln schleppt, nimmt sie einen Schluck vom mittlerweile kalten Tee. Dieser komische Nierlich kann sie kreuzweise. Soll sich einmal persönlich vorstellen und keine Karteikarten beschriften. Sie weiß ja nicht einmal, wie er aussieht. Lebt verkrochen in seiner Höhle unterm Dach. Bewegen tut er sich auch nicht viel. Carolas Gehör funktioniert immer noch bestens, sie würde die Schritte hören, doch da ist kaum je Betrieb über ihr. Ein komischer Kauz.

Als sie nach gestoppten sieben Minuten – so viel wortloser Protest muss sein – den Deckel des Mistkübels sorgsam verschließt, in der Hoffnung, dass der Gestank von Jarolims Scheiße diese Barriere nicht überwinden kann, bekommt sie das heulende Elend. Ohne Vorwarnung, übergangslos wird sie von peinlich lauten Schluchzern gebeutelt. Warum gerade jetzt? Nicht beim Kraulen von Jaris Bauch, nicht beim Anblick seines schwarzgrauen Fells, nicht beim zarten Tupfen auf sein rosa-schwarzes Näschen, nein ausgerechnet hier, angeekelt von einem übel riechenden Sack, fragt sie sich, was denn aus Jari werden soll, wenn es sie nicht mehr gibt. Wer nimmt schon einen dreibeinigen Kater? Wen außer sie soll Jari mit seinem mürrischen Altherrencharme für sich einnehmen? Vielleicht geht er vor ihr ein? Mit dem Ärmel wischt Carola über ihr verheultes Gesicht. Keine Chance. Erst jüngst meinte die Tierärztin, er sei für sein Alter prächtig beisammen, was nicht viel heißt, denn wie alt Jarolim tatsächlich ist, weiß Carola nicht. Ein verletzter Kater, der von einem Auto angefahren wurde, stellt sich nicht vor, sondern faucht einmal gehörig, wenn eine fremde Frau sich ihm nähert. Nun muss Carola lächeln, während sie an ihre ungelenken Versuche denkt, Jari hochzunehmen und im Wagen zu verstauen. Im nächsten Dorf wusste niemand, wem das Tier gehörte, aber sie könne des Viech ja dalassen. Es würde ohnedies krepieren. Wie sie selbst, ergänzte Carola im Stillen. War es diese Parallele, die sie bewog, den Kater ins Tierspital zu fahren? Vier Chemo-Serien und den ersten Ausflug seit Monaten hatte sie gerade hinter sich gebracht. Da konnte sie nicht zulassen, dass ein Kater starb. Für Augenblicke verknüpfte sie sogar sein Schicksal mit dem ihren. Wenn er überlebte, dann könnte doch auch sie … Er hat überlebt, während sie … Den Kater zu retten, war strohdumm von ihr. Und nun hat sie das Vieh sogar liebgewonnen. Die alte Hofrätin wird schrullig. Ach was. Er passt zu ihr: behindert, eigensinnig, doch mit unbändigem Lebenswillen. Ja. Und deshalb wird sie nun flott nach oben gehen, sich an den Schreibtisch setzen und recherchieren. Toni mag die Finger vom Verdrüsslichen lassen, Carola Broggiato bleibt dran.

XI.

Gitta legt den Hörer auf. Die Psychiaterin hat sie am Nachmittag eingeschoben. Das wäre einmal erledigt. Die Augen müssen warten. Sie kann nicht den ganzen Tag in Ordinationszimmern zubringen. Das Jucken hat ohnedies nachgelassen. Vielleicht klingen die Beschwerden von alleine ab. Aber was macht sie mit Bernhard? Soll sie ihn mitnehmen? Paul redet gerade mit ihm, doch bald wird er gehen. Zwei gepackte Reisetaschen stehen im Vorraum. In der einen frische Wäsche, in der anderen ein sorgsam in Decken gewickelter Holzengel, das teuerste Stück, das in der Wohnung verblieben ist. Warum nimmt er den Engel mit? Um ihn zu verkaufen? Ihn anderswo aufzustellen? Gitta ist beunruhigt, nicht, weil Paul sie verlässt, das auch, vielleicht, sie muss erst darüber nachdenken. Wenn nicht die vielen anderen Aufgaben wären! Die muss sie nun zusätzlich übernehmen, kann nicht warten, bis Paul kommt. Nur irgendwann wird er zurückkehren. Oder?

Erneut schaut Gitta auf Pauls Gepäck. Der Engel, warum gerade er? Die verdammte Erbschaft! Eine einzige große Kränkung. Noch heute fühlt sich Paul um seinen Anteil betrogen, hat aber nie etwas dagegen unternommen. Wegen Rechtsanwalt Dr. Gaidosch, dem neuen Geschäftsführer? Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus, meinte Paul, als Gitta vorgeschlagen hatte, das Testament anzufechten. Wahrscheinlich hatte er recht. Wäre der von Pauls Vater eingesetzte Dr. Gaidosch ein Lehrer, Arzt oder Apotheker, dann ja, aber so … Auch als Dr. Gaidosch Paul drängte, die wertvolleren Objekte seines Erbes leihweise der Familienstiftung zu überlassen, hatte sie kein gutes Gefühl. Es stimmt schon, in den klimatisierten und alarmgesicherten Räumen, die extra dafür eingerichtet wurden, sind der Messerschmidt-Kopf und andere Kostbarkeiten besser aufgehoben, bloß sieht sie dort kein Mensch.

Hätte Gitta den Verdrüsslichen doch im Original hier! Warum nicht? Verliehen ist ja nicht verkauft. Sie könnte fragen, ob sie ihn haben darf, für ein, zwei Monate gegen Reduzierung der Leihgebühr. Auf die paar Euro kann es nicht ankommen. Paul hat selbst gesagt, dass es nicht ums Geld geht. Sie würde den Kopf persönlich holen und zurückbringen. Sie hat ein Auto und darf fahren. Wenn die Skulptur in Sicherheitsverwahrung bleiben muss, dann könnte sie immer noch mit ihrer Staffelei anrücken. Das wäre zwar wesentlich komplizierter, sie müsste alle Malutensilien und die Tageslichtlampen mitnehmen, aber sie würde dafür raus aus der Wohnung kommen. Jeden Vormittag, während Bernhard in der Schule ist, könnte sie in die Innenstadt gehen und malen. Ist das nicht die Art von Struktur, die Paul sich vorstellt?

Nun wartet Gitta ungeduldig darauf, dass Paul aus dem Kinderzimmer kommt. Was bespricht er denn so lange mit dem Buben? Doch hoffentlich nicht, wie Bernhard auf sie aufpassen soll. Das kann sie schon selbst besorgen. Sie wird auf sich aufpassen. Heute wird sie neu eingestellt, bekommt vielleicht andere Tabletten, die sie mit viel Wasser einnehmen, nicht nur irgendwie runterschlucken wird. Sie wird alle Tasks erledigen, sogar das vernachlässigte Aufgabenheft führen, dort alles eintragen, was sie tut, sie wird darauf achten, dass Bernhard regelmäßig isst, nicht zu spät ins Bett geht, sie wird … Was wird sie tun, wenn trotz allem die Angst hochkommt, sie wie gelähmt im Supermarkt steht und keinen Schritt vor den anderen setzen kann? Oder wenn sie gar auf Bernhard losgeht? Nein, das wird nicht geschehen. Sie hat noch nie den Buben angegriffen. Oder hat sie? Und Paul hat ihr das verschwiegen? Gitta starrt auf die mit bunten Abziehbildern verzierte Tür des Kinderzimmers, fixiert den braunen Drachen mit grüner Kappe, vorwitzigen Glubschaugen und dicken Nüstern, der über Bernhards Namen, Buchstabe für Buchstabe ausgeschnitten und in unregelmäßigen Abständen aufgeklebt, schwebt.

Dass Paul die Flucht ergreift, berührt sie nicht, ein wenig, ja doch, aber nicht viel. Ist sie nach dem heutigen Anfall zu abgekämpft? Oder macht sie die tägliche Tablette nicht nur weniger nervös, sondern bereits so abgestumpft, dass sie gar nichts mehr empfindet? Dann wäre sie aber vorhin nicht ausgerastet, oder was immer das war. Und am Vormittag in der Schule hatte sie doch Angst um Bernhard. Fühlbare Angst. Die Zeichnungen halten etwas fest, das Gitta nicht benennen kann. Sie hat bloß diese diffuse Ahnung, die sich nicht abschütteln lässt. Ihre Angstzustände sind anders. Sie gehören zur kranken Gitta, machen sie hilflos, liefern sie Bildern aus, vor denen sie nicht wegrennen kann. Irgendwann verschwinden sie wieder. Gitta muss lernen, damit umzugehen. Sie haben das schon ziemlich gut im Griff, hat Frau Dr. Hebel erst unlängst gesagt. Soll sie Paul auf Bernhards Zeichnungen ansprechen? Nein, die Antwort kann sie sich ausmalen. Für ihn ist sicher sie diejenige, die zwischen Bäumen oder Autos lauert, denn dass Bernhard Abenteuergeschichten aus dem Wilden Westen zeichnerisch verarbeitet, daran hat sie doch selbst nur für einige Augenblicke geglaubt.

Die Tür des Kinderzimmers geht auf. Bernhard sitzt mit gesenktem Kopf an seinem Schreibtisch. Gitta will hinlaufen und ihn in die Arme nehmen. Alles halb so schlimm! Aber dazu müsste sie an Paul vorbei, am langen Paul, der im Türrahmen steht, ein Bild von einem geknickten Mann, nicht nur, weil er unter jedem Durchgang automatisch den Kopf einzieht, selbst wenn es wie hier keinen Grund dafür gibt.

- Ich geh jetzt.

Statt das Angekündigte zu tun, macht er kehrt und streichelt den Buben, der dabei eine abwehrende Haltung einnimmt. Unentschlossen verharrt Paul im Kinderzimmer. Weder Gitta noch Bernhard sagen etwas. Gitta hört eine Uhr ticken. Wieder so eine Vorstellung, die einfach auftaucht. Sehen und hören andere Leute auch dauernd etwas, das es gar nicht geben kann? Die alte Wanduhr ist längst kaputt, hängt still im elterlichen Wohnzimmer, die Zeiger auf acht nach zwei.

Zeit zu gehen. Paul bückt sich erneut unterm Querbalken des Türrahmens, dann noch tiefer hinunter zu den beiden Taschen, hebt sie hoch, stellt sie wieder ab, richtet sich auf und umarmt Gitta. Seine Brust ist warm. Eingebettet zwischen den aufgeknöpften Vorderteilen von Pauls Jacke spürt Gitta das Pulsieren seines Herzens, der Rhythmus geht auf sie über, Gittas Blut wird in Pauls Körper gepumpt, im Wechsel angesaugt und ausgestoßen. Das ist unmöglich. Halluziniert sie im Sekundentakt? Doch schon hat Paul die Verbindung gekappt, greift nach den Taschen und verlässt die Wohnung. Gitta hört das Summen des herauffahrenden Lifts. Ein realer Ton, kein Hirngespinst. Der Verdrüssliche! Sie läuft hinaus auf den Gang, ruft Pauls Namen. Paul steht schon in der Kabine, betätigt nun aber den Knopf, der das Schließen der Aufzugstür verhindert, und schaut sie komisch an. Ein Missverständnis. Gitta will ihn nicht zurückhalten, bloß bitten, dass er Dr. Gaidosch wegen des Verdrüsslichen fragt. Das geht aber nicht. Nicht mehr. Das hätte ihr früher einfallen müssen. Paul wartet auf ein Zeichen. Welches? Gitta will sich normal verhalten, das Richtige tun.

- Mach’s gut.

- Was hast du gesagt?

Gitta wiederholt:

- Mach’s gut.

- Du auch.

- Ja.

- Du kannst mich immer anrufen.

- Ja.

- Ich komm, wenn du mich brauchst. Lass mir nur ein wenig Zeit.

- Ja.

- Dann sehen wir weiter.

- Ja.

Gitta beobachtet Pauls Zeigefinger, der sich zögernd vom Offenhalteknopf entfernt, aber nah genug bleibt, um ihn sofort wieder drücken zu können. Sie muss Paul helfen. Sie ihm! Crazy. Lächeln. Ja, das ist gut. Gitta lächelt Paul an und winkt zaghaft, während die Lifttür zugeht. Sie wartet, bis der Aufzug im Erdgeschoß anhält und Pauls Schritte durchs Stiegenhaus heraufhallen. Diese Prüfung hat sie bestanden. Nicht unbedingt mit einem ›Sehr gut‹, aber immerhin. Sie spürt Bernhards Kopf an ihrer Seite. Ich habe meine Aufgabe gemacht, liest du sie durch?, flüstert er, den Schädel wie ein Kater an ihrem Pulli reibend. Gitta nickt. Gemeinsam gehen sie zurück in die Wohnung. Bernhards Zimmer. Legoritter und Piraten bewachen selbstgebastelte Burgen und Schatzinseln. Der Ölprinz und alle drei Winnetou-Bände liegen auf dem Nachtkästchen, dort, wo Paul sie, Buchdeckel auf Buchdeckel geschichtet, zurückgelassen hat. Müsste sie Pauls Welt in einem einzigen Bild festhalten, wäre es dieser fest umrissene Turm aus altbackener Lektüre mit bis zum Anschlag in den Falz gedrückten Lesezeichen, die zwischen den Seiten herausragen wie präzise ausgerichtete Flaggen bei einer Parade. Daneben als Kontrast Bernhards behelfsmäßiges Zelt, das er sich aus Decken und zwei Sesseln gebaut und mit einem alten Fleckerlteppich ausgelegt hat. Träumt ihr Bub dort von seinem Retter, dem edlen Winnetou? Oder ist das sein Versteck, in das er sich flüchtet, wenn der böse Mann mit den suchenden Augen aufkreuzt? Bis vor Kurzem war das ein normales Kinderzimmer, aber nun? So viele Fragen, und Gitta weiß keine Antworten. Gehört das zu ihren Tasks? Nach Antworten suchen?

- Mama!

Ach ja, Bernhards Hausübung. Sie nimmt das Heft, das er ihr entgegenhält, hoch und liest:

Der Riese und der Zwerg

Es war eimal ein kleiner Zwerg der ging in die Weld und wolte einen Menschen sechen. Da begegnete er einem Riehsen. Der Riese sakte: Was is den das für ein Wurm? Der Zwerg sakte: ich bin kein Wurm. Der Riese lachte du Bist ein Wurm sakte der Riese. Macht nix sakte der Zwerg. Bin ich hald ein Wurm. Dafür habe ich einen Manschen gesechen der war ein Riese kann ich sagen.

Klingt nicht nach Furcht. Ihr Bernhard hat Fantasie, keine Angst.

- Das ist eine schöne Geschichte.

- Sind Fehler drinnen?

- Nur ganz wenige.

- Wirklich?

- Ja. Habt ihr diese Geschichte in der Schule gehört?

- Nein, die hab ich mir ausgedacht. Die Lehrerin wollte, dass wir selbst ein Märchen erfinden, mit Feen und Zwergen und so.

Behutsam weist Gitta auf die Rechtschreibfehler hin. Bei den Satzzeichen ist sie unsicher, ändert daher nichts. Sie muss ein paar Mal den Hals freiräuspern, während sie spricht. Müde setzt sie sich auf Bernhards Bett und beobachtet ihn, wie er, über den vielfach bekritzelten Schreibtisch gebeugt, die Fehler ausbessert.

Irgendwo schwillt der Klingelton von Gittas Handy an. Sie reagiert nicht. Erst als Bernhard meint – soll ich es holen? –, rennt sie zu ihrer Handtasche. Es ist Ivos Assistentin, die mitteilt, dass der Chef morgen die Bilder holen wird. Gitta solle auf alle Fälle mitfahren und beim Hängen dabeisein.

- Der Golfclub ist in einem Landschloss untergebracht. Die ehemaligen Besitzer konnten es nicht mehr erhalten. Es wurde fantastisch renoviert und adaptiert. Du wirst begeistert sein.

Gitta ist alles andere als begeistert, lässt sich aber nichts anmerken. Im Atelier sieht sie nochmals die ausgewählten Bilder kritisch durch. Da hört sie Bernhard sagen:

- Du, Mama, ich hab Hunger.

Natürlich. Sie hat das Mittagessen vergessen. Kein Wunder an einem solchen Tag.

- Gleich. Ich koche uns was Besonderes. Magst du mir helfen?

- Muss ich?

- Du musst nicht.

Noch kurz starrt sie auf ihre Werke, bevor sie in die Küche eilt und Reis auf den Herd stellt. Rasch das Fleisch schnetzeln und das Gemüse in Streifen schneiden. Die Klinge so stumpf. Gibt’s denn keine scharfen Messer? Ah hier! Fuck! Die sind um nichts besser. Warum hat sie sich bloß dieses chinesische Gericht eingebildet? Ach ja, wegen Paul. Zur Feier des Tages. Paul ist aber schon wieder weg. Es gibt nichts zu feiern. Trotzdem schneiden. Wenn sie nicht dauernd abrutschen würde. Vielleicht sollte sie den Paprika von innen … Der Reis, shit, shit, kocht über. Mit einem feuchten Lappen wischt Gitta die milchige Brühe von Herd und Topfrand, gießt etwas Wasser nach und dreht die Temperatur zurück. Das wilde Pochen im Hals, das muss aufhören. Sofort! He, es klappt! Was sie nicht alles kann. Gitta legt sich das Gemüse auf dem Schneidbrett zurecht. Bei Michi sah die Zubereitung so leicht aus. Kein Wunder bei deren Auswahl an blinkenden Klingen. Michi. Die älteste, auch einzige und treueste Freundin, die Gitta hat, und nie ruft sie an, überlässt Michi die Initiative. Warum? Weil Michi wissen will, wie es ihr geht? Sie verkriecht sich zu sehr, muss endlich ihr Schneckenhaus verlassen. Wird sie gleich tun. Doch zuerst Kochen, dann die Psychotante. Das Fleisch. Quer zur Faser schneiden, hat Michi gesagt. Was für ein Geschnipsel! Sie könnte größere Stücke … Nein. Weitermachen. Sie wird das zu Ende bringen. Das Messer gerade halten, nicht zu stark niederdrücken. So. Die letzten Schnitte … fünf, vier, drei, zwei, eins. Yesss! Gitta betrachtet die Fleisch- und Gemüsestreifen. Zwei Fitzelhügel, der eine blassrosa, der andere gelb, rot und grün. Zum Malen schön. Nichts da! Öl erhitzen, rein in die Pfanne mit dem Stillleben, kurz anbraten, würzen. Wo ist die Sojasauce? An der Supermarktkasse liegengelassen? Nein, nein, da ist sie ja! Huch, wie das aufschäumt! Hätte sie die Hitze reduzieren sollen? So genau hat sie Michi nicht zugeschaut. Aber jetzt kann sie sicher abdrehen. Richtig. Tisch decken, Wasser her. Kochen macht durstig.

- Bernhard, Essen!

Er steht schon in der Tür. Seit wann?

- Mama, du hast dich angepatzt.

Gitta sieht an sich herab und dann auf Arbeitsplatte und Herd. Ein Schlachtfeld. Egal. Jetzt wird gegessen. Wie es Bernhard schmeckt! Er nimmt zweimal nach. Sie hat etwas Gutes zustande gebracht. Yeah!

Wieder läutet das Telefon. Es ist Bernhards Freund Georg, der ihn zum Fußballspielen einlädt.

- Mama, der Clemens und der Andi kommen auch in den Park. Dann sind wir eine richtige Mannschaft.

Gitta hat Tränen in den Augen. Geh nur, flüstert sie. Er macht es ihr so leicht. Sie muss nicht einmal überlegen, ob sie ihn mitnimmt. Er hat Freunde, spielt mit ihnen. Bernhard ist ein ganz normales Kind.

- Mama, bist du traurig?

- Ich weiß nicht, vielleicht nur müde. Du weinst ja auch manchmal vor Müdigkeit.

- Mama?

- Ja?

- Ist der Papa weg, weil ich schlimm war?

- Nein, bestimmt nicht. Außerdem warst du nicht schlimm.

- Ich mein, in der Schule.

- Auch dort nicht. Die Frau Lehrerin hat dich gelobt.

- Wirklich?

- Ganz wirklich.

Dieses Strahlen. Das kann doch bloß ein Kind, das …

- Darf ich gehen? Die ander’n warten.

- Ja, natürlich. Aber komm bitte bis spätestens halb sieben heim.

Während sie das sagt, tippt Gitta auf Bernhards bunte Armbanduhr, die er von Paul zum Geburtstag bekommen hat. Gewünscht hat sich Bernhard ein Smartphone, doch Paul ist nicht darauf eingegangen. Erst die Uhr lesen lernen und pünktlich sein, dann können wir über ein Smartphone reden.

- Wieso so früh?

- Du musst rechtzeitig ins Bett kommen. Ich bringe dich morgens kaum aus den Federn. Also um halb sieben. Versprochen?

- Indianerehrenwort!

Er deutet auf die große Zeitanzeige seiner Uhr und rennt los. Vom Fenster aus winkt Gitta dem Buben, obwohl er gar nicht zu ihr nach oben schaut. Sie räumt den Tisch ab. Zu blöd, dass der Geschirrspüler kaputt ist. Sie muss endlich beim Reparaturdienst anrufen. Morgen. Jetzt Geschirr waschen, Herd putzen und anderes Gewand anziehen. Frau Dr. Hebel wartet.

1 339,67 ₽
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Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
Объем:
493 стр. 6 иллюстраций
ISBN:
9783839267226
Издатель:
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