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Von der Operation Befreiungsschlag zur Bankrottokratie

Sobald die Rettungskredite in das griechische Finanzministerium hereinschwappten, begann die »Operation Befreiungsschlag«: Das Geld wurde umgehend an die französischen und deutschen Banken zurückgeleitet. Im Oktober 2011 war das Risiko deutscher Banken durch griechische Staatsschulden schon um ordentliche 27,8 Milliarden Euro geringer geworden und betrug nur noch 91,4 Milliarden. Fünf Monate später, im März 2012, lag es bei unter 795 Millionen Euro. Die französischen Banken wurden ihre Risiken noch schneller los: Im September hatten sie sich von griechischen Staatsanleihen im Wert von 63,6 Milliarden Euro befreit, und im Dezember 2012 standen gar keine mehr in ihren Büchern. Die Operation Befreiungsschlag war somit in weniger als zwei Jahren abgeschlossen. Nichts anderes sollte mit der Griechenlandrettung erreicht werden.

Waren Christine Lagarde, Nicolas Sarkozy und Angela Merkel tatsächlich so naiv zu glauben, dass der bankrotte griechische Staat dieses Geld mit Zinsen zurückzahlen würde? Natürlich nicht. Sie sahen die Sache genau als das an, was sie war: ein zynischer Transfer von Verlusten aus den Büchern der französisch-deutschen Banken auf die Schultern der schwächsten Steuerzahler Europas. Und genau das ist der Punkt: Die europäischen Gläubiger, mit denen ich verhandelt habe, legten keinen besonderen Wert darauf, ihr Geld zurückzubekommen, weil es gar nicht ihr Geld war.6

Margaret Thatcher sagte gern, Sozialisten würden unweigerlich ein finanzielles Chaos anrichten, weil ihnen irgendwann das Geld anderer Leute ausgehe.7 Was hätte die Eiserne Lady gedacht, wenn sie gewusst hätte, dass ihr Bonmot so gut auf ihre selbst ernannten Schüler zutreffen würde, die neoliberalen Apparatschiks, die Griechenlands Bankrott managten? Lief deren Griechenlandrettung auf etwas anderes hinaus als darauf, die Verluste der französischen und deutschen Banken zu sozialisieren, sie mit dem Geld anderer Leute zu bezahlen?

In meinem Buch Der globale Minotaurus, das ich 2010 schrieb, während Griechenland implodierte, habe ich argumentiert, dass die kapitalistische Ideologie vom freien Markt 2008 kollabierte, siebzehn Jahre nach dem Ende des Kommunismus. Bis 2008 stellten die begeisterten Anhänger des freien Markts den Kapitalismus als darwinistischen Dschungel dar, der unter heldenhaften Unternehmern die erfolgreichsten auswählte. Aber nach dem finanziellen Kollaps von 2008 stand der darwinistische Ausleseprozess auf einmal kopf: Je insolventer eine Bank war, besonders in Europa, desto besser waren ihre Aussichten, sich große Teile vom Einkommen anderer Menschen unter den Nagel zu reißen: von den hart Arbeitenden, den Innovativen, von den Armen und natürlich von allen, die keine politische Macht hatten. Für dieses neue System prägte ich die Bezeichnung Bankrottokratie.

Die meisten Europäer denken gerne, die amerikanische Bankrottokratie sei wegen der Macht der Wall Street und der berüchtigten Drehtür zwischen den amerikanischen Banken und der amerikanischen Regierung schlimmer als ihr europäisches Pendant. Wie unrecht sie doch haben. Die europäischen Banken wurden in den Jahren vor 2008 so grauenhaft schlecht geführt, dass die hirnlosen Banker der Wall Street dagegen geradezu gut aussehen. Als die Krise zuschlug, standen die französischen, deutschen, niederländischen und britischen Banken mit über 30 Billionen Dollar im Risiko, mehr als das Doppelte des BIP der Vereinigten Staaten, mehr als das Achtfache des BIP von Deutschland und beinahe dreimal so viel wie das Sozialprodukt von Großbritannien, Deutschland, Frankreich und Holland zusammen.8 Ein Bankrott Griechenlands 2010 hätte eine sofortige Bankenrettung durch Deutschland, Frankreich, die Niederlande und Großbritannien erforderlich gemacht, die jedes Kind, jede Frau und jeden Mann in diesen vier EU-Ländern ungefähr 10.000 Dollar gekostet hätte. Im Vergleich: Ein ähnliches Problem an der Wall Street hätte vergleichsweise geringe Kosten von nicht mehr als 258 Dollar pro US-Bürger verursacht. Wenn der Zorn der amerikanischen Öffentlichkeit die Wall Street auch zu Recht traf, die europäischen Banken hätten das 38,8-Fache dieses Zorns verdient gehabt.

Und das ist noch nicht alles. Washington konnte die toxischen Papiere der Wall Street bei der Federal Reserve parken und dort lassen, bis sie entweder wieder Gewinn bringen würden oder schließlich vergessen wären und der Entdeckung durch künftige Archäologen harrten. Einfach ausgedrückt: Die Amerikaner müssten nicht einmal die vergleichsweise harmlosen 258 Dollar pro Kopf aus ihren Steuern bezahlen. Aber in Europa, wo Länder wie Frankreich und Griechenland im Jahr 2000 ihre Zentralbanken abgeschafft hatten und die EZB keine uneinbringlichen Forderungen übernehmen durfte, musste das Geld für die Bankenrettung bei den Staatsbürgern eingetrieben werden. Wenn Sie sich jemals gefragt haben, warum das europäische Establishment so viel mehr Wert auf Austeritätspolitik legte als das amerikanische oder japanische, dann haben Sie hier den Grund. Weil die EZB die Sünden der Banken nicht in ihren Büchern verstecken darf, müssen die Regierungen ihre Staatsbürger zwingen, die Bankenrettung durch Einschnitte bei Sozialleistungen und Steuererhöhungen zu finanzieren.

War die schändliche Behandlung Griechenlands eine Verschwörung? Wenn ja, war es eine Verschwörung ohne bewusste Verschwörer, zumindest am Anfang. Christine Lagarde und die ihr Gleichgesinnten hatten nie vor, Europas Bankrottokratie zu begründen. Aber was für eine Wahl hatten sie, die französische Finanzministerin, ihre europäischen Pendants und der IWF, als alles zur Rettung der französischen Banken zu tun, die dem sicheren Tod ins Auge blickten – selbst wenn das bedeutete, neunzehn europäische Parlamente auf einmal hinsichtlich der Kredite für Griechenland zu belügen? Aber nachdem sie einmal eine so gewaltige Lüge präsentiert hatten, blieb ihnen nichts anderes übrig, als ihre Lüge immer weiter zu vergrößern und sich hinter immer neuen Ausflüchten zu verstecken. Hätten sie die Wahrheit gesagt, wären sie ihre Ämter los gewesen. Bevor sie sich versahen, hatte die Bankrottokratie auch sie erfasst, genau wie sie Europas Outsider erfasst hatte.

Das teilte mir Christine Lagarde mit, als sie mir anvertraute, »sie« hätten zu viel in das gescheiterte Griechenland-Programm investiert, um jetzt davon abzurücken. Sie hätte auch die elegantere Formulierung von Lady Macbeth verwenden können: »Getan wird nie mehr ungetan.«

»Vaterlandsverräter« – Die Ursprünge eines kuriosen Vorwurfs

Meine Karriere als »Vaterlandsverräter« begann im Dezember 2006. Damals wurde ich gebeten, in einer öffentlichen Debatte, die der Thinktank eines ehemaligen Ministerpräsidenten organisiert hatte, etwas zum griechischen Haushalt des Jahres 2007 zu sagen. Nach einem Blick auf die Zahlen musste ich einfach das jämmerliche Beschönigungsmanöver beim Namen nennen:

Heute … bedrohen uns die Blasen auf dem amerikanischen Häusermarkt und auf dem Derivatemarkt … Wenn diese Blasen platzen, und sie werden mit Sicherheit platzen, wird es keine Zinssenkung mehr schaffen, die Investitionen in diesem Land so wiederzubeleben, dass die Wirtschaft sich wieder fängt, und diese ganzen Haushaltszahlen sind hinfällig … Die Frage ist nicht, ob das passiert, sondern wie schnell sich daraus unsere nächste große Wirtschaftskrise entwickelt.

Die anderen, die mit mir auf dem Podium saßen, darunter zwei ehemalige Finanzminister, schauten mich an, als hätte ich den Verstand verloren und sei hier fehl am Platz.9 In den nächsten zwei Jahren begegnete mir dieser Blick immer wieder. Selbst nachdem Lehman Brothers geplatzt, die Wall Street kollabiert und der Westen in der großen Rezession versunken war, lebten Griechenlands Eliten weiter in einer rosigen Wolke der Selbsttäuschung. Ob bei Dinnerpartys, in Seminaren an der Universität oder in Kunstgalerien, überall schwärmten sie, dass Griechenland gegen die »angelsächsische Krankheit« immun sei, in der sicheren Überzeugung, unsere Banken seien ausreichend konservativ und die griechische Volkswirtschaft bestens gerüstet, um den Sturm abzuwettern. Wenn ich darauf hinwies, dass nichts weiter von der Wahrheit entfernt sein konnte, wirkten meine Worte als schrille Dissonanz. Doch es wurde noch schlimmer.

Tatsächlich zahlen Staaten niemals ihre Schulden zurück. Sie prolongieren sie, das heißt, sie schieben die Tilgung unbegrenzt hinaus und bezahlen nur die Zinsen. Solange sie das können, sind sie solvent.10 Man kann sich Staatsschulden am besten wie ein tiefes Loch im Boden vorstellen neben einem Berg, der für das Volkseinkommen des Landes steht. Tag für Tag wird das Loch tiefer, selbst wenn der Staat keine neuen Schulden macht, weil sich Zinsen zu den Schulden summieren. Aber in den guten Zeiten, wenn die Wirtschaft wächst, wird auch der Einkommensberg immer höher. Solange der Berg schneller wächst als das Loch, kann man das zusätzliche Einkommen in das Loch schaufeln und so seine Tiefe stabil und den Staat solvent halten. Insolvenz droht, wenn die Wirtschaft nicht mehr wächst oder sogar schrumpft: Dann nagt die Rezession am Einkommensberg des Landes, und das Tempo, mit dem das Schuldenloch tiefer wird, lässt sich nicht mehr bremsen. Alarmierte Finanzleute, die dieses besorgniserregende Szenario beobachten, werden höhere Zinsen für ihre Kredite fordern als Preis dafür, dass sie den Staat weiter refinanzieren, doch höhere Zinsen wirken wie übereifrige Bagger, die noch schneller graben und das Loch noch tiefer machen.

Vor der Krise von 2008 hatte Griechenland innerhalb der Europäischen Union das tiefste Schuldenloch im Verhältnis zu seinem Einkommensberg. Aber wenigstens wuchs der Berg schneller, als das Loch tiefer wurde, was einen Anschein von Nachhaltigkeit erzeugte.11 All das änderte sich bedrohlich Anfang 2009, als die französischen und deutschen Banken ins Wanken gerieten, weil sie sich die Taschen mit toxischen amerikanischen Derivaten vollgestopft hatten, die nach dem Einbruch der Wall Street wertlos waren. Das doppelte Unglück für Griechenland bestand darin, dass das Wachstum bisher durch immer neue Schulden angetrieben worden war – Kredite, die Unternehmen (oft auf dem Weg über den griechischen Staat) von eben den französischen und deutschen Banken bekommen hatten, die auch dem Staat Geld liehen.12 In dem Augenblick, in dem die Banken in Panik gerieten und dem privaten und dem öffentlichen Sektor in Griechenland gleichzeitig den Geldhahn zudrehen würden, wäre das Spiel aus: Griechenlands Einkommensberg würde kollabieren und das Schuldenloch zu einem Abgrund werden.13 Mit diesen düsteren Überlegungen versuchte ich, alle, die es hören wollten, vor der drohenden Katastrophe zu warnen.

Im Herbst 2009 wurde eine neue griechische Regierung gewählt, die mit dem Versprechen angetreten war, durch Mehrausgaben die Wirtschaft wieder auf die Beine zu bringen. Der neue Ministerpräsident und sein Finanzminister, beide von der sozialdemokratischen PASOK, begriffen es einfach nicht. Unser Staat war schon längst rettungslos bankrott, als sie vereidigt wurden. Die weltweite Kreditklemme, die nichts mit Griechenland zu tun hatte, sorgte dafür, dass die europäischen Banken uns kein Geld mehr gaben. Griechenland war ein Land mit schuldengetriebenem Wachstum – Schulden hauptsächlich in fremden Währungen, während Griechenland auf die Geldpolitik im Euroraum keinen Einfluss hatte –, umringt von europäischen Volkswirtschaften, die tief in der Rezession steckten, und konnte nicht abwerten. Deshalb musste der Einkommensberg zwangsläufig so rasch schwinden, dass das ganze Land im Schuldenloch versinken würde.

Im Januar 2010 warnte ich in einem Radiointerview den Ministerpräsidenten, den ich persönlich kannte und mit dem ich mich gut verstand: »Was immer Sie tun, bitten Sie nicht unsere europäischen Partner um Geld in dem vergeblichen Versuch, unseren Bankrott abzuwenden.« Damals unternahm der griechische Staat natürlich eine übermenschliche Anstrengung, um genau das zu tun. Umgehend brandmarkten mich Regierungsquellen als Verräter – ein Dummkopf, der einfach nicht verstand, dass solche Prognosen selbsterfüllend waren, denn man musste doch das Vertrauen der Märkte in die finanzielle Gesundheit des Staates erhalten, weil nur dann weitere Kredite kamen. Weil ich überzeugt war, dass wir dem Bankrott nicht entgehen konnten, egal, welche beruhigenden Töne wir von uns gaben, machte ich weiter. Die BBC und andere ausländische Medien fanden heraus, dass ich früher Reden für Ministerpräsident Papandreou geschrieben hatte. Es tauchten Schlagzeilen auf wie »Ehemaliger Berater des griechischen Ministerpräsidenten sagt, Griechenland sei bankrott«, die meinen Ruf zementierten, der schlimmste Feind des griechischen Establishments zu sein.

Upton Sinclair hat einmal gesagt: »Es ist schwierig, jemanden dazu zu bringen, dass er etwas versteht, wenn sein Gehalt davon abhängt, dass er es nicht versteht.« In dem Fall hingen Einkommen und Reichtum der herrschenden Klasse in Griechenland davon ab, dass sie nicht von Griechenlands Bankrott überzeugt waren. Wenn jeder Mann, jede Frau und jedes Kind in dieser und der nächsten Generation die faulen Kredite tragen mussten, damit das Verhältnis der griechischen Oligarchen zu den ausländischen Bankern und Regierungen ungetrübt blieb, dann war es eben so. Kein Hinweis auf die Interessen der restlichen 99 Prozent der Griechen und ihrer Nachkommen hätte sie zu einem Gesinnungswandel bewegen können. Aber je mehr sie ihre Ohren gegenüber Fakten verschlossen, die nicht zu ihren Annahmen passten, desto stärker spürte ich die Pflicht, unser Volk zu warnen: dass die Kredite, die das Establishment in seinem Namen aufnahm und die den Bankrott angeblich verhindern sollten, ihn tatsächlich nur noch schlimmer machen und alle Griechen ins Schuldgefängnis bringen würden. Freunde und Kollegen sagten mir, ich hätte wohl recht, aber es sei politisch unklug, von Bankrott zu reden. Ich bin kein geborener Politiker und antwortete ihnen mit einem Zitat von John Kenneth Galbraith: »Es gibt Zeiten in der Politik, da muss man auf der richtigen Seite stehen und verlieren.« Damals wusste ich nicht, wie prophetisch diese Worte waren.

Und so führte ich meinen einsamen Kampf weiter, um mein Land zu überzeugen, dass es sich bankrott erklären sollte, und um zu verhindern, dass ihm andernfalls das Armenhaus drohte. Im Februar 2010 sagte ich im staatlichen Fernsehen, das Problem mit den immer neuen Krediten sei, dass wie bei der Reise nach Jerusalem die Musik irgendwann aufhören werde. In unserem Fall würden dann die schwächsten Europäer, deren Steuern und Sozialleistungen die Kredite finanzierten, »Genug!« rufen. Wir würden viel ärmer, viel höher verschuldet und bei unseren europäischen Partnern verhasst sein. Im April 2010, einen Monat vor dem Rettungspaket, veröffentlichte ich rasch hintereinander drei Artikel. In dem ersten vom 9. April mit der Überschrift »Sind wir bankrott?« schrieb ich, wenn der Staat weiter so tue, als sei er nicht bankrott, indem er immer neue Kredite aufnahn, drohe uns »der schlimmste Bankrott von Privathaushalten und Unternehmen in unserer Nachkriegsgeschichte«. Aber wenn der Staat den Bankrott eingestehe und sofort in Verhandlungen mit seinen Gläubigern eintrete, könnte man einen Großteil der Last mit denen teilen, die für die Schulden verantwortlich seien: den Banken, die vor 2008 rücksichtslos Kredite vergeben hätten.

Die Antwort des Establishments fiel kurz und unmissverständlich aus: Wenn unsere Regierung um eine Umschuldung bitten sollte, würde Europa uns aus der Eurozone werfen. Meine Erwiderung war ebenso kurz und unmissverständlich: In dem Fall würden das französische und das deutsche Bankensystem explodieren und mit ihnen die ganze Eurozone. Sie würden uns nicht rauswerfen. Und selbst wenn sie es doch täten – was nützte es, in einer Währungsunion zu sein, die die Volkswirtschaften ihrer Mitglieder zerstört? Anders als die Eurogegner, die die Krise als Chance betrachteten, auf den Grexit zu drängen, argumentierte ich, der einzige Weg, nachhaltig in der Eurozone zu bleiben, sei es, die Anweisungen der Institutionen nicht zu befolgen.

Nicht einmal zehn Tage bevor die Rettungsvereinbarung unterschrieben wurde, feuerte ich zwei weitere Schüsse in Richtung der Regierung ab. Am 26. April verglich ich in einem Artikel mit der Überschrift »Europas letzter Tango« die Bemühungen unserer Regierung um eine Rettung mit denen mehrerer aufeinanderfolgender argentinischer Regierungen, die versucht hatten, durch hohe Dollarkredite des IWF die 1:1-Bindung des Peso an den US-Dollar so lange zu erhalten, dass die Reichen und die Unternehmen ihren Besitz in Argentinien liquidieren, die Erlöse in Dollar eintauschen und dann an die Wall Street transferieren konnten – bevor Wirtschaft und Währung kollabierten und die angehäuften Dollarschulden die hilflosen Argentinier unter sich begruben. Zwei Tage später ging ich mit einem weiteren Artikel aufs Ganze. Die Überschrift lautete »Die schönen Seiten des Bankrotts«.

Fünf Tage später wurde der Rettungskredit vereinbart. Der Ministerpräsident wählte eine idyllische griechische Insel als Hintergrund für seine Ansprache an die Nation, pries den Kredit als Griechenlands zweite Chance, Beweis der europäischen Solidarität, Grundlage unserer wirtschaftlichen Erholung, blablabla. Er war sein politisches Ende und unser direkter Weg ins Armenhaus.

Meister der Sparpolitik

Im September 2015, nach dem Ende meiner Amtszeit als Minister, meldete ich mich zum ersten Mal wieder öffentlich zu Wort, in der Sendung Question Time der BBC, die vor Live-Publikum in Cambridge aufgezeichnet wurde. Der Moderator David Dimbleby stellte mich als Europas Vorkämpfer gegen die Sparpolitik vor. Das war eine Einladung an einen Macho aus dem Publikum, mich mit seinen Ideen über den Nutzen der Sparpolitik zu konfrontieren: »Wirtschaft geht eigentlich ganz einfach. Ich habe zehn Pfund in der Tasche. Wenn ich drei Pint Bier in Cambridge kaufe, muss ich mir wahrscheinlich Geld leihen. Wenn ich so weitermache, habe ich irgendwann kein Geld mehr und bin bankrott. Es ist gar nicht schwierig.«

Zu den größten Rätseln des Lebens, zumindest meines Lebens, gehört, wie leicht vernünftige Leute auf diese schreckliche Logik hereinfallen. Die persönlichen Finanzen sind eine absolut ungeeignete Grundlage, um die öffentlichen Finanzen zu verstehen. Das versuchte ich in meiner Antwort zu erklären: »In Ihrem Leben sind Ihre Ausgaben und Ihr Einkommen wunderbar unabhängig voneinander. Wenn Sie Ihre Ausgaben reduzieren, reduziert sich Ihr Einkommen nicht auch. Aber wenn ein Land massiv spart, reduziert sich auch sein Einkommen.«

Der Grund dafür ist, dass auf nationaler Ebene Gesamtausgaben und Gesamteinnahmen genau gleich sind, denn was jemand einnimmt, hat jemand anderer ausgegeben. Wenn jede Einzelperson und jedes Unternehmen in einem Land spart, darf der Staat auf keinen Fall ebenfalls sparen. Würde er auch sparen, würde der abrupte Einbruch bei den Gesamtausgaben zu einem ebenso abrupten Einbruch beim Volkseinkommen führen, was wiederum geringere Steuereinnahmen zur Folge hätte und zu dem spektakulären Ziel der Austeritätspolitik führen würde: einem immer weiter schrumpfenden Volkseinkommen, weshalb die vorhandenen Schulden nicht mehr bedient werden könnten. Deshalb ist Austerität genau die falsche Lösung.

Wenn es eines Beweises bedurft hätte, hat Griechenland ihn geliefert. Das Rettungspaket aus dem Jahr 2010 ruhte auf zwei Säulen: Die eine Säule waren gigantische Kredite zur Finanzierung der französischen und deutschen Banken, die andere Säule war ein kolossales Sparprogramm. Um einen Eindruck davon zu vermitteln: In den zwei Jahren nach der »Rettung« von Griechenland geriet Spanien, ein weiteres Land der Eurozone, in denselben Schlamassel und wurde gleichfalls mit Austerität behandelt, was in dem Fall eine Reduzierung der Staatsausgaben um 3,5 Prozent bedeutete. Im selben Zweijahreszeitraum von 2010 bis 2012 gingen die griechischen Staatsausgaben um sage und schreibe 15 Prozent zurück. Mit welchem Effekt? Spaniens Volkseinkommen sank um 6,4 Prozent, das griechische hingegen um 16 Prozent. Unterdessen plädierte in Großbritannien der frisch ernannte Schatzkanzler George Osborne für einen maßvollen Sparkurs, um sein Traumziel zu erreichen: einen ausgeglichenen Haushalt bis 2010.14 Osborne war einer der ersten Finanzminister, die ich nach meiner Wahl traf. Das Erstaunlichste bei unserer Begegnung – erstaunlich zumindest für die Pressevertreter, die ein frostiges oder scharfes Zusammentreffen erwartet hatten – war, dass wir keine nennenswerten Differenzen hatten. In den ersten Minuten unseres Gesprächs meinte ich: »Wir sind vielleicht über die Vorzüge der Sparpolitik uneins, aber Sie sparen nicht wirklich sehr, habe ich recht, George?«15

Er stimmte lächelnd zu. Was hätte er auch sonst tun sollen? Wenn es eine Spar-Olympiade gegeben hätte, wäre Griechenland auf dem ersten Platz gelandet und Osbornes Großbritannien irgendwo ziemlich weit unten. Osborne schien auch dankbar für die Hilfe, die er von der Bank of England erhielt. Seit die Londoner City 2008 von schweren Turbulenzen auf dem Kreditmarkt getroffen worden war, hatte die Bank of England Milliarden Pfund gedruckt, um die Banken solvent und die Wirtschaft »liquide« zu halten. Osborne bezeichnete das als »expansive Kontraktion«: Großzügigkeit seitens der Bank of England kombiniert mit Ausgabenkürzungen des Staates.

»Sie stehen immer hinter mir«, sagte er, offensichtlich erleichtert, nicht in meiner Situation zu sein: Geisel einer Europäischen Zentralbank, die genau das Gegenteil tat.

»Ich beneide Sie, George«, klagte ich. »Im Gegensatz zu Ihnen habe ich eine Zentralbank, die mir bei jedem Schritt in den Rücken fällt. Können Sie sich vorstellen, wie es hier in Großbritannien aussehen würde, wenn Sie, statt ›expansive Kontraktion‹ zu betreiben, wie ich zu ›kontraktorischer Kontraktion‹ gezwungen wären?«

Er nickte lächelnd und signalisierte mir, dass ich wenn schon nicht seine Solidarität, so wenigstens sein Mitgefühl hatte.

Dass die Begegnung zwischen einem Schatzkanzler der Torys und einem Finanzminister, der die radikale Linke Griechenlands vertrat, so glatt lief, ist tatsächlich nicht so verwunderlich, wie es die Presse darstellte. Drei Jahre zuvor, auf dem Höhepunkt der Eurokrise, hatte ein Verband vereidigter Wirtschaftsprüfer mit Sitz in Australien beschlossen, die Teilnehmer ihrer jährlichen Konferenz mit einer Debatte zwischen einem Linken und einem Rechten aus Europa zu erfreuen. Und so luden sie Lord (Norman) Lamont, ehemals Schatzkanzler im Kabinett von John Major, und mich zu einer Debatte ein in der Erwartung, dass es gehörig krachen würde. Nur leider hatten sie das falsche Thema ausgewählt: die Krise in der Eurozone. Als wir uns auf dem Podium niedergelassen hatten vor lauter Zuschauern, die mit einem Hahnenkampf rechneten, stellten wir rasch fest, dass wir in nahezu allen Punkten übereinstimmten.

Die Diskussion verlief tatsächlich so freundschaftlich, dass wir uns nachher mit Danae trafen und zu dritt zum Abendessen in ein Restaurant am Wasser gingen. Im strahlenden Sonnenlicht blühte unsere Freundschaft auf – mit Unterstützung des köstlichen australischen Weins, wie Norman mich immer wieder erinnert. Danach blieben wir in Verbindung und tauschten weiterhin unsere Ansichten aus in einer Weise, die mich davon überzeugte, dass wir mehr gemeinsam hatten, als ich mir vorgestellt hätte. Im Dezember 2014 schockierte ich Norman mit der unerwarteten Nachricht, dass ich in einem Monat das griechische Finanzministerium übernehmen würde. Seit diesem Tag und während meiner turbulenten Amtszeit, aber auch danach noch, erwies sich Norman als ein Fels in der Brandung, ein treuer Freund und zuverlässiger Unterstützer. Bevor ich 2015 Downing Street Nr. 11, den Amtssitz von George Osborne, betrat, hatte Norman ihn angerufen und unsere Begegnung mit einigen warmen Worten über mich vorbereitet.

Während meine Freundschaft mit Lord Lamont vielen merkwürdig vorkam, vor allem meinen linken Genossen in der Regierung, passte sie sehr gut in ein größeres Muster. In den trostlosen Jahren von 2010 bis heute war ich immer wieder verblüfft, dass ich, der stolze Linke, Unterstützung von allen möglichen Rechten erhielt: von Bankern der Wall Street und der City of London, von rechten deutschen Ökonomen, sogar von amerikanischen Libertären. Um nur ein Beispiel zu geben, wie seltsam die Dinge laufen können: An einem einzigen Tag Ende 2011 sprach ich vor drei ziemlich unterschiedlichen Versammlungen in New York City – einmal vor Occupy Wall Street, einmal bei der New Yorker Federal Reserve und dann noch vor Hedgefonds-Managern und Bankenvertretern. Allen erzählte ich das Gleiche über die Krise Europas, und aus allen drei Lagern eingeschworener Feinde erhielt ich die gleiche Zustimmung.

Was den echten Libertären, den sich langsam erholenden Bankern der Wall Street und den angelsächsischen Rechten an meinen ansonsten linken Positionen gefiel, war genau das, was das griechische und das europäische Establishment verabscheuten: meine klare Ablehnung immer neuer, nicht nachhaltiger Kredite, die einen Bankrott als Liquiditätsproblem verschleierten. In der Wolle gefärbte Marktwirtschaftler sind allergisch gegen Wohltaten, die die Steuerzahler finanzieren. Sie lehnen aus ganzem Herzen meine Ansichten ab, wie wichtig in Phasen einer Rezession substanzielle öffentliche Investitionen sind und zu jeder Zeit Besteuerungsgrundlagen, die für mehr Einkommensgerechtigkeit sorgen. Aber wir stimmen darin überein, dass es eine entsetzliche Verschwendung von Ressourcen und der sichere Weg ins Massenelend ist, durch vom Steuerzahler finanzierte Kredite einen Bankrott immer weiter zu verschleppen. Vor allem anderen verstehen Libertäre, was Schulden bedeuten. Deshalb durchschauten wir übereinstimmend die menschenverachtende Täuschung hinter dem Griechenland-Programm, zu dem Christine Lagarde mich vier Jahre später drängte.

Der offiziellen Erklärung, wie das Programm des Establishments Griechenland im Jahr 2015 wieder auf die Beine helfen sollte, könnte man die Überschrift geben: »Operation Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit«. Die grundlegende Idee war folgende: Griechenland hat den Euro und kann deshalb nicht durch die Abwertung seiner Währung Investitionen von außen anlocken, das heißt die übliche Strategie anwenden, um international wieder wettbewerbsfähig zu werden. Aber es kann das gleiche Ergebnis durch eine innere Abwertung als Folge einer strikten Sparpolitik erreichen. Wie soll das gehen? Drastische Kürzungen bei den Staatsausgaben werden Preise und Löhne sinken lassen. Griechisches Olivenöl, Hotels auf Mykonos und die Frachtgebühren griechischer Schiffe werden für deutsche, französische und chinesische Kunden sehr viel billiger werden. Wenn Griechenlands Wettbewerbsfähigkeit auf diese Weise wiederhergestellt ist, werden die Exporte und der Tourismus anziehen. Die Investoren beobachten diese wundersame Verwandlung, strömen herbei und stabilisieren so die Wirtschaft. Bald kehrt das Wachstum zurück, und die Einkommen steigen. Mission erfüllt.

Das hätte eine überzeugende Argumentation sein können, hätte sie nicht das Offensichtliche geleugnet, wie die Libertären wohl wussten: Kein Investor, der bei Verstand ist, wird in einem Land investieren, dessen Staat, Banken, Unternehmen und Haushalte allesamt insolvent sind. Während die Preise, Löhne und Einkommen zurückgehen, werden die Schulden, die der Insolvenz zugrunde liegen, nicht sinken, sondern weiter steigen. Das Einkommen zu reduzieren und neue Schulden zu machen, beschleunigt den Prozess noch. Genau das passierte in Griechenland ab 2010.

Im Jahr 2010 schuldete der griechische Staat für je 100 Euro Pro-Kopf-Einkommen ausländischen Banken 146 Euro. Ein Jahr später, 2011, war das Pro-Kopf-Einkommen gegenüber 2010 auf 91 Euro gesunken und 2012 auf 79 Euro. Unterdessen flossen die offiziellen Kredite der europäischen Steuerzahler herein, bevor sie an die französischen und deutschen Banken weitergeleitet wurden, und dadurch stieg die Staatsverschuldung von 146 Euro pro Kopf im Jahr 2010 auf 156 Euro pro Kopf in 2011. Selbst wenn sämtliche griechischen Steuersünder sich über Nacht bekehrt und wir alle uns in eine Nation sparsamer presbyterianischer Schotten verwandelt hätten, wären unsere Einkommen zu gering und unsere Schulden zu hoch gewesen, um den Bankrott abzuwenden. Die Investoren durchschauten das und wollten griechische Investitionsprojekte nicht einmal mit der Kneifzange anfassen. Der Nebeneffekt war eine humanitäre Krise, die schließlich Menschen wie mich in die Regierung brachte.

Als ich dort war, erwiesen sich amerikanische Libertäre und britische Marktwirtschaftler angesichts der Dauerkrise der internationalen Linken als meine effizientesten Unterstützer. Interessanterweise trieb sie ihre ideologisch begründete, quasi darwinistische Verpflichtung, Verlierer am Markt untergehen zu lassen, auf meine Seite. Sie wussten um die Gefahren von zu viel Kredit und wiederholten ihr Mantra: »Jedem verantwortungslosen Kreditnehmer steht ein verantwortungsloser Kreditgeber gegenüber.« Das brachte sie zu der Schlussfolgerung, dass faule Kredite das Problem der unverantwortlichen Kreditgeber sein sollten, nicht der Steuerzahler. Die unverantwortlichen Kreditnehmer sollten auch einen Preis für ihre Verantwortungslosigkeit zahlen, und der sollte hauptsächlich darin bestehen, dass sie so lange keinen Kredit mehr bekommen würden, bis sie ihre Vertrauenswürdigkeit wieder bewiesen hätten.

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9783956142185
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