Читать книгу: «Der Verdrüssliche», страница 7

Шрифт:

XIV.

Wie bedrückt Carl schon wieder war. Gestern hatte ich noch gedacht, sein Trübsinn wäre einer kleinen Grille geschuldet. Mein armer Freund. Hoffentlich achtet er auf den Verkehr und kommt heil nach Hause. Eine gute Stunde ist er unterwegs. Wenn er mir am nächsten Tag von den Staus erzählt, tut er sie mit einem Achselzucken und einem gemurmelten tough luck ab. Dieser sanftmütige Mensch. Wenn ihm etwas zuwiderläuft, sieht er für gewöhnlich darüber hinweg. Oder er leidet still. Zu still.

- Man muss nicht über alles reden.

So, so, Mister Quality Paper. Was steht denn auf Ihro Stirn? Schon seit geraumer Zeit rätsle ich. Ten hot … who destr… their loo… …stic surge… Ich glaube, ich kenne die Lösung. Zuerst dachte ich an ten hot actresses, aber das wäre für eine Headline in der seriösen Los Angeles Times doch zu einseitig. Ten hot celebrities passt schon eher. Es können ja trotzdem zehn Dämchen sein. Der Rest war dann kein Problem. Ten hot celebrities who destroyed their looks with plastic surgery. Stimmt’s? Diese Meldung über die Verschandelung von Promis durch Schönheitschirurgie ist doch gewiss etwas, worüber geredet werden muss, nicht bloß Schwarz auf Weiß, sondern, wenn ich es recht sehe, sogar mit bunten Fotos.

Ich weiß, der Herr geben es nicht gerne zu, doch dieser Punkt geht an mich.

Versteht ihr denn nicht, dass ich mir wegen Carl Sorgen mache? Kein Plausch. Kein Lachen. Einzig die Grußformel. Zudem hat Carl heute den Feuchtemesser nicht überprüft. Das ist, seit ich hier bin, noch nie geschehen. Was mag wohl der Grund sein? The why.

Sarena? Was für ein Sprung vom bescheidenen Heim in Compton zur University of California. Neue Umgebung, neue Menschen, auch wohl neue Freunde. Der Weg ist weit, aber nicht fremd, sind doch die UCLA und unser Museum in benachbarten Vierteln. Nun überwinden die Eltern gemeinsam mit Sarena die vielen Meilen, setzen sie am Campus ab, ehe sie hierherfahren. Aber immer öfter nimmt Sarena Metro und Bus. Weil sie sich für die Eltern geniert? Fürs alte Auto? Wenn Carl von seiner old lady spricht, weiß ich zuweilen nicht, ob Prescence oder der Ford F-150 gemeint ist. Sarena. Wenigstens beeindrucken konnte Carl sie mit meiner Geschichte. Wer kennt schon Landok. Ihr Pappköpfe?

- Nie gehört.

Dacht ich’s mir. Landok in der Gespanschaft Zips war ein Castel der lusinskyschen Familie unten am carpathischen Gebirge. Dort wurde Alabaster gebrochen. Einer dieser Gesteinsbrocken war ich. Das ist lange her. Es gab keine Automobile, dafür Ochsen- und Pferdefuhrwerke, die nicht von traffic jams am Weiterkommen gehindert wurden, sondern von gebrochenen Deichseln, störrischen Zugtieren oder bis zur Bewusstlosigkeit betrunkenen Fuhrknechten. In einem solchen Karren, vor den zwei träge Ackergäule gespannt waren, die sich vom Kutscher weder durch Fluchen noch durch Peitschenknallen aus dem einmal gewählten müden Trott bringen ließen, kam ich nach mehreren Tagesreisen vom Zipser Komitat zu einem Händler nach Preßburg, der die gesamte Ladung übernahm. Er zeigte auf ein erlesenes Stuckh, befahl einem Gesellen, dasselbe auf einen Leiterwagen umzuladen, und einem Buben, damit zum Meister zu fahren. Schon allein an der Art, wie er das Wort ›Meister‹ aussprach, erkannte ich noch unbehauener Bauernschädel – das erlesene Stuckh war natürlich ich, who else –, dass es sich dabei um einen besonderen Mann handeln musste. Genau das war er, und das weiß ich aus erster Hand, Mister Belisarius Los Angeles Times. Er hat mich zu dem gemacht, der ich heute bin. In seiner Werkstatt.

Akkurat dorthin brachte mich der rachitische Bube. Über holprige Wege und bucklige Gassen ging es zu einem stattlichen Haus an einem Platz, der sich Grüner Markt nannte. Mit seinen mageren Fäusten hämmerte der Kleine gegen das Tor und wartete, bis ein properes Weibsbild mit üppig unter einem Häubchen hervorquellendem Haar öffnete und ihn hieß, mich in die Werkstatt zu tragen. Belustigt sah sie zu, wie er sich abmühte, mich aus dem Leiterwagen zu heben. Erst als ich dem Jungen aus den Ärmchen zu fallen drohte, half sie, mich in den hinteren Teil des Hauses zu schleppen. In einem großen Raum, wo Gestein in vielerlei Gestalt auf Werkbänken oder auf dem Boden lag, stellten sie mich in einer Ecke ab. Schüchtern hielt ihr der Bub seine geöffnete rechte Hand hin. Sie lachte und meinte, dass wohl mehr sie als er gearbeitet hätte, aber wenn er ihr hülfe, die zwei Schock Eier in die Vorratskammer zu bringen, dann würde er schon etwas kriegen.

Da war ich nun und beileibe nicht allein. Neugierig beäugten mich meine Zipser Brüder aus Oberungarn, aber auch entferntere Verwandte aus Niederungarn, Galizien, Salzburg, Tirol und der Toskana. Wir sind eine weit verbreitete Sippe. Uns findet man überall dort, wo Meere in isolierten Becken verdunstet oder sulfidische Erzlagerstätten durch Oxidation verwittert sind. Ach, wie töricht! Von der Oxidation habe ich Carl nichts erzählt. Das muss ich unbedingt nachholen. Mit dem Wissen kann er Sarena nicht bloß beeindrucken, sondern geradezu verblüffen. Er braucht das. Stolz sein auf die Kinder, das will ein Vater durchaus, sich unterlegen fühlen, das will er just nit. Freiherr von Szegety konnte höchst unangenehm werden, wenn seine Söhne ihm über den Kopf zu wachsen drohten. Trotzdem musste er sich schließlich fügen.

Pardon, ich bin schon wieder abgeschweift. Und dabei erzähle ich mit Vorlieb von meiner Ankunft in Preßburg anno 1780. Wo bin ich stehengeblieben?

- Bei der Verwitterung.

Danke, Belisarius. Du hörst zu. Erstaunlich. Vielleicht ist das der Beginn einer wunderbaren, allerdings kurzen Freundschaft. Ich habe so viel erlebt, dass deiner Los Angeles Times die Seiten ausgehen würden, wollte sie über mich schreiben. Ich stamme nicht nur aus der Alten Welt, ich selbst bin Jahrmillionen alt.

- Ich dachte, du wurdest im 18. Jahrhundert geschaffen.

Richtig, als Kunstwerk stamme ich aus dieser Zeit, indes der Stein, aus dem ich gehauen wurde, zählt einige Lenze mehr. Schon im Gilgamesch-Epos ist von ihm die Rede. Von seinem Glanz, seiner außergewöhnlichen Schönheit. Neben dem Speckstein ist Alabaster das älteste Bildhauermaterial der Menschheit, der Gyps der Götter. Skulpturen allerersten Ranges sind daraus gefertigt. Wir sind exzeptionell. Bloß etwas heikel. Im Freyen verlieren wir an Aussehen. Genau wie ihr, allerdings dauert dieser Prozess bei uns etwas länger.

Lasst mich nun aber zurückkehren zum Meister, zur Werkstatt. Obzwar abgelegt in einer Ecke, ward ich beileibe nicht allein.

- Das hast du schon gesagt.

Richtig. Ich muss nur den Faden dort wieder aufnehmen, wo ich ihn fallengelassen habe. Von meinem dunklen Winkel aus suchte ich das Gespräch mit den meinigen. Lach nicht so hämisch, Belisarius! Ich weiß, was sich gehört. Ich stellte mich vor, wählte zu Beginn allerdings das falsche Gegenüber, die blasierte Base aus Csővar, die sich weiß Gott was einbildete, dass der Felsen, aus dem sie gebrochen ward, ein altes Schloss trug. Ich bitte euch! Auch bei uns in Landok gab es herrschaftliche Anwesen. Deshalb halte ich mich noch lange nicht für etwas Besonderes. Was?

- Hat die Base gelogen?

Nein. In Csővar war tatsächlich ein Schloss direkt über dem Steinbruch, aber das gab ihr noch lange nicht das Recht, so fürnehm zu tun und mir die kalte Schulter zu zeigen. Wer war sie schon? Ein weißer Steinbrocken. Sonst nichts. Meine edlen Vettern aus der Toskana hätten weitaus mehr Grund gehabt, hochnäsig zu sein, waren sie doch von ausnehmend schöner Färbung. Zu meiner Überraschung erwiesen sie sich als äußerst mitteilsame Gesellen.

- Wie du.

Du sagst es, Belisarius. Wie ich. Sie waren zudem mit welschem Temperament ausgestattet. Ihre Zoten. Dio mio! Nichts für euch. Da sei die political correctness vor. Mit den Toskanern war die Unterhaltung nicht nur höchst vergnüglich, sondern auch aufschlussreich. So berichteten sie, dass sie als Nachbildungen antiker Statuetten auf die Burg ziehen würden, wo Albert von Sachsen-Teschen residierte. Zu diesem Zeitpunkt wussten sie noch nicht, dass er in Bälde zum Generalgouverneur der Österreichischen Niederlande ernannt werden und fortgehen sollte. Er ward wohlgelitten. Als er und seine durchlauchtigste Gemahlin in Preßburg einzogen, wurden sie von Abordnungen aus allen Landesteilen begrüßt. War das eine Pracht! Das edle Zaumzeug der Pferde, die pelzverbrämten Umhänge …

- Die reich verzierten Kutschen, die Fahnen, bla, bla, bla.

Was, das habe ich schon erzählt?

- Ja, und es interessiert uns auch nicht.

Aber wenn ihr nichts hören wollt, warum entriere ich überhaupt ein Gespräch?

- Das fragen wir uns schon die ganze Zeit.

So, so.

Banausen, undankbare Bande! Nehmt euch ein Beispiel an Carl. Er unterbricht mich nie, lauscht vielmehr konzentriert, möchte, dass ich ihm etwas beibringe, ihr hingegen, aber was kann man von kleisterdurchtränktem Zeitungspapier schon erwarten. Verstopfte Ohren, verklebte Sicht!

- Na komm schon, erzähl.

- Ja, bitte.

- Sonst platzt du noch aus deinen Falten.

- Das können wir nicht verantworten.

Nun gut, ich kontinuiere, aber glaubt bloß nicht, dass ich die Ironie in euren Bitten um Fortsetzung überhört habe. Vielleicht bleibt doch etwas hängen und ihr könnt es weitergeben, bevor ihr endgültig entsorgt werdet. Ihr überlebt euch rasch. Ich nicht.

- Der Punkt geht an dich.

Vortrefflich, Mister Belisarius. Ihro Gnaden lernen pfeilschnell.

Die Werkstatt. Die rege Unterhaltung, nicht bloß über Albert von Sachsen-Teschen, den Schwiegersohn Maria Theresias. Aber der Name der allerhöchsten Frau dürfe in des Meisters Gegenwart keinesfalls erwähnt werden, bloß nicht, warnten mich die Vettern aus dem Welschland. Das hätte einen seiner gefürchteten Tobsuchtsanfälle zur Folge. Maria Theresia, die Kaiserin, ja damals herrschte eine Kaiserin – das beeindruckt euch, was? – hatte den Meister gekränkt, zuerst damit, dass sie ihn nicht zum Leiter der Wiener Akademie der bildenden Künste ernannt hatte, und, dem nicht genug, dann noch mit dem Angebot, ihm eine Pension von jährlich 200 Gulden zu zahlen. Messerschmidt habe dieses lächerliche Angebot natürlich abgelehnt, es als Invalidenrente bezeichnet, derer er nicht bedürfe, fügte die Toskana-Runde hinzu. Er lasse sich nicht abspeisen, er könne und werde weiterarbeiten.

Nun ja, mischten sich meine Zipser Geschwister ein, etwas krank sei der Meister schon. Immer wieder klage er über Schmerzen im Unterleib und in den Schenkeln. Zuweilen leide er an Verwürrung im Kopfe. Nur weil er dieser Tage fidel sei und viel ausgehe, bedeute das noch lange nicht, dass er nicht wieder brüllend durchs Atelier irren oder sich hinter seinen Kopfstücken verschanzen würde. Angesichts der Plagegeister dürfe einen das nicht Wunder nehmen. Eine hinterhältige Horde sei das, die den Meister mit Gesichtskrämpfen quäle, sodass er oft nicht einmal die Augen offen halten könne.

Just in diesem Moment wurde die Tür aufgerissen und ein hübsch mit rotem Wams, Spitzenjabot, seidenen Hosen und Gamaschen gekleideter Herr trat ein. Er sah wohlgenährt und keinesfalls krank aus, bloß die Perücke saß etwas schief, als ob er sie achtlos wie einen Umhang übergeworfen hätte. Er lachte, tätschelte meine Brüder, murmelte etwas von sieben Medaillons und eilte wieder hinaus, ohne mich, das schöne Stuckh, eines Blickes gewürdigt zu haben. Warum mussten mich die dumme Gans und der rachitische Zwerg in diese dunkle Ecke placieren! Die Zipser beruhigten mich. Sie erklärten, dass der Meister beim Freiherrn von Bittenthal gespeist habe und sich itzo wohl zur Ruhe begeben, danach aber gestärkt in die Werkstatt kommen und mich sicher bemerken werde.

So war es denn auch, aber viel mehr als eines Blickes war ich ihm, der in den alten grauen Beinkleidern, dem fleckigen Schurz und ohne Perücke kaum wiederzuerkennen war, nicht wert. Er hob meine eingebildete Base auf die Werkbank beim Fenster und begann, sie mit Schlageisen und Fäustel zu traktieren. Sie ist rein weiß, hat nicht unseren gelblichen Einschlag, seufzten die Zipser. Dafür wird sie das langweilige Leben von Bildmedaillons führen, während wir beim Meister bleiben und kämpfen dürfen. Du wirst sehen, auch dich wird er in sein Bataillon aufnehmen!

Interessiert inspizierte ich meine Brüder: Eine Kampftruppe stellte ich mir anders vor. In Reih und Glied standen sie, ja, aber ohne Arme, Rumpf und Beine, bloß Köpfe mit verkniffenen oder aufgerissenen Mäulern, faltigen Hälsen und zumeist geschlossenen Augen. Wen sollten sie so in die Flucht schlagen? Auch die Verstärkung durch andere Büsten aus Holz oder Zinnguss machte es nicht besser. Und die paar wenigen freundlichen Gesichter unter ihnen schon gar nicht.

Warte nur ab, meinte einer der Krieger und grinste mich an.

XV.

Erschrocken starrt Carola auf die Uhr. Schon neun! So lange hat sie seit Monaten nicht mehr geschlafen. Selbst Jarolims Proteste muss sie überhört haben. Carola betastet die Narben und ihre magere Bauchdecke. Alles wie immer. Ein bisschen Ziehen, aber keine Schmerzen. Irgendwo darunter lauert das Ungeheuer. Soll es doch. Sie hat anderes zu tun. Zuerst einmal Jari füttern. Mit Stufe drei seiner Mitleidsmasche empfängt er sie: kummervoll geweitete Augen und nahezu unhörbare Klagelaute. Das herzzerreißende Miauen und das Kratzen an der Tür muss sie verschlafen haben. Mein armer Jari! Sie nimmt die Jammergestalt hoch und geht in die Küche. Dort setzt sie den Kater ab und sucht unter den Futterdosen seine Lieblingssorte heraus: Thunfisch. Den Leckerbissen bekommt er nur an besonderen Tagen. Wegen der Fangquoten. Jarolims Thunfischkonsum ist streng rationiert. Heute ist zwar kein besonderer Tag, dafür hat Stufe drei voll gewirkt. Du berechnender Gauner, tadelt Carola, während Jarolim sich schon vor dem Absetzen des Fressnapfes aufs Futter stürzt. Sie muss aufpassen, dass er nicht ihren Daumen erwischt.

Hänsel und Gretel verliefen sich im Wald. Es war so finster und auch so grimmig kalt. Sie kamen an ein Häuschen von Pfefferkuchen fein, wer mag der Herr wohl von diesem Häuschen sein?

Während sie das Kinderlied vor sich her trällert, tänzelt Carola ins Bad. Herrlich! Sie ist ausgeschlafen, kein bisschen müde und bereit für einen ereignisreichen Tag. Davon wird sie kein Krebs, auch kein körperbehinderter Kater abhalten. Sie hat eine Aufgabe: Grete Wasserscheidt.

Nachdem sie von den im Übermut aufgebackenen zwei Semmeln sogar rekordverdächtige eineinhalb gegessen und pflichtbewusst den gesundheitsfördernden Tee getrunken hat, fährt Carola den Laptop hoch und gibt Grete Wasserscheidt in die Suchmaschine ein. Sie probiert verschiedene Schreibweisen, Wasserscheid, Wasserscheit, obwohl sie sich sicher ist, dass dt stimmt. Nichts. Nach Google versucht sie es mit Yahoo, Bing, AOL. Auch hier nichts. Wie hieß bloß der Schulwart mit Vornamen? Herr Wasserscheidt, dürfen wir neue Kreiden haben? Bitte, Herr Wasserscheidt, können Sie den Turnsaal aufsperren? Herr Wasserscheidt, vor der Schule hat der Wind einen Ast geknickt. Der gehört abgeschnitten, hat die Frau Professor gesagt. Immer Herr Wasserscheidt, nie ein Vorname. Es ist doch gar nicht sicher, dass er mit der Gesuchten überhaupt verwandt oder verschwägert war, nur so verbreitet ist der Name auch wieder nicht. Dass ihr das nicht schon damals auffiel, nachdem Wilfried den Beleg hervorgekramt hatte. Für sie war Wasserscheidt bloß ein Name, den sie mit einem fahrigen Schulwart verband, der kaum je gesprochen hatte, und wenn doch, dann war es ein unverständliches Gemurmel gewesen. Nie hatte er einen angesehen, war immer mit gesenktem Kopf durch die Gänge geschlurft. Sie war dem Mann stets ausgewichen, nicht etwa, um einen Zusammenstoß zu vermeiden, sondern wegen des eigenartig strengen Geruchs, der von ihm ausgegangen war. Dass die in Wilfrieds prägnanter Schrift festgehaltene Grete Wasserscheidt etwas mit dem Schulwart zu tun haben könnte, daran dachte sie damals nicht. Ob einer der beiden Wasserscheidts noch lebt? Unwahrscheinlich, sonst wären die Suchmaschinen im elektronischen Telefonbuch fündig geworden.

Die Frau Professor hat gesagt, der Ast gehört abgeschnitten. Die Frau Professor. Beim letzten Maturatreffen, zu dem Carola wegen der runden Zahl ausnahmsweise hingegangen war, wurde doch erzählt, dass von allen Lehrkräften der Klasse nur noch eine lebte und gerade erst ihren 90. Geburtstag gefeiert hatte: Frau Professor Dirkmann. Deutsch und Geschichte. Carola erinnert sich an eine zarte, stets sorgsam gekleidete Frau mit ungewöhnlich kurzem Haarschnitt, der im Widerspruch zu Dirkmanns braven Röcken und Blusen stand. Bei Dirkmann hörte Österreichs Geschichte mit dem Ersten Weltkrieg auf, was damals üblich war, doch in Deutsch nahm sie auch Gedichte von Franz Werfel, Erzählungen von Arthur Schnitzler und, wenn sich Carola recht erinnert, sogar ein Stück von Bertolt Brecht durch, was sicher nicht im Lehrplan vorgesehen war. Überhaupt hat die Dirkmann den Geschichtsunterricht eher heruntergespult, während sie in Deutsch immer wieder nachbohrte, ob denn ›die Damen‹ schon Oskar Werner als Hamlet gesehen oder etwas von der Wiener Gruppe gehört hätten. Da war Carola die Einzige, die zuweilen aufzeigte. Diese außerschulische Bildung hatte sie ihrer belesenen und theaterbegeisterten Mutter zu verdanken.

Ohne viel Hoffnung, das Maturajubiläum ist immerhin bereits fünf Jahre her, sucht Carola nach Dirkmann im elektronischen Telefonbuch. Obwohl sie wieder keinen Vornamen weiß, erkennt sie sofort, wer unter den Dirkmanns ihre alte Professorin ist: Dirkmann Johanna, Dr. In der Prater­straße wohnt sie. Das ist ja nicht weit von hier. Hingehen und klingeln? Eine Greisin einfach so überfallen, das gehört sich nicht. Sie muss vorher anrufen, doch womöglich ist die alte Dame schwerhörig oder es hebt eine rumänische Pflegerin ab, die sowieso nicht versteht, was Carola will. Trotzdem. Aus Höflichkeit muss Carola eines der ungeliebten Telefonate führen. Blöder als bei Toni wird sie sich schon nicht anstellen. Sie wählt die angegebene Festnetznummer.

- Dirkmann.

Die Stimme klingt fest. Sie könnte auch einer viel jüngeren gehören.

- Guten Tag. Hier spricht Carola Broggiato.

- Ah, die Tochter von Carlo Broggiato, dem Architekten der Miesbach-Villa.

Carola ist verblüfft. Die Dirkmann antwortet, als wäre dieser Anruf einer ehemaligen Schülerin, die nie mit ihr Kontakt gehalten hat, normal. Und dann sofort die Bezugnahme zu Carolas Vater. Er ist doch bloß ein paar Insidern geläufig, wenn überhaupt.

- Carola, bist du noch dran?

- Ja. Woher kennen Sie meinen Vater?

- Bitte siez mich nicht, wir sind doch seit eurem Klassentreffen 1987 alle per Du. Bei deinem Werdegang, liebe Hofrätin, bist du zudem mehr als bloß auf Augenhöhe mit mir.

Carola will nicht schon wieder vor Erstaunen verstummen oder darauf hinweisen, dass sie 1987 nicht dabei war, deshalb hakt sie rasch nach:

- Woher wissen Sie, pardon, woher weißt du das alles?

Ein schallendes Gelächter ist die Antwort, das nur gegen Ende bricht und die uralte Frau verrät, die es angestimmt hat.

- Ach Kinderl …

Von wegen Augenhöhe!

- … wenn du so wie ich jahrein, jahraus die Gesichter vor dir gehabt, im Klassenbuch Eintragungen gemacht, Hausübungen und Schularbeiten korrigiert und zahllose Maturatreffen besucht hättest, dann wäre auch bei dir viel hängengeblieben. Selbst wenn ich vollkommen dement wäre, würde ich noch die Namen aller Schülerinnen und später Schüler nach Klassen geordnet und in alphabetischer Reihenfolge aufsagen können. Und so manchen familiären Hintergrund dazu. Als Deutsch-Professorin erfährst du viel, vor allem von den Kleinen. Aber bei dir war das anders.

- Wieso?

- Ich bin in Döbling gleich neben den Miesbachs aufgewachsen und habe den Baufortschritt beim neuen Haus gespannt verfolgt.

- Warum haben … hast du mir das nie gesagt?

- Hm …

Frau Dr. Dirkmann zögert. Wegen Vater?

- … als ich euch unterrichtete, habe ich noch versucht, mir durch Distanz Respekt zu verschaffen.

- Aber für uns waren doch alle Lehrkräfte Autoritäten, gegen die wir nicht aufmuckten.

- Ja, schon, nur ich war neu an eurer Schule und musste mich erst beweisen. Das tat ich, indem ich Abstand hielt.

Carola spürt, dass das nicht die ganze Wahrheit ist, bohrt jedoch nicht weiter. Vielleicht erfährt sie mehr, wenn sie Johanna Dirkmann direkt gegenüber sitzt. Himmel, sie hat ja noch gar nicht den Grund ihres Telefonats genannt!

- Verstehe. Übrigens, mein Anruf hat auch mit der Schule zu tun.

Ein gedehntes Ja ist Dirkmanns Reaktion, genau in dem Tonfall, den sie anschlug, wenn Schülerinnen bei der Beantwortung einer Prüfungsfrage ins Stocken geraten waren. Es ist bloß ein vages Gefühl, das Carola veranlasst, den Namen Wasserscheidt nicht zu erwähnen und neutral zu fragen, ob sie einmal persönlich vorbeischauen dürfe. Egal, wann. Die Antwort überrascht sie erneut:

- Wie wär’s mit heute Nachmittag, aber du musst etwas mitbringen.

- Was?

- Ein Stück Esterhazy-Torte vom Heiner.

Бесплатный фрагмент закончился.

1 339,67 ₽
Жанры и теги
Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
Объем:
493 стр. 6 иллюстраций
ISBN:
9783839267226
Издатель:
Правообладатель:
Автор
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают