Читать книгу: «Der Verdrüssliche», страница 6

Шрифт:

XII.

Gitta knallt die Tür hinter sich zu, schleudert ihre Handtasche in die eine Ecke, die Schuhe in die andere Ecke des Vorzimmers. Da geht sie extra zur Hebel, will neu eingestellt werden, und diese Ziege lächelt bloß, meint, es wäre alles in Ordnung. Hin und wieder ein kleiner Ausrutscher – Ausrutscher, hat sie gesagt, so als ob Gitta keinen geraden Schritt machen könnte –, das wäre kein Malheur. Es ist aber eines! Gitta keucht, ihr Brustkorb schmerzt, weil das Herz so sehr dagegen hämmert. Und dabei ist sie bloß zur Psychiaterin gegangen, nicht gerannt, doch genau das wird sie demnächst tun, richtig trainieren, damit sie einen Grund hat, erschöpft zu sein. Körperlich, nicht seelisch. Diese Psychiaterinnen, Psychologinnen, Therapeutinnen, und wie sie alle heißen, sitzen da, schauen dich oder deine Zeichnungen an und ziehen die blödesten Schlüsse. Sie hat das satt, so was von satt!

Im Spiegel sieht sie eine vornüber gebeugte Gestalt, die Hände auf den Oberschenkeln abgestützt. Breitbeinig steht sie da wie eine ausgepumpte Leichtathletin im Zielbereich. 20 Minuten für ein paar Häuserblocks. Lächerlich. Was kann man schon von einer Schnecke erwarten? Richtig! Schneckentempo. Mehr nicht. Das nächste Mal wird sie die Strecke in einer besseren Zeit zurücklegen. Am liebsten würde Gitta erneut losrennen, um das Vorhaben augenblicklich umzusetzen, aber es ist schon fünf. Bald wird Bernhard zurück vom Fußballspielen kommen. An so viel muss sie denken. Morgen könnte sie doch, gleich nach dem Frühstück, während Bernhard in der Schule ist. Nein, da werden die Bilder geholt. Die Bilder! Sie muss sie noch einmal durchsehen. Schließlich ist sie die Künstlerin. Genau. Sie hat etwas mitzureden bei der Auswahl, nicht nur Ivo Ungemach.

Gitta streckt den Rücken und schüttelt die Beine. Immer noch fühlt es sich an, als ob sie einen Wettkampf hinter sich hätte, nicht gewonnen, nicht haushoch verloren, bloß verausgabt im Pulk über die Ziellinie gelaufen. Dort ist ihr Platz. Die Ausstellung wird nichts daran ändern. Ob und was in diesem Golfclub gezeigt wird, ist scheißegal. Was glaubt sie denn, wer sie ist! Sie und große Künstlerin. Lachhaft. Nichts als eine mittelmäßige Malerin ist sie. Mit Angstzuständen und Halluzinationen.

Gitta geht ins Atelier. Für sie ein Ort der Zuflucht, für Paul ein Ort, der sie verrückt macht. Und allergische Reaktionen hervorruft. Vielleicht bei ihm, sicher nicht bei ihr! Er will, dass sie vom Malen loskommt, eine Beschäftigung sucht. Wie stellt er sich das vor? Was kann sie mit ihrem Kunststudium anfangen? Schon jetzt nichts. Gitta ignoriert die ausgesuchten Bilder, setzt sich an die Staffelei und schaut prüfend auf den Verdrüsslichen. Es dauert lange, bis sie einen sauberen Pinsel nimmt und Farben zu mischen beginnt. Paul hat das immer bewundert, ihre Sicherheit in der Farbfindung. Es bereitet ihr keinerlei Schwierigkeiten, eine Stelle fertigzumalen in genau jenem Ton, mit dem sie vor Tagen begonnen hat. Ja, handwerklich hat er ihr große Qualität bescheinigt. Du malst wie die alten Meister. Aber angesprochen haben ihn die Bilder nie.

Ist sie nichts als eine gute Handwerkerin? Wenigstens das hat sie einigen anderen voraus. Mit dem Reinhard hat sie die Gemeinschaftsausstellung. Gitta kennt ihn kaum, obwohl sie mit ihm an der Akademie studiert hat. Er projiziert Landschaftsdias auf eine Leinwand, zeichnet deren Konturen nach und malt sie fauvistisch aus. Und die Leute kaufen seine Bilder. Er weiß, wie er den Markt bedienen muss, behauptet Michi. Du hingegen malst weder gefällig noch wild genug. Trotzdem ist es gut. Den letzten Satz hat Michi aber erst nach einer langen Pause hinzugefügt. Welke Mohnblüten in einem verstaubten Gurkenglas. Wer hängt sich das schon an die Wand? Die privaten Kunden würden Gittas Bilder sicher nicht schätzen, die Spruchmacher in der Kunstszene, wenn sie sich überhaupt die Mühe machten, in dieses Schloss zu fahren, noch weniger. Gittas Werke sind unspektakulär. Sie kommt ohne Großformate, grelle Farben und wilde Pinselstriche aus. In den Riesenhallen moderner Museen würden ihre Arbeiten verloren wirken, im Golfclub werden sie es ebenso.

Sie lässt den Pinsel fallen, der nach kurzem, unangenehm hellem Holpern auf dem Holzboden liegen bleibt. Das erste laute Geräusch, seit sie hereingekommen ist. Andere schweißen Schienen, tippen auf Tastaturen, mähen Wiesen, leeren Mistkübel, reden in Konferenzgesprächen und Meetings. An ihrer Arbeit ist alles leise, gedämpft. Sie stört niemanden, fällt niemandem auf. Hört auch Bernhard nichts von ihr? Aus ihrer Malhöhle dringt kein Geräusch zu ihm. Ist die stille Mutter so bedrohlich, dass er sich in der Wiese verstecken muss?

Gitta heftet den Blick auf den bereits deutlich herausgearbeiteten Kopf des Verdrüsslichen, dann auf die teilweise noch unbehandelte Fläche, die ihn umgibt. Bernhards Augen tauchen auf, die grauen, träumenden, seine sommersprossige Stupsnase, der kleine Mund. Dahinter, etwas verschwommener, nimmt sie Paul aus. Gebeugten Rückens entfernt er sich vom Buben und dem Verdrüsslichen, der ihm gar nicht so unähnlich ist. Pauls angegrautes dunkles Haar bildet im Nacken ein paar Kringel, so wie vor Jahren, als er die Friseurbesuche endlos aufschob. Jetzt trägt er es kaum mehr als streichholzlang, findet, dass in seinem Alter ein Kurzhaarschnitt die passendere Lösung sei, aber in ihrer Vorstellung ist sein Haar lang, erinnert an Zeiten, in denen sie damit spielte, sich zärtlich darin verfing. In der Hand hält er ein paar vertrocknete Blumen, die er behutsam, eine nach der anderen, zu Boden fallen lässt. Hastig greift Gitta zu einem Stift, skizziert den Bubenkopf und die Männergestalt direkt neben dem Verdrüsslichen auf die Leinwand, so wie sie sich ihr zeigen. Während sie erneut Farben mischt, verblassen die beiden, übrig bleiben die gezeichneten Umrisse. Sie beginnt mit Bernhard, der eigentlich nur aus einem übergroßen Gesicht besteht, während sein Kraushaar schon in den Bildhintergrund und damit in Pauls Rückenansicht übergeht. Sicher führt Gitta den Pinsel, lässt Pauls Hand aus, mit der sie vorläufig nichts anzufangen weiß. Auch die Blumen, die er hält, machen ihr Kopfzerbrechen. Sind es Rosen? Es sind definitiv weiße Blüten, die zu Boden sinken. Vielleicht erscheint das Bild noch einmal, damit sie die Blumen genauer betrachten kann.

Als es an der Tür läutet, schreckt Gitta hoch. Sie öffnet und ist erstaunt, dass Bernhard vor ihr steht.

- Wieso bist du schon zurück? Hat dir das Fußballspielen nicht gefallen?

- Aber Mama. Du hast doch gesagt, ich soll um halb sieben zu Hause sein.

Einem ersten Impuls folgend, will Gitta den Buben wieder in den Park schicken. Sie will weiterarbeiten am Kindergesicht, am Männerrücken, am Nacken mit den in Wirklichkeit längst verschwundenen Locken. Doch sie erinnert sich an Pauls Vorwürfe. In der Sache hat er nicht unrecht. Ein bisschen Regelmäßigkeit, zumindest ausreichend Schlaf, muss sie Bernhard bieten.

- Komm nur. Ich hab die Zeit vergessen.

- Das ist immer so bei dir.

Warum sagt Bernhard das? Sie ist doch nicht dauernd weggetreten! Oder schon? Das wäre ja furchtbar. Sie folgt dem Buben in die Küche. Bernhard ist durstig, schenkt sich zum dritten Mal Saft nach, während Gitta Brote mit Butter bestreicht. Sein verschwitztes Gesicht sieht nun überhaupt nicht verträumt, vielmehr frech und unternehmungslustig aus. Mit ungewaschenen, sand- und drecküberzogenen Händen greift er nach den Broten. Gitta schweigt. Sie hat noch nie etwas wie – wasch dir die Hände vor dem Essen – gesagt. Paul schon. Hat Paul in der Erziehung übertrieben, weil sie praktisch nicht erzogen, sich bloß zurückgezogen hat? Sie betrachtet Bernhards braungrau verschmierten Mund, dann ihre eigenen farbbekleckerten Fingerkuppen. Gut, dass sie nichts gesagt hat.

Nach dem Essen lässt sie Bernhard die Badewanne ein, schaut ihm beim Ausziehen zu, wirft seine verdreckten Sachen in den übervollen Wäschekorb und legt den Pyjama bereit. Mit der Hand prüft sie noch einmal die Wassertemperatur. Erst dann darf er in die Wanne steigen. Pass auf, dass d’ ihn net z’ heiß bad’st! Die vielen Ratschläge ihrer Mutter. So als ob sie das nicht von alleine gewusst hätte. Trotzdem die Angst, sie könnte doch … In ihrer Brust zieht sich etwas zusammen. Rasch greift sie ins Wasser, obwohl Bernhard schon fröhlich darin planscht. Alles in Ordnung.

Unter Gekicher und Gejohle lässt er sich von Gitta den Kopf waschen, den Rücken schrubben und abbrausen. Zu nass, japst er und spritzt sie an. Sie rangeln um den Brausekopf, der schließlich ins Wasser plumpst und es aufwirbelt. Bernhard, jetzt ist aber Schluss! Gitta dreht den Hahn zu, hilft ihrem Buben aus der Wanne und wickelt ihn ins Badetuch. Wie dünn er ist! Beim Abrubbeln spürt sie jede Rippe. Sie muss wirklich achtgeben, dass er regelmäßig isst. Während er in den Pyjama schlüpft, schaut Gitta auf die Armbanduhr. Knapp vor acht. Perfekt.

- Abmarsch, mein Großer.

- Ich hab noch nicht Zähne geputzt.

- Dann aber flott.

Gitta geht voraus in Bernhards Zimmer. Draußen ist es noch hell. Sie zieht die Vorhänge zu und schaltet die kleine Lampe am Kopfende des Betts ein. Das hat auch Paul immer erlaubt. Das Licht. Einen unaufgeräumten Schreibtisch hätte er allerdings nicht gutgeheißen. Schon kommt Bernhard angerannt und springt ins Bett, dass die Matratze wackelt. Der Schreibtisch! Ach was! Gitta deckt den Buben zu. Wichtig ist, dass er jetzt schläft, was er binnen kurzer Zeit tut. Nicht einmal Wächter für die Nacht hat er aufgestellt. Was Frischluft alles ausmacht. Gitta betrachtet sein Gesicht. Der Spruch, dass Kinder im Schlaf wie Engel aussehen, fällt ihr ein. Wie Putti vielleicht. Nein, auch das nicht! Putti sind Schablonen, Bernhard ist Bernhard. Einzigartig. Und nun so gelöst. Das muss sie festhalten. Gitta holt ihren Skizzenblock, setzt sich ans Bett und zeichnet das schlafende Kind im Dämmerlicht der abgeschirmten Lampe. Das Fantasiebild am Nachmittag ist ihr so leichtgefallen, den echten Bernhard zu erfassen, will hingegen nicht gelingen. Auf einmal merkt sie, dass der Bub gar keine Stupsnase hat. Wann ist denn die verschwunden? Sein Nasenrücken ist vielmehr breit, flach und hat weniger Sommersprossen als im Tagtraum. Die Augenbrauen schauen dunkler aus. Oder macht das die schwache Glühbirne? Vorsichtig beugt sich Gitta über das Kind, studiert die entspannten Züge. Ja, im Ausdruck, in den Proportionen hat sie Bernhard an der Staffelei richtig und trotzdem bloß als Erinnerung wiedergegeben. So sah er einmal aus. Versagt sie beim Skizzieren, weil die Vorstellung, die sie von ihm hat, das überlagert, was vor ihr ist? Oder liegt es an den geschlossenen Augen? Auf der Leinwand sind sie offen, der Blick versonnen. Nun sind sie unter den Lidern versteckt. Vielleicht träumt er gerade etwas Schönes. Wie soll sie das Wesentliche erfassen, wenn so vieles verborgen bleibt? Gitta blättert das Ergebnis ihrer Bemühungen durch, bessert aus, beginnt von Neuem. Schauen, genau hinschauen, und dann zeichnen. In der Realität bleiben, keinen imaginierten Bildern nachhängen.

Es ist nach Mitternacht, als sie den Skizzenblock aus der Hand legt.

XIII.

Eine verwirrende Geschichte! Egal, welche Dokumente sie aus dem Netz holt, die Provenienzangaben zum Verdrüsslichen lauten, dass er unmittelbar nach dem Tod Messerschmidts an dessen Bruder, Johann Adam Messerschmidt, ging und später, vor 1793, von Franz Friedrich Strunz erworben wurde. Mit Strunz verliert sich seine Spur. Er taucht erst wieder um 1900 auf, wo er angeblich in den Besitz des Wiener Architekten Camillo Sitte gelangte, danach im Kunsthandel war, in den 1920er-Jahren von den Hausladens gekauft wurde und aus deren Familienstiftung 2008 ans Getty Museum ging, doch weder der Erwerb durch Sitte noch jener durch die Vorgängergeneration der Hausladens stimmt. So viel steht fest. Zudem weiß Carola aus der Literatur, dass auch noch nach Strunz weitere Besitzer bekannt sind, denn sie alle, Strunz eingeschlossen, wollten nicht einzelne Charakterköpfe verkaufen, vielmehr versuchten sie, die gesamte Serie zu veräußern, doch ihre Rechnung ging nicht auf. Das große Geschäft blieb aus. So wurden der Verdrüssliche und seine Gefährten bis etwa Mitte des 19. Jahrhunderts immer wieder zusammen ausgestellt, Museen und Hofsammlungen angeboten und erst danach einzeln verkauft. Nur mehr ein Teil der Serie ging an Josef Carl Ritter von Klinkosch. Es gibt keinen Beleg, dass der Verdrüssliche bei der Auktion seines Nachlasses gesichtet wurde. Demnach klafft eine Riesenlücke zwischen dem wahrscheinlich letzten Eigentümer der gesamten Serie, Joseph Juttner, und Wilfried Hausladen.

Die jüngsten Veröffentlichungen zu Messerschmidt und seinem Oeuvre sind ordentlich recherchiert. Darin gibt es keine neuen Erkenntnisse. Carola müsste schon auf alte Innenansichten oder vergilbte Fotos stoßen, auf denen der Verdrüssliche zufällig abgebildet ist, nicht als Hauptmotiv, schon eher irgendwo im Hintergrund. Oder er wurde in alten Versteigerungskatalogen als eine Steinbüste ohne nähere Beschreibung angepriesen. Wahrscheinlich haben schon Legionen von Kunsthistorikern solche Auktionseinträge übersehen, weil ein Bezug zum Gesuchten nicht hergestellt werden konnte, und sie wird ihn auch nicht herstellen können. Nein, sie muss es anders angehen, ihre Suche von hinten aufrollen und sich wie ihr Lungenwurm weiter bis zum Ende durchbohren.

Carola schiebt Jarolims Hintern von der Tastatur, um wie anno dazumal einen Akt anzulegen, der mit verdammt wenigen Fakten versehen sein wird. Nicht einmal das Entstehungsjahr ist bekannt. Irgendwann in den 1770er-Jahren hat Messerschmidt mit der Arbeit an den Charakterköpfen begonnen und wahrscheinlich bis zu seinem Tod nicht damit aufgehört. Gesichert ist einzig, dass die ersten Skulpturen dieser Art nicht aus Alabaster waren. ›Sechs Metallene Köpf-Stückhe‹ wollte Messerschmidt 1776 dem kurbayerischen Hof in München vorlegen, um Aufträge zu erhalten. Carola schaut in ihre Unterlagen. Der Brief. Genau. Datiert mit 26. Februar 1776. An den Grafen von Berchem. Darin berichtet Messerschmidt selbst davon. Der Verdrüssliche muss demnach später entstanden sein. 1777–1783 trägt Carola als Entstehungszeit in ihren elektronischen Akt ein. Darunter Johann Adam Messerschmidt, Bildhauer, 1784. Wann Johann Adams Tochter die Köpfe übernommen hat, kann sie trotz längeren Suchens nirgends entdecken. Sie ist sich aber sicher, dass sie darüber schon einmal etwas gelesen hat. Nicht so wichtig. Sie fährt mit Franz Friedrich Strunz, Traiteur, circa 1792 fort. Danach kommen Katharina Mayer, Strunz’ Lebensgefährtin, circa 1805, Franz Jacob Steger, Bronzefabrikant und Gastwirt, circa 1808, und Joseph Juttner, Eigentümer eines Anfrage- und Auskunft-Comptoirs, circa 1835, sowie Wilfried Hausladen, Antiquitätenhändler, 1960.

August 1960. Der Kaufbeleg. Mit ihm muss sie beginnen. Der Name der Verkäuferin. Wie hieß sie doch? Es war eine Frau. Ganz bestimmt. Irgendetwas mit G. Gerda, Gertrud, Grete, Gitta, Gudrun, und ein Familienname, der negative Assoziationen in Carola wachrief. Daran kann sie sich erinnern. Es hatte mit ihrer Schulzeit zu tun. Eine blöde Lehrerin, lästige Mitschülerin? Wenn die unangenehmen Gefühle von der Volksschule herrührten, dann hat sie schlechte Karten. Nicht einmal beim Anblick von Klassenfotos würden ihr alle Namen aus dieser Zeit einfallen. Abrupt steht sie auf, während Jarolim die Tastatur belegt und Carolas zuletzt gesetztes Fragezeichen durch wa2sers3eftgrftgv ergänzt und mit gggggggttt abschließt.

Carola reißt Schubladen und Kastentüren auf. Da Aufnahmen von Bürofeiern und Betriebsausflügen, dort das Hochzeitsbild der Eltern und einige Familienschnappschüsse. Das dickliche Kind mit den trotzig vorgeschobenen Lippen, das ist sie. Verbindet sie noch etwas mit diesem Mädchen? An viel kann sie sich nicht erinnern, bloß an ein ständiges Gefühl der Unzulänglichkeit. Nicht hübsch genug, nicht geschickt genug, nicht gescheit genug zu sein, keine Außenseiterin, aber nahe dran an den Schulbänken, in denen sich die Unbeliebten zusammengefunden hatten, weil niemand sonst bei ihnen sitzen wollte. Wo waren sie, die Fotos aus der Gymnasialzeit? Aufnahmen von Denkmälern und Kunstschätzen wären kein Problem. Angefangen von den Fotos, die sie als Studentin im grauen Wien der frühen 1960er-Jahre gemacht hatte, über die zahlreichen Aufnahmen von Barockgärten bis zu ihren letzten auf dem Tablet festgehaltenen Eindrücken von den Schlössern Hof und Niederweiden könnte sie alles im Schlaf finden. Sogar von ihren amtlichen Entscheidungen hat sie stichwortartige Notizen und Ablichtungen. Darin ist alles dokumentiert: die politischen Interventionen, die klaren und die strittigen Fälle sowie all jene, die Wilfried betrafen. Aber Klassenfotos? Rund zwei Dutzend Mädchen, unter denen eine stets abweisend in die Kamera blickte, so als wollte sie den Fotografen dafür bestrafen, dass er seine Arbeit tat.

Lächeln oder gar herzhaftes Lachen waren auch später keine Selbstverständlichkeit. Sie nehmen alles viel zu schwer. Und eine Hand auf Carolas Schulter. Wilfrieds Hand. Die erste Begegnung anlässlich ihres Vortrags im letzten Studienabschnitt. Vor vielen Menschen. Auch Institutsfremde waren gekommen, weil Carola in Ostdeutschland gewesen war. Das interessierte. Die Berliner Mauer war erst im Vorjahr errichtet worden. Diese Barbaren hatten das Stadtschloss gesprengt. Wie gingen sie sonst mit den übernommenen Kulturgütern um? Carola war hier, um zu berichten, aufgeregt, obwohl sie doch alles perfekt vorbereitet hatte. Auch die Aufnahmen von den noch erhaltenen Irrgärten in Altjeßnitz und Mosigkau. Und dann klemmte das ohnedies nur jeweils zwei Dias fassende Magazin des Projektors! Ungeduldig riss Carola daran, als jemand aus dem Publikum rief, dass sie die Antiquität nicht ruinieren solle, was natürlich mit Gelächter quittiert wurde. Wie sie diese leicht abzuholende Heiterkeit verabscheute. Dafür musste sich niemand anstrengen, bloß schlagfertig sein. Ohne Fleiß viel Preis. Am liebsten hätte sie den Apparat hochgenommen und ins Auditorium geworfen. Ihr ganzer Vortrag war auf die Dias zugeschnitten. Da eilte ein baumlanger, leicht korpulenter Mann die Stufen zum Podium hinauf, murmelte, ich hab auch einmal so einen Mist gehabt, und fuhr mit einem dünnen Bleistift in den Schlitz, in dem das Magazin feststeckte. Carola sah, wie geschickt der Mann mit dem Stift hantierte und dabei vorsichtig am Magazin zog, bis es tatsächlich leichtgängig bewegt werden konnte.

Sie legte das erste Dia ein und begann mit ihrem Vortrag. Kein Danke. Nichts. Ihre Augen tränten, die Stimme zitterte leicht. Erst als sie mittendrin war in den Hainbuchenhecken des Irrgartens von Altjeßnitz, fiel ihr ein, wie unhöflich sie gewesen war. Sie hatte nicht einmal mitbekommen, wann der Mann das Podium verlassen hatte. Nun wurde mit jedem Schieben des Magazins nicht nur ein neues Bild auf die Leinwand projiziert, sondern Carola sah, wann immer sie ein Dia herausnahm und ein weiteres einsetzte, die eine Hand mit dem Stift und die andere am Magazin, die kräftigen Finger des Fremden, die so sicher mit dem widerspenstigen Apparat umzugehen wussten. Sie schob die uralte Blutbuche rein, die Kanzel mit Rundblick über den Garten raus. Der Stift, die Hand. Rein, raus. Welche Farben! Carola hatte gar nicht in Erinnerung, dass das Rot der Blätter so intensiv gewesen war. Vielleicht lag’s an der gewählten Belichtung. Ihre Wangen brannten. Sie hatte Mühe, sich zu konzentrieren. Nur nicht verhaspeln. Die Statue der Ceres am Eingang zum Irrgarten. Sie tauschte die Kanzel gegen die steinerne Göttin aus. Ceres rein, die Blutbuche raus. Grauweißer Faltenwurf auf der Leinwand, während die romanische Kapelle wartete. Mit fahrigen Bewegungen holte Carola das Baumbild aus dem Magazin und legte das baufällige Kirchlein ein. Nun wieder schieben. Die Hand, der Stift. Rein, raus. Weiter nach Mosigkau. Ceres raus, Weitwinkelbild des Schlosses rein. Die Hitze, die der Projektor abstrahlte. Die Hand, der Stift. Das ständige Schieben. Rein, raus. Die Hand. Nein, das war nicht seine, das war ihre. Feucht die Innenseite. Sie musste darauf achten, keine Flecken auf den Dias zu hinterlassen. Wieder wechseln. Neues Dia reinschieben und gleichzeitig das soeben gezeigte rausschieben. Rein, raus. Rein, raus. Carola wurde immer heißer. Die Hand, der Stift. Das Rokoko-Schlösschen. Rein, raus. Der nächste Irrgarten. Kein Ausgang in Sicht. Nichts als flirrendes Licht. Carolas Körper ein Backrohr. Irgendwie brachte sie den Vortrag zu Ende. Verstohlen wischte sie die verschwitzten Hände am dunklen Pulli ab und nahm erstaunt das Beifallsgetrommel wahr.

Sie blickte sich um. Da saßen sie: ihr Doktorvater, breit und stolz, Carolas Dissertation sollte nun kein Problem mehr sein; ihre Studienkollegen, manche mit etwas verkniffenen Mundwinkeln, das graue Mauserl hatte mehr drauf als gedacht; und dort hinten er, der fremde Mann, sein Lächeln schwer einzuordnen, doch dass es ihr galt, das glaubte Carola, sie, die immer noch oben auf dem Podest stand, eine unvorteilhaft gekleidete junge Frau, für die Schlabberröcke, als sie noch nicht in Mode waren, schlicht dazu dienten, die dicken Waden zu verstecken. Als das Klopfen auf den Tischen langsam verebbte, drängte sich Carola am Professor vorbei nach hinten, um den großen Mann rechtzeitig einzuholen. Sein Kopf tauchte immer wieder einmal da, einmal dort auf, ragte aus der Menge heraus, während Carola zwischen den hinausdrängenden Leibern stets eine falsche Richtung einschlug. Erst als sie mit einem Glas schlechten Weins in der Hand im Vorzimmer des Instituts Gratulationen entgegennahm, sah sie ihn wieder. Er kam herein und grüßte in die Runde, die ihr Doktorvater zum Umtrunk geladen hatte. Carola wollte ihren Fehler rasch ausbügeln, ging auf den Fremden zu und stotterte etwas von Dank nachholen. Wieder dieses eigenartige Lächeln. Sie nehmen alles viel zu schwer. Und die Hand auf ihrer Schulter.

Jaris Knurrlaute unterbrechen ihre Gedanken. Was ist denn nun schon wieder? An der Kordel baumelt erneut ein Kärtchen. Heute übertreibt Herr Nierlich. Normalerweise schickt er höchstens einmal wöchentlich wenig freundliche Botschaften. Carola ist sich keiner Schuld bewusst. Jarolims Gedärme haben sich beruhigt, sie hat auch nichts bei offenem Fenster gekocht, nur rasch eine Käsesemmel gegessen. Was will denn der Spinner?

Frau Dr. Broggiato!

Es ist ein Uhr nachts, eine Zeit, zu der Menschen im Normalfall schlafen. Sie hingegen nutzen die nachmitternächtliche Stunde offenkundig dazu, Ihre Wohnung umzuräumen und im Stechschritt zu durchschreiten. Gehen Sie endlich zu Bett! Morgen ist auch noch ein Tag, den wir beide ausgeschlafen erleben sollten.

Johannes W. Nierlich

Perplex starrt Carola auf die Karteikarte. Sie hat Fotos gesucht, und dabei sind Erinnerungen hochgekommen. Die sind doch nicht laut! Gut, die Kästen und Schränke hat sie vielleicht etwas heftig geöffnet, aber danach ist sie nur noch … Carola bleibt stehen. Natürlich, das ist es! Sie ist auf und ab gegangen. Die lockere Holzdiele in der Mitte des Zimmers. Die muss sie mindestens hundert Mal in der letzten halben Stunde zum Knarren gebracht haben, ohne es zu bemerken. Möglichst leise geht sie zum Computer und lacht beim Anblick von Jarolims Einträgen auf. Der hellhörige Nierlich wird ihre Heiterkeit womöglich auf sich beziehen. Egal. Jari tut ihr einfach gut. Sogar das Lachen hat er ihr beigebracht. Sie hält inne.

wa2sers3eftgrftgv gggggggttt

Jarolim, du bist ein Genie! Wasserscheidt hieß die Frau. Grete Wasserscheidt. Genau. Das war der Name, der auf dem Kaufbeleg stand. Und Wasserscheidt hieß der grässliche Schulwart des Gymnasiums, von dem alle behaupteten, er wäre nicht ganz dicht, was angesichts seiner oft eingenässt wirkenden Hosen auch im wörtlichen Sinn gemeint war. Carola belässt Jarolims kryptischen Eintrag, verschiebt ihn per Copy und Paste und tippt von ?? bis 1960 dazu. Zufrieden fährt Carola den Computer herunter und schlendert ins Bad, sorgsam darauf achtend, nicht auf die knarzende Diele zu treten, während Jarolim wenig elegant hinter ihr herhinkt.

1 339,67 ₽
Жанры и теги
Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
Объем:
493 стр. 6 иллюстраций
ISBN:
9783839267226
Издатель:
Правообладатель:
Автор
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают