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Auf der schwarzen Liste

In den Jahren 2010 und 2011 hatte es den Anschein, als wäre ich jeden zweiten Tag im Radio oder Fernsehen und würde die Regierung beschwören, der Realität ins Auge zu blicken und die düstere Tatsache zu akzeptieren, dass unsere Staatsschulden restrukturiert werden mussten. Dieser Vorschlag war nicht radikal oder sonderlich links. Banken schulden jeden Tag die Schulden von Unternehmen um, die in Schwierigkeiten geraten sind, nicht aus Menschenfreundlichkeit, sondern aus wohlverstandenem Eigeninteresse. Aber das Problem war, dass wir es nicht mehr mit Banken zu tun hatten, seit wir das Rettungsprogramm von EU und IWF akzeptiert hatten. Wir hatten es mit Politikern aus ganz Europa zu tun, die ihre Parlamente angelogen hatten, um sie dazu zu bringen, dass sie den Banken die griechischen Schulden abnahmen. Bei einer Umschuldung müssten sie erneut vor ihre Parlamente treten und ihre frühere Sünde bekennen, und das würden sie aus Angst vor den Folgen niemals tun. Der einzige Ausweg bestand darin, mit der Täuschung weiterzumachen und dem griechischen Staat einen weiteren Haufen Geld zu geben, damit er so tun konnte, als würde er seinen Zahlungsverpflichtungen gegenüber der EU und dem IWF nachkommen: ein zweites Rettungspaket.

Ich war entschlossen, ihnen dieses Spiel zu verderben: Von jedem Dach, das ich erklimmen konnte, wollte ich verkünden, dass es unsere schlimmste Option war, weitere Kredite anzunehmen. Ich probierte verschiedene Metaphern aus. »Es ist, als würden Sie eine Kreditkarte nehmen«, sagte ich einmal im Fernsehen, »um Raten für eine Hypothek zu bezahlen, die Sie nicht bezahlen können, weil Ihr Lohn gesunken ist. Es ist ein Verbrechen gegen die Logik. Sagen Sie einfach Nein. Die Zwangsversteigerung des Hauses ist schrecklich, aber ewige Schuldknechtschaft ist noch viel schrecklicher.«

Eines Abends, als ich von einem weiteren Auftritt bei ERT, der öffentlich-rechtlichen Radio- und Fernsehanstalt Griechenlands, in unsere Wohnung zurückkehrte, klingelte das Telefon. Ich nahm den Hörer ab, und es meldete sich eine vertraute Stimme. Sie gehörte Antonis Samaras, damals Vorsitzender der konservativen Nea Dimokratia, der griechischen Oppositionspartei, der Mann, an dessen Niederlage bei der Wahl vier Jahre später, im Januar 2015, ich mitwirkte.

»Wir sind uns noch nicht begegnet, Herr Varoufakis«, sagte er, »aber ich habe Sie gerade auf ERT gesehen und musste Sie einfach anrufen. Ich kann mich nicht erinnern, wann mich etwas, das jemand im Fernsehen gesagt hat, so bewegt hat. Danke für Ihre Haltung.«

Antonis Samaras war nicht das einzige Mitglied des griechischen Establishments, das sich an mich wandte. In meinem Wahlkampf führte ich viele geheime Gespräche mit sozialistischen Ministern, konservativen Abgeordneten der Opposition, Gewerkschaftsvorsitzenden und anderen, die fanden, dass ich einer großen Sache auf der Spur war. Wenn ich die Grundzüge meiner Analyse dargelegt hatte, bestritt sie niemand. Die Sozialisten argumentierten wie verschüchterte Offiziere, die wissen, dass das Schiff auf die Felsen zusteuert, aber Angst haben, den Kapitän, der sich in Sicherheit wiegt, darüber aufzuklären. Die Konservativen waren zumindest bis November 2011 in einer besseren Position: Ihr Vorsitzender Antonis Samaras lehnte die Sparpolitik und die Rettungspakete ab, deshalb konnten sie meinen Gedankengängen eher etwas abgewinnen.

Wenige Tage später bereitete ich mich in einem Studio von ERT auf einen weiteren Auftritt in der Hauptnachrichtensendung vor. Der Chef der Sendeanstalt hatte mir kurz zuvor ein verlockendes Angebot unterbreitet: eine kurze Sendung fast jeden Tag direkt nach den Hauptnachrichten, in der ich das laufende Wirtschaftsdrama kommentieren würde. »Der Regierung wird es nicht gefallen, aber Ihre Ansichten sind wichtig und verdienen es, gesendet zu werden«, hatte er entschieden erklärt. Geschmeichelt und auch erfreut, dass der Leiter des staatlichen Fernsehens ein solches Bekenntnis zum Pluralismus ablegte, obwohl die Regierung meine Kommentare strikt ablehnte, hatte ich eingewilligt, darüber nachzudenken.

An dem Abend rief mich der Leiter zehn Minuten vor Beginn der Sendung zu einem kurzen Plausch in sein Büro. Ihm gegenüber saß die wichtigste Nachrichtenmoderatorin, eine Journalistin, die seit zwei Jahrzehnten der Liebling des PASOK-Establishments war, bekannt für ihr blondierten Haare, ihre blauen Augen, die betörende Stimme und ihre Flirts mit Gesprächspartnern. Der Leiter erinnerte mich daran, dass er mich gerne regelmäßig im Fernsehen haben wollte, die Journalistin stimmte begeistert zu. Kurz bevor wir uns auf den Weg zum Studio machten, brachte sie unter seinen wachsamen Augen noch eine Warnung an: »Ich weiß, dass Ihnen das am Herzen liegt, aber bitte erwähnen Sie heute Abend das Wort Umschuldung nicht. Dann wäre es schwer, Sie auf Sendung zu halten. Die Regierung rastet aus, wenn Sie das Wort hört.«

Ich lächelte und ging weiter. Im Studio las sie die Schlagzeilen vor und wandte sich dann in ihrer üblichen direkten Art mir zu: »Herr Varoufakis, die Regierung sagt uns, das Programm werde Erfolg haben. Aber wir hören auch andere Meinungen. Was sagen Sie dazu?«

»Ohne Umschuldung hat kein Programm Aussicht auf Erfolg, nicht nur dieses.« Unter ihrem dicken Make-up glaubte ich ein ganz leichtes Zucken wahrzunehmen.

Nach der Sendung ging ich direkt zum Parkplatz, setzte mich auf mein Motorrad und fuhr nach Hause, in der sicheren Überzeugung, dass ich nie wieder in eine Sendung der staatlichen Rundfunkanstalt eingeladen werden würde. Tatsächlich wurde ich auf Anweisung des Presseministers (allein dieser Titel erfüllt das Herz jedes Liberalen mit Unbehagen) inoffiziell auf eine schwarze Liste gesetzt.16 Vier Jahre später führte die gleiche Sünde – dass ich auf einer Umschuldung beharrte – dazu, dass die politischen Spitzen Europas meine Absetzung als griechischer Finanzminister und Mitglied der Eurogruppe verlangten. Wer sagt, dass das europäische Establishment nicht in sich konsistent ist?

Meine Verbannung von ERT im Jahr 2011 war meine erste Begegnung mit dem inkompetenten autoritären Gebaren, mit dem die Europäische Union auf die Krise der Eurozone reagierte. Denn auf die Krise reagierten sie in erster Linie moralisierend. Austerität ist eine schreckliche Wirtschaftspolitik und, wie ich weiter oben erklärt habe, in schwierigen Zeiten zum Scheitern verurteilt. Tatsächlich ist Austerität gar keine richtige Wirtschaftspolitik. Austerität ist ein Spiel mit Moral, das dazu dient, in Zeiten der Krise zynische Transfers von den Habenichtsen zu den Vermögenden zu legitimieren. In diesem Spiel sind die Schuldner Sünder, die für ihre Missetaten bezahlen müssen. Die Troika gab sich nicht damit zufrieden, dass die Griechen, die Spanier und ihre eigenen Leute sich ihrer Autorität unterwarfen, nein, sie verlangte auch noch, dass die europäischen Schwächlinge, darunter auch viele Deutsche, die gegen die Armut kämpften, die Schuld und die Verantwortung für die Krise auf sich nehmen sollten.

Der deutsche Finanzminister Dr. Wolfgang Schäuble sagte einmal zu mir, mit meiner Ablehnung der Sparpolitik gehöre ich zu einer Minderheit in Europa, und dann zitierte er Meinungsumfragen, in denen sich eine Mehrheit für Einschnitte bei den Staatsausgaben ausgesprochen hatte. Ich erwiderte, selbst wenn das stimmen sollte, könne sich eine Mehrheit in Europa über die Ursachen ihrer misslichen Lage täuschen. Als im 14. Jahrhundert die Pest wütete, hätten viele Europäer geglaubt, sie werde durch einen sündigen Lebenswandel verursacht und könne durch Aderlässe und Selbstgeißelung geheilt werden. Und als Aderlass und Selbstgeißelung nicht funktionierten, habe man das als Beweis genommen, dass die Menschen ihre Sünden nicht wirklich ehrlich bereuten, dass noch nicht genug Blut geflossen, die Selbstgeißelung nicht enthusiastisch genug ausgeführt worden sei – genau wie heute das katastrophale Scheitern der Austerität als Beweis angesehen werde, dass sie zu halbherzig praktiziert worden sei.

Falls Wolfgang Schäuble amüsiert war, ließ er es sich nicht anmerken. Aber das ist der entscheidende Punkt: Ohne die moralische Einkleidung zeigt sich die Austerität als das, was sie ist: eine gescheiterte Wirtschaftspolitik, die auf unethischem Moralisieren gründet. Das Establishment fand mich empörend, weil ich einigen Erfolg damit hatte, das Problem mit kalter Logik anzugehen und so die Moral aus der Debatte über die griechischen Schulden herauszunehmen – indem ich Argumente einsetzte, die die Kluft zwischen der Linken und der Rechten überwanden und Teile von beiden überzeugten.

Deshalb hätten sie mich am liebsten, wenn sie es gekonnt hätten, nicht nur bei ERT auf die schwarze Liste gesetzt, sondern von jedem öffentlichen Podium auf dem ganzen Kontinent verbannt.

Platz der Hoffnung

Während das griechische Staatsfernsehen mich ächtete, weil ich weiter für eine Umschuldung kämpfte, arbeitete der IWF genau darauf hin. Die deutsche Regierung wollte davon nichts wissen, aber der IWF war immer verärgerter über den Schlamassel, in den die Europäer ihn hineingezogen hatten, und drängte auf eine Umschuldung. Um den IWF bei Laune zu halten, konsultierte der damalige griechische Finanzminister halbherzig Umschuldungsexperten in Washington, obwohl er entschlossen war, sich Berlins Wünschen zu fügen.17 Unterdessen gelangten Berlin und Paris zu dem Schluss, dass Griechenland einen neuen Rettungskredit, einen Schuldenschnitt und eine neue Regierung brauchte.

Ihr Gedankengang war ganz einfach: Der erste Rettungskredit war fast vollständig dafür draufgegangen, die französischen und deutschen Banken zu stützen. Der griechische Staat würde bald mehr Geld brauchen – viel mehr Geld –, um weiter den Anschein zu wahren, solvent zu sein. Aber so wie Sie Ihre Gesamtverschuldung erhöhen, wenn Sie die Hypothekenraten mit Ihrer Kreditkarte bezahlen, hätte die bereits schäumenden Parlamentarier in Europa angesichts der Gesamtsumme, die im Rahmen des zweiten Rettungspakets 2012 an Athen fließen sollte, kollektiv der Schlag getroffen, wäre damit nicht irgendeine Form von Schuldenschnitt verbunden worden. Der französische Staatspräsident Sarkozy und Bundeskanzlerin Merkel akzeptierten einen Schuldenschnitt für Griechenland unter der Bedingung, dass er nur die Gläubiger treffen würde, die ihnen nicht wirklich schaden konnten. Im Sommer 2011 war es entschieden: Der Haircut würde hauptsächlich die griechischen Pensionsfonds treffen, halb öffentliche griechische Institutionen und die griechischen Sparer, die Staatsanleihen gekauft hatten. Die Kredite hingegen, die der IWF und die europäischen Institutionen 2010 vergeben hatten, würden selbstverständlich unangetastet bleiben.18

Dass dies das Ende der jämmerlichen Regierung Papandreou bedeuten würde, die das erste Rettungspaket durch das Parlament gebracht hatte, galt als akzeptabler Preis. Schließlich hatten Ministerpräsident Papandreou, sein Finanzminister und das ganze griechische Establishment den Segen des Parlaments für das erste Rettungspaket nur bekommen, indem sie wiederholt beteuerten, es werde den griechischen Karren aus dem Dreck ziehen, eine Umschuldung sei weder nötig noch erwünscht, und jeder, der etwas anderes behaupte, verdiene es, geteert und gefedert zu werden – oder zumindest nach der Sitte des alten Athen in einem Scherbengericht geächtet zu werden. Wie hätte dieselbe Regierung nicht einmal zwei Jahre später eine Umschuldung plus einen noch größeren Kredit als den ersten durch das erschöpfte und gedemütigte Parlament peitschen können? Ihr Ende war besiegelt.

Die Machtlosigkeit der Regierung Papandreou war nicht nur im Parlament offensichtlich, sondern noch mehr davor, auf dem Syntagma-Platz. Syntagma heißt »Verfassung«, der Name des Platzes geht zurück auf eine Erhebung gegen den in Bayern geborenen König Otto im Jahr 1843. Damals trotzten die Rebellen ihrem ausländischen Herrscher eine geschriebene Verfassung ab. Der Platz liegt zwischen dem Parlamentsgebäude auf der einen Seite, dem ehemaligen Palast von König Otto, und einem hässlichen Betonblock aus den 1970er-Jahren auf der anderen Seite, der das Finanzministerium beherbergt. Von manchen Stellen des Platzes aus kann man die Akropolis sehen, eine Erinnerung an vergangenen Glanz und an die Idee, dass es auf den demos (das Volk) ankommt. Seit 1843, als König Otto in die Knie gezwungen wurde, begannen fast alle Demonstrationszüge und Kundgebungen auf dem Syntagma-Platz, direkt vor dem Parlament. Dort schloss ich mich Anfang der 1970er-Jahre wie Millionen andere Griechen meiner Generation den ersten Demonstrationen an, lernte Tränengas kennen und machte meine ersten politischen Erfahrungen.

Im Frühjahr 2011, als das Land bereits tief in der Rezession steckte, begann die spontane Besetzung des Syntagma-Platzes – wahrscheinlich in Anlehnung an ähnliche Besetzungen öffentlicher Plätze in Spanien durch die sogenannten indignados, die »Empörten«, die gegen die Sparpolitik protestierten und ihre Würde zurückforderten. Zuerst versammelten sich nach Einbruch der Dunkelheit tausend bis zweitausend Menschen. Sie kamen jeden Abend wieder, und jeden Abend waren es einige Tausend mehr als in der Nacht zuvor. Das ging so drei Monate lang. Auf dem Höhepunkt waren es hunderttausend Menschen. Obwohl gelegentlich Gewalttätigkeiten von Faschisten, der Bereitschaftspolizei und vermummten Anarchisten aufflackerten, waren die perfekt strukturierten Debatten das Besondere an diesen Versammlungen. Niemand durfte länger als drei Minuten sprechen, die Redner wurden ausgelost, und alle paar Stunden wechselte das Diskussionsthema. (Ich weiß noch, dass ich dachte, wie wunderbar es wäre, wenn man solche geordneten Diskussionen an unseren Universitäten einführen könnte.) Es war zwar nicht praktizierte Demokratie, denn es konnten keine bindenden Beschlüsse gefasst werden, aber zumindest war der Platz eine große Agora, die von Möglichkeiten vibrierte. Ganz anders ging es direkt daneben im Parlament zu, der Stätte unserer nationalen Demütigung und Unterwerfung unter eine große Wirtschaftskrise.

Danae und ich unternahmen oft den zehnminütigen Spaziergang von unserer Wohnung zum Syntagma-Platz, um den Sauerstoff der Hoffnung einzuatmen. Zweimal wurde ich gebeten, zu der Menge zu sprechen. Auf dem Weg zu dem improvisierten Podium erinnerte ich mich daran, dass ich das letzte Mal in Nottinghamshire bei einer Demonstration gesprochen hatte, beim Bergarbeiterstreik 1984 an einer Streikpostenkette. Zumindest war es auf dem Syntagma-Platz warm, die Menschenmenge war viel größer, und ich war nicht länger ein junger »Ausländer, der sich einmischte«, wie mich ein britischer Polizist damals genannt hatte. Aber das Hochgefühl war das gleiche. Als ich sichtlich freudig vom Podium herunterkam, flüsterte mir Danae ins Ohr: »Bist du sicher, dass du nicht für das Parlament kandidieren willst?« Ich sagte, ich sei sicher. Wie immer meine persönlichen Gefühle sein mochten, der beste Beitrag, den ich zu der Sache leisten könne, bestehe darin, die Kontakte zu erhalten, die ich zu Politikern aus unterschiedlichen Parteien geknüpft hätte, und zu versuchen, über Parteigrenzen hinweg etwas zu bewirken. Aber tief im Inneren fragte ich mich, wie lange das noch möglich sein würde. Der Nebel der Zwietracht wurde dicker.

Im Juni 2011 zwang die Troika die dahinsiechende Regierung, ein zerstörerisches Gesetz nach dem anderen durch das Parlament zu bringen, darunter auch eines, das praktisch alle Rechte der Gewerkschaften aushebelte. Das waren die Rituale ihres Endes, die letzte Demütigung, bevor Papandreou schließlich durch das zweite Rettungspaket der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Die Menschenmassen auf dem Syntagma-Platz spürten die Krise; es kamen immer mehr, sie waren immer aufgebrachter, und bald besetzten sie den Platz rund um die Uhr. Unheil verheißende Differenzen traten zutage. Auf dem oberen Platz zeigten Nationalisten und Faschisten hässlich Präsenz mit Slogans, die ihren Hass auf alle Politiker, ja sogar auf die parlamentarische Demokratie widerspiegelten – ein deutliches Zeichen für den Aufstieg der Partei Goldene Morgenröte. Auf dem unteren Platz versammelten sich die deutlich zahlreicheren Progressiven und bemühten sich, sowohl dem Establishment wie der plumpen Agitation gegen das Establishment, die auf dem oberen Platz betrieben wurde, die Stirn zu bieten, indem sie die Tradition pluralistischer, gut organisierter Debatten pflegten.

Abgeordnete, insbesondere von der regierenden sozialistischen Partei, sagten mir am Telefon oder verbittert bei einer Tasse Kaffee hinter verschlossenen Türen, dass sie es nicht mehr aushielten. Auf dem Weg ins Parlament an den schreienden, wütenden, gedemütigten Menschen vorbeizugehen, um drinnen für Gesetze zu stimmen, die sie verabscheuten, belastete sie sehr. Immer wieder sagten sie mir, sie stünden kurz davor, gegen die von der Troika diktierten Gesetzesvorschläge ihrer eigenen Regierung zu stimmen, aber immer wieder wurden sie, mit höchstens ein oder zwei Ausnahmen, auf die Regierungslinie zurückgebracht. Innerhalb eines Jahres fiel die sozialistische Partei, die drei Jahrzehnte lang stets um 40 Prozent der Wählerstimmen gewonnen hatte, auf klägliche 5 Prozent zurück.

Eines Tages gegen Ende Juni umstellten fünftausend Polizisten den Syntagma-Platz, um die Besatzer zu vertreiben. Sie setzten mehr Tränengas ein, als man es in einem relativ engen städtischen Raum jemals erlebt hatte, dazu noch Blend- und Rauchgranaten, Wasserwerfer und ganz altmodische Polizeigewalt und verwandelten den Platz und die Umgebung in eine Wüste. Kriegsreporter aus meinem Bekanntenkreis, die schon vieles erlebt hatten, sagten mir, sie hätten sich niemals vorgestellt, derartige Gewalt in einer Stadt wie Athen zu erleben. Häuserwände und das Pflaster waren schwarz vom Rauch, in der ganzen Stadt roch es noch wochenlang nach Chemikalien. An diesem Tag hatte die Regierung den letzten Rest ihrer Glaubwürdigkeit verloren, regelrecht ausgelöscht.

Bailoutistan 2.0

Die technischen Details, wie Ministerpräsident Papandreou abgesetzt wurde, sind zu traurig, um sie hier zu erzählen. Es genügt zu sagen, dass es wie in jedem guten Drama ablief: Die Troika brachte ihn durch politische Machenschaften zu Fall, mit Beteiligung der Höflinge, die seinen wackligen Thron umgaben. Es war typisch für die grausame Gleichgültigkeit der Troika gegenüber Menschen, die ihr loyal dienten, dass sie Giorgos Papandreou eine letzte Schmach zufügte, bevor sie ihn abservierte: Im Oktober 2011 musste er noch einmal nach Brüssel reisen, um seine Unterschrift unter den Entwurf für die zweite Rettungsvereinbarung und die Umschuldung zu setzen, die er im Namen der Troika so lange als »unnötig und nicht wünschenswert« abgelehnt hatte.

Eine Nachfolgeregierung zu finden, die die zweite Rettungsvereinbarung durch das Parlament bringen würde, war nicht einfach. Papandreous Rücktritt und die zunehmende Erschöpfung der regierenden Sozialisten sprachen für Neuwahlen. Aber was an den Urnen geschieht, ist unvorhersehbar, und die Organisation von Wahlen dauert mindestens einen Monat, zu lange aus Sicht der EU, des IWF und der griechischen Elite. Stattdessen bildeten sie eine Übergangsregierung aus mehreren Parteien, und erst nachdem sie das zweite Rettungspaket verabschiedet haben würde, sollten im Frühjahr 2012 Neuwahlen riskiert werden. Für die Bildung dieser großen Koalition musste Antonis Samaras, der Vorsitzende der oppositionellen konservativen Partei, für die Logik der Rettungspakete gewonnen werden, die er bislang abgelehnt hatte.

Eine Begegnung genügte – am 23. Juni 2011 in Berlin mit Kanzlerin Merkel –, um Antonis Samaras von seiner Zustimmung zu meiner ablehnenden Position abzubringen, die er in unserem Telefongespräch nach meinem Auftritt im staatlichen Fernsehen geäußert hatte. Die Aussicht, in die Villa Maximos einzuziehen, den Amtssitz des griechischen Regierungschefs, erwies sich als unwiderstehlich. Er war nicht der letzte Politiker, der die prinzipielle Gegnerschaft zu Rettungspaketen für dieses Amt opferte. Der Plan sah folgendermaßen aus: Nach Papandreous Rücktritt sollte ein »technokratischer« Ministerpräsident eingesetzt werden, die linke Mitte (PASOK) und die rechte Mitte (Nea Dimokratia) würden Minister in seiner Regierung stellen und für die nötige Unterstützung im Parlament sorgen. Sobald diese Regierung das zweite Rettungspaket durch das Parlament gebracht hätte, würde sie Neuwahlen ansetzen. Nach der Implosion der PASOK – die die moralischen und politischen Kosten des ersten Rettungspakets getragen hatte – würde die Nea Dimokratia von Antonis Samaras die Wahlen unweigerlich gewinnen. Sofern es Antonis Samaras mit seinem Gewissen vereinbaren konnte, seine ablehnende Haltung zu Rettungspaketen über Bord zu werfen, sich für das zweite Paket auszusprechen und die Interimsregierung hinter den Kulissen zu unterstützen, musste er nur sechs bis acht Monate warten, um Ministerpräsident zu werden. Und genau so kam es dann auch.19

Als Gipfel des Zynismus wählten die Herren als Anführer der großen Koalition niemand anderen als den kurz zuvor zurückgetretenen Vizepräsidenten der Europäischen Zentralbank. Loukas Papadimos, ehemaliger Wirtschaftsprofessor in meiner Fakultät an der Universität Athen, würde einige unglückliche Äußerungen vergessen müssen, bevor er in die Villa Maximos einziehen konnte. Drei Tage bevor er seinen Amtseid ablegte, plapperte er immer noch die offizielle Linie der Troika nach, dass eine Restrukturierung der griechischen Schulden »weder nötig noch wünschenswert« sei. Aber als er auf der Schwelle der Villa stand, umringt von Journalisten, die auf seine ersten offiziellen Worte lauerten, verkündete er mit vollkommen unbewegter Miene, seine wichtigste Pflicht als Ministerpräsident werde es sein, sich um die Restrukturierung der griechischen Schulden zu kümmern.

Und damit kommen wir zu einem köstlichen Augenblick in unserer Geschichte: Ausgerechnet die Menschen, die bisher alle Befürworter einer Umschuldung als Narren und Verräter bezeichnet hatten, fanden sich auf einmal in der Rolle derjenigen wieder, die nach dem Willen der Troika die Umschuldung durchführen sollten. Für sich genommen wäre das eine amüsante Fußnote gewesen, wenn es bei der Umschuldung tatsächlich darum gegangen wäre, Griechenland wieder zahlungsfähig zu machen. Aber das war nie die Absicht.

Gegenüber Gläubigern zahlungsunfähig zu sein und sich formell bankrott zu erklären, ist eine furchtbare Sache. Aber es hat ein Gutes: Die Schulden schrumpfen, man bekommt eine Chance, sich durch harte Arbeit selbst aus dem Sumpf zu ziehen und das Vertrauen potenzieller Investoren wiederzuerlangen. Auf diese Weise erholte sich beispielsweise General Motors nach 2009 und die Deutschen kehrten in den 1950er-Jahren unter die Lebenden zurück: durch deutliche Schuldenerleichterungen. Aber für Griechenland kam das nicht infrage, es sollte Geschichte schreiben. Nach den Bedingungen der zweiten Rettungsvereinbarung würde die Regierung den größten Zahlungsausfall in der Weltgeschichte erklären und dank des größten Kredits in der Weltgeschichte trotzdem weiter im Schuldgefängnis bleiben.

Der Schuldenschnitt in Höhe der Rekordsumme von 100 Milliarden Euro traf Griechenlands wehrlose Rentner, seine Berufsverbände und kleinen Anleihebesitzer – sie mussten sich von dem Geld verabschieden, das sie dem Staat geliehen hatten –, während der Nation ein Rekordkredit über 130 Milliarden Euro in den Rachen gestopft wurde, von dem so gut wie nichts beim griechischen Staat ankommen würde. Ein großer Teil der Gelder ging stattdessen an griechische Banker (eine mehr als ausreichende Entschädigung für die Verluste, die sie durch den Schuldenschnitt bei den Anleihen erlitten hatte), ein weiterer Teil an Griechenlands private ausländische Geldgeber (als Anreiz, dass sie den Schuldenschnitt akzeptierten), und ein dritter Teil wurde dazu verwendet, die Kredite aus der ersten Rettungsvereinbarung mit der EU und dem IWF zu bedienen.20

Bailoutistan 2.0 brachte drei neue Institutionen, die dieses Regime noch schlimmer machten als die Vorläuferversion. Diese drei Institutionen umgingen das Parlament und höhlten damit die demokratische Souveränität des Landes aus. Es waren ein neuer Mechanismus zur Rettung der Banker, eine neue Form der Verwaltung von Staatseinnahmen und Zöllen und eine Abteilung, die im Interesse der Geldgeber das Tafelsilber verschleuderte – mit anderen Worten Privatisierungen nach den Regeln des Griechenland-Programms der Troika durchführte. Ein rascher Blick auf die drei ist eine nützliche Einführung in das System Bailoutistan 2.0.

Die wohl hässlichste der drei Institutionen war die erste, der Mechanismus zur Rettung der Banker. Wenn in eine private Firma Geld gepumpt wird, erhält der Geldgeber Anteile an der Firma im Verhältnis zu dem, was er zur Verfügung stellt, und einen entsprechenden Einfluss auf die Führung des Unternehmens. Nach der zweiten Rettungsvereinbarung sollten die Banker 41 bis 50 Milliarden Euro erhalten, neue Staatsschulden, die die Staatsbürger belasteten. Aber statt im Gegenzug irgendeine Form der öffentlichen Kontrolle über die bankrotten Banken zu gewährleisten, wurde ein raffinierter Weg ersonnen, um solche Kontrollen komplett zu umgehen. Ein neuer Fonds wurde eingerichtet, der sich ganz im Besitz des griechischen Staats befand, der Griechische Stabilitätsfonds (Hellenic Financial Stability Fund, HFSF). 50 Milliarden Euro der insgesamt 130 Milliarden des zweiten Rettungspakets flossen an den HFSF mit der Anweisung, sie umgehend an die privaten Banken weiterzureichen. Rechtlich gesehen sollten die Banker Anteile im Wert von 80 Prozent ihres Eigenkapitals an den HFSF übertragen, aber zwei Vorkehrungen sorgten dafür, dass das Parlament trotzdem keine Mitsprache bei der Führung der Banken haben würde: Erstens stimmte das Parlament zu, dass die Anteile, die der HFSF bekommen würde, stimmrechtslos wären. Zweitens sollte der Verwaltungsrat des HFSF aus ausländischen Direktoren bestehen, die direkt von der Troika ernannt würden, und von griechischen Staatsbürgern (der Geschäftsführer und der Vorsitzende des Verwaltungsrats), die nur mit Zustimmung der Troika ernannt werden konnten. Wenn die Regierung oder das Parlament ein Verwaltungsratsmitglied entlassen wollte, musste die Troika ebenfalls zustimmen. Die Verabschiedung dieses Gesetzes bedeutete, dass das Parlament die Kontrolle über die Banken aufgab, die nur dank der Verschuldung der Bürger am Leben gehalten wurden.

Auch was die Abteilung Steuern und Zölle anbetraf, schluckte das Parlament eine ungeheuerliche Kröte: Der Leiter der Abteilung konnte nur mit Zustimmung der Troika ernannt und entlassen werden. In vielen Ländern ist die Steuerverwaltung (HMRC in Großbritannien, IRS in den Vereinigten Staaten) unabhängig vom Finanzministerium oder Schatzamt und untersteht direkt der Legislative. In Bailoutistan 2.0 sollte das Amt für Steuern und Zölle weder dem einen noch der anderen verantwortlich sein.21

Als dritter Affront wurden die Privatisierungen einer unabhängigen Behörde übertragen, an deren Spitze wiederum eine von der Troika unterstützte Person stehen sollte. Das Motto dieser Behörde lautete: »Alles muss raus!« Hochglanzprospekte mit Bildern von Häfen und Eisenbahnstrecken bis hin zu herrlichen Stränden und kleinen Inseln luden Kaufinteressenten ein, ihre Angebote zu unterbreiten. Das Familiensilber stand zum Verkauf, die Erlöse ließen Griechenlands ausländische Geldgeber durch lokale Stellvertreter einsammeln.22 Die Frustration und der Ärger der Menschen waren am Ausdruck ihrer Gesichter abzulesen, wenn sie die Broschüren durchblätterten.

Wie brachte man die Parlamentarier dazu, für Gesetze zu stimmen, die ihnen die Kontrolle über drei so wesentliche Säulen des Regierungshandelns entzogen? Sie wurden mit der Drohung erpresst, Griechenland aus der Eurozone auszuschließen. Kein rechtsstaatliches System hätte eine solche Abstimmung zulassen dürfen, nur ein tödlich erschöpftes Parlament konnte zu so etwas bereit sein.

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9783956142185
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