Читать книгу: «Der Verdrüssliche», страница 3

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V.

Als der Wecker rasselt, ist Gitta kaum fähig, die Augen zu öffnen. Sie sind total verschwollen. Shit. Im Bad tastet Gitta nach ihren Tabletten und würgt eine ohne Wasser hinunter. Erst danach kramt sie nach den Augentropfen. Oder kaltes Wasser? Nein, beides. Missmutig blinzelt sie in den Spiegel. Immerhin ist sie nun imstande, halboffenen Auges das Frühstück zuzubereiten. Sie hört Bernhard etwas singen, das sie nicht kennt. Wahrscheinlich vom gestrigen Geburtstagsfest. Er steckt den Kopf zur Tür herein:

- Mama, vergiss nicht, die Lehrerin!

- Nein, ich vergess nicht. Um neun, während der Turnstunde.

War das sein erster Gedanke beim Aufwachen? Das Gespräch mit der Lehrerin? Traut er es ihr nicht zu? Wie Paul? Die Lehrerin. Wie heißt sie doch gleich? Mil…, Mik…, Miklas, nein Miklos! Ja, Irene Miklos. Mit dem Namen kommen aber keine Erinnerungen hoch. Gitta hat die Frau noch nie gesehen. Sie stellt sich eine dickliche Mittvierzigerin mit dunklem Haar und Brille vor. Eher klein. Ja, klein, rundlich, mütterlich. Zumindest wünscht sie das ihrem Bernhard. Zum Ausgleich.

Während der Bub seinen Kakao schlürft, wäscht Gitta einen Apfel und richtet ein Doppeldeckerbrot, wie Bernhard es nennt, für die Schuljause her. Sie hat Mühe, das Essen im Rucksack zu verstauen, muss zuerst Hefte und Bücher schlichten, zusammengeknülltes Stanniolpapier, verklebte Plastiksackerl und eine Bananenschale entfernen. Nun fällt Bernhard ein, dass er seinen Turnbeutel vergessen hat.

- Lass nur, ich hol ihn. Iss du dein Frühstück fertig.

Task Nummer zwei, das morgendliche Bernhard-Programm. Da darf sie nichts auslassen. Als Gitta zurückkommt, ist Bernhard bereits im Vorzimmer und schließt die Klettverschlüsse seiner Schuhe. Gerade rechtzeitig bemerkt sie, dass er mit dem Turnbeutel in der Hand, aber ohne Schulrucksack auf dem Rücken losziehen will.

- Du Traummännlein.

Sie hilft ihm, in die Schulterriemen zu schlüpfen. Endlich fällt die Tür ins Schloss. Sie hört Bernhard die Treppe hinunterhüpfen und schaut auf die Uhr: zehn vor acht. Ein Rekord. Wenigstens pünktlich wird er heute sein. Es sei denn, er trifft Georg. Dann müssen sie unbedingt die geparkten Autos vergleichen und davon träumen, welches davon sie wohl als Erwachsene besitzen werden.

Noch einmal prüft Gitta ihre Augen. Die Schwellung ist zurückgegangen, allerdings rot sind sie immer noch. Egal, sie muss sich anziehen, darf keinesfalls im Schlafrock herumsitzen. Das wäre ein schlechtes Zeichen. Aber sie hat ja bereits die ersten Aufgaben erledigt, ist aufgestanden, hat das Frühstück gemacht, selbst ein paar Bissen gegessen. Nein, stimmt nicht, die Tablette, die hat sie genommen. Rasch trinkt sie etwas Orangensaft und stopft den Rest Butterbrot, den Bernhard auf seinem Teller liegen gelassen hat, in den Mund.

Nun duschen, hübsch machen, nicht irgendwie aus dem Haus gehen. Sie hat eine Verabredung mit Frau Miklos. Und mit Paul. Würde er merken, wenn sie eine ihrer Aufgaben nicht oder unzureichend erfüllt, etwa nur die linke Körperhälfte duscht? Der Versuch misslingt. Viel zu stark der Wasserstrahl, der aus dem großen Brausekopf schießt. Gitta lacht ins Badetuch. Keine halben Sachen. Her mit der Ausgehuniform!

Vorm Spiegel dreht sie sich um die eigene Achse. Der schwarze Pulli und die enge Hose stehen ihr gut. Allein die roten Augen stören. Hoffentlich glaubt die Lehrerin nicht, sie habe geweint. Was weiß diese Frau über sie? Was hat Paul erzählt, was verschwiegen? Egal. Nicht aufregen! Sie erledigt nur ihre Tasks. Gestern hat sie Bernhard abgeholt, heute marschiert sie zur Lehrerin. Ja, doch. Warum nicht?

Aber bis dahin ist noch etwas Zeit. Gitta geht ins Atelierzimmer und betrachtet die Bilder, die der windige Galerist ausgesucht hat. Jedes mit GH monogrammiert. Ihr Zeichen! Zumindest eines davon müsste einen Abnehmer finden. Auf der Staffelei ihr aktuelles Werk. Gerade begonnen. Sie betrachtet die Umrisse des Kopfes. Ob sie den Verdrüsslichen je fertigmalen wird? Kritisch studiert sie das in Ansätzen vorhandene Porträt. Keine arrangierten Stoffe, Schalen, Schüsseln, keine vertrockneten Blumen, keine kunstvoll angeschälten Zitronen. Nichts als das Abbild einer Kopie, unter Bitten und Betteln aus Pauls Heiligtum geholt. Dass mir der Kopf nicht zu Bruch geht! Auch wenn er bloß nachgemacht ist, ist er was wert! Altenberg, Hofmannsthal und Zeitgenossen haben solche Imitate gesammelt. Gitta inspiziert das verkniffene Gesicht, die geschlossenen Augen, die herabgezogenen Mundwinkel. Seit ihrer Studienzeit hat sie nicht mehr nach einer Plastik gemalt. Ansonsten doktert sie ewig an der Anordnung ihrer Stillleben herum, knüllt Stoffe oder Folien so zurecht, dass sie die gewünschte Wirkung erzielen, tauscht bereits verfaultes gegen frisches Obst aus, sucht lange auf dem Naschmarkt, um die passenden exotischen oder bizarr geformten Früchte ausfindig zu machen. Es sind bewusst gewählte Sujets, die sie beruhigen und ihr gleichzeitig Kraft geben. Doch Porträts? Noch dazu ein so rätselhaftes? Irgendetwas an dem Kopf fasziniert sie, spricht sie unmittelbar an: die zarte Nase, die Schläfenlocken, das Haar im Nacken, so heutig der Schnitt. Viele der anderen Charakterköpfe Messerschmidts stoßen sie ab, dieser nicht. Weil sie ihn kennt? Weil der echte Verdrüssliche ihr einst geholfen hat? Weil seine Kopie zur Wohnung gehört? Zu Paul? Zu Pauls Zimmer mit den ererbten Antiquitäten? Nicht alle sind dort, einige leihweise der Familienstiftung überlassen, andere weiterverkauft. In diesem Business bist du ein Dilettant, ein schlechter noch dazu. Ein weiteres Urteil ihres Schwiegervaters, an Paul gerichtet, nicht an sie, und im Familienkreis ausgesprochen. Keine sonstigen Zuhörer. Vernichtend war es trotzdem. Was für eine Anmaßung! Gut, dass dieser Mensch tot ist. Gitta will nicht an ihn denken. Rasch schlüpft sie in ihre alte Lederjacke und eilt zur Schule.

Als sie das Schultor öffnet, erschrickt Gitta. Im Eingangsbereich eine Frau, die aussieht wie die Lehrerin in Gittas Vorstellung. Ist das ein Trugbild? Gitta blinzelt. Nein, vor ihr steht die kleine, rundliche Frau Miklos, schüttelt Gitta die Hand und führt sie in ein Zimmer in den ersten Stock. Sie muss der Lehrerin schon einmal begegnet sein. Wo kann das bloß gewesen sein? Gitta darf jetzt nicht abdriften. Die Begrüßungsworte hat sie bereits versäumt. Sie zwingt sich zu einem Lächeln. Freundlich hochgezogene Mundwinkel helfen, ihre Unaufmerksamkeit zu überbrücken. Den Muskelzucker hat sie drauf, er ist abrufbar, jederzeit, auch bei Pauls Telefonaten. Er könne ihr Lächeln spüren, behauptet er. Aber das hier ist kein Ferngespräch. Gitta hat ein Gegenüber, schaut in Augen, die sie mustern, sich ein Bild machen. Frau Miklos’ prüfender Blick passt nicht zu dem, was sie sagt: wie sehr es sie freue, Gitta einmal persönlich kennenzulernen, wie wichtig gelegentliche Einzeltreffen seien, dabei können Dinge besprochen werden, die im großen Forum eines Elternabends keinen Platz haben et cetera, et cetera. Gitta versucht, ihre Mimik unter Kontrolle zu halten. Die Wangenmuskeln ziehen wie Stahlfedern an ihren Lippen, verbreitern sie zu einem Lächeln, das wehtut. Sie hört die Lehrerin fragen:

- Was ist mit Ihrem Bernhard los? Er ist ein intelligentes Kind, hat viel Fantasie, und dann diese Leistungen! Ist bei Ihnen zu Hause alles in Ordnung?

Die Federn schnalzen zurück, Gitta schluckt. Bei wem ist schon alles in Ordnung? Sie muss nachdenken, hätte es längst tun sollen, aber da ist die morgendliche Tablette, da sind die Stillleben, da sind ihre Tasks, alle da, um ihr den nötigen Halt zu geben, nicht jedoch, um sie zum Denken zu bewegen. Auf die Tischplatte starrend, die sie und Frau Miklos trennt, meint sie schließlich, dass der Vater selten zu Hause sei, Bernhard dieser vielleicht fehle, sie nicht immer Zeit für ihn habe, aber sonst …

Frau Miklos erzählt von Bernhards traurigen Augen, die träumend aus dem Fenster blicken und nicht auf die Tafel. Von Bernhards klugen Antworten, wenn es um Sachthemen geht. Von seinen großartigen Zeichnungen, den fehlenden Hausübungen, den halbfertigen Schulübungen, den abenteuerlichen Diktatergebnissen.

Gitta fühlt sich schuldig. Sie hat die falschen, die schulisch unbrauchbaren Talente zu verantworten, hat keine nützlichen beigetragen und es vor allem verabsäumt, darüber zu wachen, dass Bernhard die ihm gestellten Aufgaben erledigt. Pünktlich und vollständig. Nicht nur sie hat eine To-do-Liste. Auch ihr Sohn. Vielleicht war es doch keine so gute Idee herzukommen. Sie hätte um eine Verschiebung bitten sollen. Sie muss nicht Zeit haben. Es hätte sicher noch andere Termine gegeben. Und Paul! Betreten, ohne Frau Miklos anzuschauen, flüchtet sie sich in die Erklärung, die irgendwie auf jedes Kind zutrifft:

- Vielleicht protestiert er.

- Wogegen?

- Nicht gegen Sie. Er geht gern in die Schule.

- Wogegen dann?

Gitta überlegt. Was soll sie bloß sagen? Frau Miklos lässt sich nicht abspeisen, sie ist hartnäckig. Dieser blöde Juckreiz in den Augen. Wie soll sie sich da konzentrieren?

- Paul, mein Mann, Sie haben ihn ja bereits kennengelernt, er ist recht spät Vater geworden. Er gehört einer anderen Generation an …

Gitta merkt, dass sie so nicht aus der Ecke kommt, in die sie sich selbst manövriert hat. Deshalb setzt sie rasch nach:

- Nein, das ist es nicht … wie soll ich sagen, er stammt aus einer Familie, für die einzig der Erfolg zählt. Schulische Leistungen sind meinem Mann sehr wichtig.

- Ihnen nicht?

- Schon, aber nicht in … in … dem Ausmaß.

Die Frau Lehrerin fragt etwas ab, das Gitta noch nicht gelernt hat. So oft hat sie sich vorgenommen, die Lektion über Bernhard, Paul und sich selbst, die ganze vertrackte Geschichte durchzunehmen, es aber immer aufgeschoben. Die Müdigkeit. Die Flucht in ihre Bilderwelt, die gemalte und die andere. Doch auch so weiß sie, dass Paul nicht der allein Schuldige ist. Trotzdem will sie dabei bleiben. Leise, wie es Gittas Art zu sprechen ist, fügt sie nach einer Weile, in der Frau Miklos geduldig wartet, hinzu:

- Kann es sein, dass Bernhard seinen ganz persönlichen Kampf mit dem Vater austrägt?

- Diese Frage müssen Sie beantworten, nicht ich. Wie reagiert denn Ihr Mann darauf?

- Ich fürchte, er übertreibt mit seinen Reaktionen.

- Was meinen Sie damit?

- Er ist streng.

- Wie streng?

- Na ja …

- Misshandelt er den Buben?

Gitta ist perplex. Paul macht alle möglichen Fehler, aber sicher nicht den. Sie ist mit ihren Erklärungsversuchen eindeutig zu weit gegangen.

- Wie kommen Sie denn darauf?

- Bernhard zeichnet manchmal seltsame Bilder.

- Was heißt das?

Frau Miklos zieht ein vorbereitetes Blatt aus einer Mappe. Gitta erkennt sofort, dass es sich um eine von Bernhards Zeichnungen handelt. Sie kann darauf nichts Ungewöhnliches entdecken. Eine Wiese voll bunter Fantasieblumen, am rechten Rand hohe Bäume. Die Sonne scheint am sorgsam ausgemalten Himmel, der sogar verschiedene Blauschattierungen aufweist. Ungewöhnlich für einen Siebenjährigen. Toll hat er das gemacht. Ein warmes Gefühl von Stolz überkommt sie. Ihr Bernhard! Auch die Bäume sind schön ausgearbeitet. Aber was ist das? Da steht ja jemand! So dunkelbraun wie die Stämme, kaum von ihnen zu unterscheiden und deshalb umso bedrohlicher. Was sie zuerst für ein Astloch gehalten hat, ist ein großes Auge, das auf die Wiese starrt. Hält es Ausschau? Aber wonach? Frau Miklos tippt mit dem Finger auf eines der größeren Blumenblätter. Nun sieht es auch Gitta: Darunter sitzt kaum wahrnehmbar eine Gestalt, so winzig, dass unklar ist, ob es sich um ein Kind oder Märchenwesen handelt. Aber dass es sich vor dem baumgroßen Ungetüm versteckt, ist unschwer zu erraten. Die Lehrerin legt ihr noch andere Zeichnungen vor. Von Häusern, Straßen, Gärten, Flugzeugen und Autos.

- Ich habe die zwei auch nicht sofort bemerkt, vor allem nicht das versteckte Kind, aber jetzt, wo ich weiß, wonach ich suchen muss, sehe ich sie immer wieder. Nicht auf allen Zeichnungen, aber doch auf ungewöhnlich vielen. Ich habe sie der Psychagogin gezeigt …

- Sie haben was?

Gittas Stimme kippt. Bloß nicht hyperventilieren! Bernhard ist doch kein Psycho-Fall. Er ist ein Kind, ein verträumtes. Nichts weiter.

- Beruhigen Sie sich. Das ist nur unsere Beratungslehrerin, eine Art interne Schulpsychologin. Ich habe sie beigezogen, weil ich Ihrem Bernhard helfen will.

Gitta atmet bewusst aus und ein, aus und ein, so wie sie es in den Therapiesitzungen gelernt hat. Sehr gut, Frau Hausladen.

- Und was hat … was hat die Psycho…, Psychoberaterin gesagt?

- Sie ist sich nicht sicher. Wenn ich Bernhard frage, warum er die beiden zeichnet, zuckt er mit den Schultern oder aber erzählt mir, dass sich das Kind vor einem bösen Trapper versteckt.

Natürlich, das ist es! Dass sie nicht gleich daran gedacht hat.

- Mein Mann liest ihm Karl May vor. Er hat alle Bände.

- Ich weiß, Bernhard hat der Klasse schon von Winnetou und den Apachen erzählt. Es kann durchaus sein, dass er das Gehörte so verarbeitet.

Freilich kann es das sein. Und wenn nicht?

VI.

Das Warum. Fragt ihr nicht auch zuweilen danach? Ja? Nein? Wispert nicht dauernd. Sagt laut, was ihr denkt.

- Jaaaaaaaa.

Chapeau, Belisarius. Für zerknüllte Nachrichten von vorvorgestern nicht schlecht. Nenn mir ein Beispiel.

- Warum missmutig? Warum aus dem Wasser gerettet?

Wovon redest du?

- Von unseren Nachfolgern.

Von wem?

- Von denen, die Carl angekündigt hat.

Ach so, die Kameraden, dero Namen. Sie stammen nicht vom Meister. Er gab uns keine. Wir waren nichts als seine Kopfstücke, namenlos, doch mit außergewöhnlichen Kräften ausgestattet. Lacht nicht, ihr werdet schon sehen. Der Meister hatte auch Perücken mit besonderen Eigenschaften. Die meinige setzte er stets auf, wenn sich Ungemach durch Nackenschmerzen ankündigte. Sobald er die Geister herannahen spürte, versperrte er das Haus und traf seine Vorkehrungen. Da konnten die Gehülfen oder Auftraggeber noch so sehr Einlass begehren. Die Tür blieb verschlossen. Der Meister musste sich wappnen, ohne Zuschauer, dafür mit uns, seinem Freikorps gegen den Feind. Niemand sonst sollte ihn so sehen, wie wir ihn sahen. Unser Meister war ein tapferer Mann. Er hatte den Kampf mit dem Bösen aufgenommen, lange bevor ich in sein Bataillon eintrat. Mit mir setzte er ihn bloß fort. Meine Brüder und ich waren der Beweis, dass er die hinterhältigen Angreifer beherrschte und nicht sie ihn.

- Was hat das mit den Namen zu tun?

Ach, Belisarius, unterbrich mich nicht dauernd, wenn ich gerade so schön im Erzählen bin. Die Namen. Sie bekamen wir später, als wir mit Herrn Strunz nach Wien gezogen waren. Damals gab es unser nur noch 49. Die anderen hatte der Meister zerschlagen. Aus Wut. Aus Verzweiflung. Diese Gemütsschwankungen. Ausgelassenheit und Trübsinn, so nah beisammen. Doch zur Zeit unserer Übersiedlung waren sie nichts als Erinnerung. Nahezu zehn Jahre hatten wir tatenlos zugebracht, von einigen wenigen Scherzen einmal abgesehen, und nun sollten wir weg von Preßburg. Doch würde unsere Mission je zu Ende sein? Wegen einer dummen Verkühlung, die sich auf die Lunge geschlagen hatte, war der Meister im Augusto Anno Domini 1783 verstorben. Ilona war untröstlich gewesen. Die Preßburger Zeitung veröffentlichte einen wunderschönen Nachruf, aber nicht allein in dem lokalen Blatt wurde er gewürdigt, auch die Wiener Zeitung tat desgleichen. Ach, hätte unser Meister das erlebt! Wien gedachte seiner. Und 1785 erschien im Musenalmanach sogar ein Gedicht auf ihn. Hört nur:

Unter diesem Leichenstein

Liegt ein Künstler – todt? ach; nein!

Todt wird dieser Man nie sein!

Ruhe selig, sein Gebein.

Messerschmid war einst sein Nam,

Schnitzte, wo er ging und kam,

Gos zentausend Frankens werts,

Seines Kopfes Form in Erz.

Eines Meisters würdig, nicht wahr!

- Viel zu schwülstig.

Vielleicht, Belisarius, aber voll der Bewunderung. Der Meister wurde geschätzt und wird es bis heute, sonst stünde ich nicht hier und wäre davor nicht in den edelsten Häusern gewesen. Um mich haben sich die Leute gezankt. Aus Liebe oder was sie dafür hielten. Ich sage euch, die Liebe lässt die Menschen höchst sonderbare Dinge tun. Ohne sie wäre ich gar nicht erst entstanden. Ich bin eine einzige Liebesgeschichte. Deshalb rühren mich Menschen, die lieben, echt lieben, so wie Carl seine Frau und Töchter. Er ist ein einfacher Mann. An einfachen Leuten ist nichts Falsches, weil sie es nicht verstehen, falsch zu sein. Zur Verstellung gehört Grips, auf Dauer sogar sehr viel davon. Nein, Belisarius, das meine ich nicht. Carl ist nicht dumm. Er bemüht sich sogar sehr um Wissen, will mithalten mit seinen Töchtern, um sie nicht zu verlieren. Das ist überhaupt einer der schönsten Wesenszüge an ihm.

- Die Namen!

Ach, sei doch nicht so ungeduldig! Die Namen sind unwichtig. Warum interessieren sie euch gar so sehr? Ihre Genesis ist nicht der Rede wert. Glaubt mir. Ich könnte von wesentlich interessanteren Begebenheiten berichten. Aber gut, wenn ihr unbedingt wollt. Ich mache es kurz. Grins nicht, Belisarius! Auch ich kenne den Spruch, dass in der Kürze die Würze liegt, aber zu viel Würze verdirbt den Geschmack. Deshalb muss man Speisen zuweilen strecken. Darin war Ilona eine Meisterin, doch von Ilona wollt ihr ja nicht hören. Ihr bevorzugt Mister Strunz, der uns im Jänner 1792 von des Meisters Nichte kaufte. Sie war froh, uns Fratzen loszuwerden. So kamen wir zu Franz Friedrich Strunz, einem wohlhabenden Traiteur, der von Preßburg nach Wien zog, dort ein Weinlokal in der Nähe des Kärnthnerthors eröffnete und auch mit uns ein Geschäft zu machen gedachte. Money. Das kennt ihr, steht genug davon auf euren Zeitungsköpfen. Deshalb brauchte er Namen. Skulpturen auszustellen und sie nicht zu benennen, das ging nicht zusammen. Er gab sich redlich Mühe. Wochenlang inspizierte er uns von allen Seiten, murmelte vor sich hin, schrieb auf, strich durch, beriet sich mit Freunden, ja sogar mit betrunkenen Gästen, weil im Wein angeblich die Wahrheit steckte, und entschied sich zumeist nur widerstrebend für eine Bezeichnung, weil ihm nichts Passenderes einfiel oder geboten wurde. In der Broschüre zur Ausstellung, die er 1793 in einem Raum über seinem Lokal im Bürgerspitalhaus zu Wien ausrichtete, bat er sogar inständig darum, ihm Vorschläge für neue Namen zu unterbreiten, aber es wurden keine gemacht. Und so heißen wir noch heute, wie Strunz uns benannt hat.

Er hatte indes keine Ahnung, wer wir waren und warum es uns überhaupt gab. Hätte er nach dem Warum geforscht, wären wir mit wesentlich passenderen Namen versehen worden. Ein aus dem Wasser Geretteter – Just Rescued from Drowning! Ich bitte euch, was soll das bedeuten? Etwa, dass sie dem Meister die aus der Donau Gefischten in die Werkstatt zum Porträtieren brachten? Hier Meister Messerschmidt, ein besonders schönes Exemplar, frisch aus dem Fluss geholt. Ja, der Mann lebt noch, aber ihn trocknen und laben werden wir itzund nicht. Zuvörderst wird er in Stein gemeißelt. Bitte, Meister, beginnet! Das ist doch Humbug! Der Alabasterbruder mit den Zotteln, die Strunz für nasses Haar hielt, ist ein Abbild des Meisters mit zugegeben kurioser Perücke, die er immer dann aufsetzte, wenn die kleinen Geister ihn bloß ein wenig kitzelten, nicht wirklich arg bedrängten. Er gefiel sich mit diesen zipfeligen Haaren, kniff aber dann doch die Augen zusammen, im Glauben, den Bösewichten so weniger Angriffsfläche zu bieten. Mit Wasser oder gar Ertrinken hat der Waffenbruder, der bald anreisen wird, nicht das Geringste am Hut, pardon, an der Perücke. Und erst mein Name! Er ist aus purer Verlegenheit entstanden. Strunz hatte bereits den Zinnsoldaten, der ebenfalls bald kommen wird, als Mismuthigen bezeichnet und musste sich für mich etwas anderes einfallen lassen. So steht auf meinem Sockel Der Verdrüssliche – The Vexed Man, obwohl ich doch gar nicht verdrüsslich bin. Sagt selbst!

1 339,67 ₽
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Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
Объем:
493 стр. 6 иллюстраций
ISBN:
9783839267226
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