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Nicht mit mir

Die zweite Geschichte geht so: Ich lernte Lambros in dem Apartment kennen, das Danae und ich in Athen bewohnen, ungefähr eine Woche bevor die Wahl im Januar 2015 mich ins Amt des Finanzministers brachte. Es war ein milder Wintertag, der Wahlkampf voll im Gang, und ich hatte mich bereit erklärt, einer spanischen Journalistin namens Irene ein Interview zu geben. Sie kam zu uns zusammen mit einem Fotografen und mit Lambros, einem Dolmetscher für Spanisch, der in Athen wohnte. Wie sich herausstellte, waren seine Dienste nicht nötig, denn Irene und ich sprachen auf Englisch miteinander. Aber er blieb da, sah sich um und hörte vor allem zu.

Nach dem Interview, als Irene und der Fotograf ihre Sachen zusammenpackten und auf die Tür zusteuerten, trat Lambros zu mir. Er schüttelte mir die Hand und wollte sie gar nicht mehr loslassen, während er mit der Konzentration eines Mannes, dessen Leben davon abhängt, dass er seine Botschaft überbringt, zu mir sagte: »Ich hoffe, Sie haben es mir nicht angesehen. Ich bemühe mich sehr, niemanden etwas merken zu lassen, aber ich bin obdachlos.« Und dann erzählte er mir sehr knapp seine Geschichte.

Lambros war Lehrer für Fremdsprachen gewesen, er hatte eine Wohnung gehabt und eine Familie. 2010, als die griechische Wirtschaft zusammenbrach, verlor er seine Arbeit, und als sie aus ihrer Wohnung geworfen wurden, verlor er auch seine Familie. Das letzte Jahr hatte er auf der Straße gelebt. Seine einzige Einkommensquelle waren Dolmetscherdienste für ausländische Journalisten, die nach Athen kamen, um von der neuesten Demonstration auf dem Syntagma-Platz zu berichten, die aus dem Ruder gelaufen war und es deshalb in die Nachrichten geschafft hatte. Seine Gedanken kreisten darum, wie er ein paar Euro zusammenkratzen konnte, um sein billiges Mobiltelefon aufzuladen, damit ausländische Nachrichtencrews Kontakt zu ihm aufnehmen konnten, wenn sie in der Stadt waren.

Er fühlte, dass er mit seinem Monolog zum Ende kommen musste, und brachte an, was er von mir wollte:

Ich bitte Sie inständig, mir etwas zu versprechen. Ich weiß, dass Sie die Wahl gewinnen werden. Ich rede mit den Menschen auf der Straße und habe daran keinen Zweifel. Bitte, wenn Sie gewinnen und im Amt sind, denken Sie an diese Menschen. Tun Sie etwas für sie. Nicht für mich! Ich bin am Ende. Wen die Krise zu Fall gebracht hat, der steht nicht mehr auf. Für uns ist es zu spät. Aber bitte, bitte tun Sie etwas für die, die noch am Rand stehen. Die sich noch mit den Fingernägeln festkrallen. Die noch nicht abgestürzt sind. Lassen Sie sie nicht fallen. Drehen Sie ihnen nicht den Rücken zu. Unterschreiben Sie nicht alles, was man Ihnen vorlegt, so wie es Ihre Vorgänger getan haben. Schwören Sie, dass Sie es nicht tun werden. Schwören Sie?

Meine Antwort bestand nur aus zwei Worten: »Ich schwöre.«

Eine Woche später legte ich den Amtseid als Finanzminister meines Landes ab. Wenn in den nächsten Monaten meine Entschlossenheit einmal wankte, musste ich mir nur diesen Augenblick ins Gedächtnis zurückrufen. Lambros wird nie erfahren, welchen Einfluss er in den düstersten Stunden meiner einhundertzweiundsechzigtägigen Amtszeit hatte.

KAPITEL 2
Bailoutistan

Anfang 2010, rund fünf Jahre bevor ich Finanzminister wurde, ging der griechische Staat bankrott. Wenige Monate später organisierten die Europäische Union, der Internationale Währungsfonds und die griechische Regierung die größte Bankrottverschleierung der Welt. Wie verschleiert man einen Bankrott? Indem man dem schlechten Geld gutes Geld hinterherwirft. Und wer finanzierte das Verschleierungsmanöver? Ganz gewöhnliche Menschen, »Outsider«, aus der ganzen Welt.

Die Griechenlandrettung, wie das Verschleierungsmanöver euphemistisch hieß, wurde Anfang Mai 2010 beschlossen und besiegelt. Die Europäische Union und der Internationale Währungsfonds gaben dem bankrotten Griechenland rund 110 Milliarden Euro, den größten Kredit in der Geschichte.1 Gleichzeitig entsandten sie Gerichtsvollzieher nach Athen – die Troika, so genannt, weil sie die drei beteiligten Institutionen repräsentiert: die Europäische Kommission (EK), die Exekutive der EU, die Europäische Zentralbank (EZB) und den Internationalen Währungsfonds (IWF). Die Beamten sollten Maßnahmen durchsetzen, die unter Garantie das griechische Volkseinkommen reduzieren und den größten Teil der Schuldenlast den schwächsten Griechen aufbürden würden. Ein cleverer Achtjähriger hätte begriffen, dass das nicht gut ausgehen konnte.

Jemandem, der bankrott ist, neue Kredite aufzuzwingen unter der Bedingung, dass er sein Einkommen reduziert, ist eine grausame und ungewöhnliche Bestrafung. Griechenland wurde niemals gerettet. Mit ihren »Rettungs«-krediten und der Troika ihrer Schergen, die voller Begeisterung Einkommen vernichteten, verwandelten die EU und der IWF Griechenland de facto in die moderne Version eines Schuldgefängnisses aus einem Roman von Charles Dickens, und dann warfen sie den Schlüssel weg.

Schuldgefängnisse wurden abgeschafft, weil sie trotz ihrer Grausamkeit die Menschen nicht davon abhielten, neue, nicht tragfähige Schulden anzuhäufen, noch den Gläubigern halfen, ihr Geld zurückzubekommen. Damit der Kapitalismus Ende des 19. Jahrhunderts richtig durchstarten konnte, musste man die absurde Vorstellung aufgeben, dass alle Schulden heilig sind, und sie durch das Konzept der begrenzten Haftung ersetzen. Warum sollten Kreditgeber verantwortungsvoll Kredite vergeben, wenn alle Schulden garantiert sind? Und warum sollten manche Schulden höher verzinst werden als andere, was das höhere Ausfallrisiko widerspiegelt? Bankrott und die Abschreibung von Schulden wurden für den Kapitalismus das, was in der christlichen Lehre seit jeher die Hölle ist: unangenehm, aber notwendig. Doch seltsamerweise flüchtete man sich im 21. Jahrhundert beim Umgang mit der Insolvenz des griechischen Staats wieder in die Verleugnung des Bankrotts. Warum? Erkannten die EU und der IWF nicht, was sie da taten?

Im Gegenteil, sie wussten genau, was sie taten. Obwohl sie in ihrer peniblen Propaganda immer behaupteten, sie wollten Griechenland »retten«, dem griechischen Volk eine zweite Chance geben, Griechenlands chronisch korrupten Staat reformieren helfen und so weiter, gaben sich die mächtigsten Institutionen und Staaten keinen Illusionen hin. Sie wussten, dass man eher Blut aus einem Stein pressen kann, als ein bankrottes Gebilde dazu bringen, dass es seine Kredite zurückzahlt, indem man ihm noch mehr Geld leiht, besonders wenn man als Teil des Handels auch noch sein Einkommen reduziert. Sie sahen, dass die Troika daran scheitern würde, das Geld der Steuerzahler, mit dem man Griechenlands Staatsschulden refinanziert hatte, wieder hereinzuholen, selbst wenn es ihnen gelingen sollte, das Tafelsilber des gestürzten Staates zu konfiszieren. Sie wussten, dass die berühmten »Rettungs«- oder »Bailout«-Pakete nichts anderes waren als Fahrscheine für die einfache Fahrt ins Schuldgefängnis, ohne Rückfahrt.

Woher weiß ich, dass sie es wussten? Weil sie es mir gesagt haben.

Gefangene ihrer eigenen Machenschaften

Fünf Jahre später, als Finanzminister, erfuhr ich es direkt von der Quelle. Spitzenbeamte des IWF, der deutsche Finanzminister, führende Mitarbeiter der EZB und der Europäischen Kommission – alle gaben zu, jeder auf seine oder ihre spezielle Weise, dass es stimmte: Sie hatten mit Griechenland einen unmöglichen Handel abgeschlossen. Aber nun führte aus ihrer Sicht kein Weg mehr zurück.

Nicht einmal einen Monat nach meiner Wahl, am 11. Februar 2015, saß ich in einem jener bedrückenden fensterlosen, von Neonlicht erleuchteten Besprechungsräume, von denen die EU-Gebäude in Brüssel voll sind, der IWF-Präsidentin Christine Lagarde gegenüber, einer ehemaligen französischen Finanzministerin und hochkarätigen Anwältin in Washington. Früher an dem Tag war sie in das Gebäude geschwebt, gekleidet in eine elegante Lederjacke, die sogar meine blass und unauffällig erscheinen ließ. Da dies unsere erste Begegnung war, plauderten wir erst einmal freundlich auf dem Flur, bevor wir zu den ernsthaften Gesprächen in den Besprechungsraum gingen.

Hinter verschlossenen Türen, rechts und links eingerahmt von jeweils zwei Mitarbeitern, verlief unsere Unterredung ernst, aber immer noch genauso freundlich. Sie ließ mich meine Analyse von Ursache und Natur der griechischen Situation darlegen und meine Vorschläge für den Umgang mit der Krise unterbreiten und nickte die meiste Zeit zu meinen Worten. Ich hatte den Eindruck, dass wir eine gemeinsame Sprache sprachen und beide ein gutes Verhältnis wollten. Am Schluss, auf dem Weg zur Tür, gab es noch ein kurzes, entspanntes, aber vielsagendes Tête-à-Tête. Christine griff meine Argumente auf und stimmte meinen Plädoyers für Schuldenerleichterungen und niedrige Steuersätze als Vorbedingungen für die wirtschaftliche Erholung Griechenlands zu. Und dann setzte sie mich ganz ruhig und offen schachmatt: »Du hast natürlich recht, Yanis. Die Ziele, auf denen sie beharren, können nicht funktionieren. Aber du musst verstehen, dass sie schon zu viel in dieses Programm investiert haben. Sie können nicht mehr zurück. Deine Glaubwürdigkeit hängt davon ab, dass du dieses Programm akzeptierst und dich daran hältst.«2

Da hatte ich es: Die Präsidentin des IWF sagte dem Finanzminister eines bankrotten Landes, dass die Politik, auf die man sein Land verpflichtet hatte, nicht funktionieren konnte. Nicht, dass es schwierig sein würde, sie umzusetzen. Nicht, dass die Wahrscheinlichkeit, dass sie funktionierte, gering war. Nein, sie gab rundheraus zu, dass sie nicht funktionieren konnte, komme, was da wolle.

Mit jedem Treffen, insbesondere mit den klügeren und nicht ganz so unsicheren Beamten der Troika, verfestigte sich bei mir der Eindruck, dass es hier nicht einfach um wir gegen sie ging, um gut gegen böse. Vielmehr bahnte sich ein echtes Drama an, das an ein Theaterstück von Aischylos oder Shakespeare erinnerte, in dem mächtige Verschwörer am Ende in ihre eigene Falle tappen. In dem realen Drama, dessen Zeuge ich wurde, kam in dem Augenblick, als sie ihre Ohnmacht erkannten, Summers’ heilige Insiderregel ins Spiel. Die Luken gingen zu, offiziell wurde alles abgestritten, und die Folgen des tragischen Dilemmas, das sie geschaffen hatten, entfalteten sich auf Autopilot. Dabei verstrickten sie sich immer mehr in eine Situation, die sie hassten, weil sie ihre Kontrolle über den Gang der Ereignisse immer weiter schwächte.

Aber weil sie – die Spitzen von IWF, EU, der deutschen und der französischen Regierung – unglaublich viel politisches Kapital in ein Programm investiert hatten, das Griechenland immer tiefer in den Bankrott trieb, unfassbare Not über uns brachte und unsere jungen Leute scharenweise in die Emigration trieb, gab es keine Alternative: Das griechische Volk würde einfach weiter leiden müssen. Für mich, den Neuling auf der politischen Bühne, hing die Glaubwürdigkeit davon ab, dass ich eine Politik akzeptierte, von der die Insider wussten, dass sie scheitern würde, und dass ich ihnen half, sie den Outsidern zu verkaufen, die mich gerade deswegen gewählt hatten, weil ich versprochen hatte, eben dieser gescheiterten Politik ein Ende zu machen.

Es ist schwer zu erklären, aber ich empfand von Anfang an keine Feindseligkeit gegenüber Christine Lagarde. Ich erlebte sie als intelligent, herzlich, respektvoll. Mein Weltbild geriete nicht ins Wanken, wenn bewiesen würde, dass sie tatsächlich eine humane Übereinkunft mit den Griechen wollte. Aber das spielt keine Rolle. Für sie als wichtiger Insider hatte es höchste Priorität, das politische Kapital der Insider zu schützen und jede Bedrohung ihrer kollektiven Autorität abzuwehren.

Doch mit der Glaubwürdigkeit verhält es sich wie mit den Ausgaben: Man muss Kompromisse machen. Jeder Kauf bedeutet den Verzicht auf eine Alternative. Mein Verhältnis zu Christine Lagarde und anderen Mächtigen zu verbessern, bedeutete, meine Glaubwürdigkeit in den Augen von Lambros zu schmälern, dem obdachlosen Dolmetscher, der mich beschworen hatte, die Interessen all der Menschen zu vertreten, die noch nicht wie er von dem Sturm des Bankrotts erfasst worden waren, der über unser Land hinwegfegte. Dieses persönliche Dilemma stellte sich für mich nicht. Die amtierenden Machthaber erkannten das früh, deshalb war es für sie wichtig, mich von der Bühne zu vertreiben.

Knapp ein Jahr später reiste ich im Vorfeld des britischen EU-Referendums vom 23. Juni 2016 durch Großbritannien und hielt Reden zur Unterstützung der Kräfte, die für einen Verbleib in der EU kämpften. Sie argumentierten, Großbritannien müsse in der EU bleiben, um Widerstand von innen zu leisten, um die EU zu reformieren und vor dem Zusammenbruch zu bewahren. Es war schwierig. Die britischen Outsider zu überzeugen, für den Verbleib zu stimmen, erwies sich als Sisyphusarbeit, besonders im Norden von England, weil selbst meine britischen Unterstützer – Männer und Frauen, die in ihrer Denkweise und Haltung Lambros näherstanden als Christine – mir sagten, sie verspürten den Drang, dem globalen Establishment eine Tracht Prügel zu verpassen. Eines Abends hörte ich in der BBC, dass Christine Lagarde sich mit den Leitern der anderen Top-Institutionen der Welt (der Weltbank, der OECD, der EZB, der Bank of England und so weiter) zusammengetan hatte, um die britischen Outsider vor den Verlockungen des Brexit zu warnen. Sofort schickte ich aus Leeds, wo ich an dem Tag sprechen sollte, eine SMS an Danae: »Wer braucht noch Kämpfer für den Brexit, wenn er solche Verbündete hat?«

Der Brexit hat gewonnen, weil die Insider den Bogen überspannt haben. Nach Jahrzehnten, in denen sie die Glaubwürdigkeit von Menschen wie mir daran maßen, ob wir bereit waren, die Outsider zu betrügen, die für uns gestimmt hatten, merkten sie nicht einmal, dass die Outsider sich nicht im Mindesten um ihre Meinung scherten. Ob in Amerika oder Großbritannien, in Frankreich oder Deutschland, überall spüren die Insider, dass ihnen die Felle davonschwimmen. Weil sie Gefangene ihrer eigenen Machenschaften sind, Sklaven von Summers’ Dilemma, sind sie wie Macbeth dazu verdammt, Irrtum auf Irrtum zu häufen, bis sie begreifen, dass ihre Krone nicht mehr die Macht symbolisiert, die sie innehaben, sondern die Macht, die ihnen entglitten ist. In den wenigen Monaten, die ich mit ihnen zu tun hatte, bekam ich einen Eindruck von dieser tragischen Erkenntnis.

Es waren die (französischen und deutschen) Banken, Dummkopf!

Freunde und Journalisten fragen mich oft, was bei meinen Verhandlungen mit Griechenlands Gläubigern das Schlimmste gewesen sei. Dass ich nicht laut verkünden durfte, was die Mächtigen mir privat sagten, war sicherlich frustrierend, aber schlimmer war es, mit Gläubigern zu verhandeln, die ihr Geld nicht wirklich zurückhaben wollten. Mit ihnen zu verhandeln, zu versuchen, Argumente anzubringen, war ungefähr so, als würde man mit Generälen über einen Friedensvertrag sprechen, die wild entschlossen sind, ihren Krieg fortzusetzen, in dem sicheren Wissen, dass ihren Söhnen und Töchtern nichts passieren kann.

Um was für einen Krieg handelte es sich? Warum verhielten sich Griechenlands Gläubiger, als wollten sie ihr Geld nicht zurück? Was veranlasste sie, die Falle aufzustellen, in der sie nun selbst steckten? Das Rätsel lässt sich im Handumdrehen lösen, wenn man sich ansieht, in welchem Zustand sich die französischen und die deutschen Banken nach 2008 befanden.

Griechenlands endemische Unterentwicklung, Korruption und Missmanagement erklären seine chronische wirtschaftliche Schwäche. Aber die Insolvenz hängt mit fundamentalen Fehlern in der Konstruktion der EU und ihrer Währungsunion, dem Euro, zusammen. Die EU begann als ein Kartell großer Unternehmen, das den Wettbewerb in der mitteleuropäischen Schwerindustrie begrenzen und ihr in peripheren Ländern wie Italien und Griechenland Absatzmärkte sichern sollte. Die Defizite von Ländern wie Griechenland waren das Pendant zu den Überschüssen von Ländern wie Deutschland. Solange die Regierung die Drachme abwerten konnte, hielten sich die Defizite in Grenzen. Aber als die Drachme durch den Euro ersetzt wurde, trieben die Kredite von deutschen und französischen Banken das griechische Defizit in die Stratosphäre.

Die Kreditklemme von 2008, die auf den Kollaps der Wall Street folgte, schickte Europas Banken in den Bankrott; 2009 stellten sie die Kreditvergabe ein. Weil Griechenland seine Schulden nicht mehr prolongieren konnte, stürzte es später im Jahr in die Insolvenz. Auf einmal standen drei französische Banken vor Verlusten aus Krediten an die Peripherie, deren Volumen doppelt so groß war wie das französische BIP. Zahlen von der Bank of International Settlement zeigen ein wirklich furchterregendes Bild: Für jeweils 30 Euro Risiko stand nur ein Euro Deckung zur Verfügung. Das bedeutete, wenn nur 3 Prozent der riskanten Kredite ausfielen – wenn 106 Milliarden Euro aus Krediten, die sie Staaten, Unternehmen und Haushalten der Peripherie gewährt hatten, nicht zurückgezahlt werden konnten –, mussten die drei wichtigsten französischen Banken vom Staat gerettet werden.

Allein die Kredite eben dieser drei Banken an Italien, Spanien und Portugal summierten sich auf 34 Prozent des gesamten französischen BIP – 627 Milliarden Euro, um präzise zu sein. Außerdem hatten diese Banken in den zurückliegenden Jahren auch noch dem griechischen Staat bis zu 102 Milliarden Euro geliehen. Wenn Griechenland seine Raten nicht begleichen konnte, würden Finanzleute weltweit Angst bekommen und Portugal kein Geld mehr geben, möglicherweise auch Italien und Spanien nicht mehr, weil sie fürchteten, dass sie als Nächste in Rückstand geraten könnten. Wenn Italien, Spanien und Portugal ihre zusammengenommen 1,76 Billionen Euro Schulden nicht mehr zu akzeptablen Zinssätzen refinanzieren konnten, würden sie massiv bedrängt werden, die Kredite der drei führenden französischen Banken zu bedienen, was tiefe schwarze Löcher in ihre Bilanzen reißen würde. Über Nacht würden Frankreichs größte Banken 19 Prozent ihrer »Aktiva« verlieren, wobei schon ein Verlust in Höhe von 3 Prozent sie insolvent machen würde.

Um das Loch zu stopfen, würde der französische Staat über Nacht schlappe 562 Milliarden Euro aufbringen müssen. Aber während die Bundesregierung der Vereinigten Staaten solche Verluste auf ihre Zentralbank (die Federal Reserve) abschieben kann, hatte Frankreich seine Zentralbank im Jahr 2000, als es der gemeinsamen Währung beigetreten war, abgeschafft. Seitdem war das Land auf den guten Willen der gemeinsamen Zentralbank Europas angewiesen, der EZB. Leider hatte man der EZB ein ausdrückliches Verbot in die Wiege gelegt: Schulden der Südländer, private wie staatliche, dürfen nicht in die Bücher der EZB verschoben werden. Punkt. Nur unter dieser Bedingung hatte Deutschland seine geliebte D-Mark mit dem Pöbel Europas geteilt, unter dem neuen Namen Euro.

Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, welche Panik Frankreichs Präsident Sarkozy und seine Finanzministerin Christine Lagarde erfasste, als sie erkannten, dass sie womöglich bis zu 562 Milliarden Euro aus dem Hut zaubern mussten. Und es ist nicht schwer, sich die Angst eines Vorgängers von Christine Lagarde auszumalen, des berüchtigten Dominique Strauss-Kahn, der zu der Zeit an der Spitze des IWF stand und entschlossen war, aus dieser Position seinen Wahlkampf für die nächste französische Präsidentschaftswahl zwei Jahre später zu führen. Frankreichs Spitzenbeamte wussten, dass ein Bankrott Griechenlands den französischen Staat zwingen würde, sich sechs Mal so viel Geld zu leihen, wie er jährlich an Steuern einnahm, nur um sie diesen idiotischen drei Banken hinzuwerfen.

Es war einfach unmöglich. Hätten die Märkte Wind davon bekommen, was da drohte, wären die Zinsen für die französischen Staatsschulden in die Stratosphäre geschossen, und innerhalb von Sekunden wären 1,29 Billionen Euro französische Staatsschulden ausgefallen. In einem Land, das keine Notenpresse mehr hatte – die letzte verbleibende Möglichkeit, um aus dem Nichts Geld zu schöpfen –, würde das Not und Elend bedeuten, und das würde wiederum die gesamte Europäische Union zu Fall bringen, die gemeinsame Währung, einfach alles.

Die deutsche Kanzlerin steckte unterdessen nicht weniger in der Zwickmühle. 2008, als die Banken der Wall Street und der City of London wankten, pflegte Angela Merkel noch immer ihr Image als knausrige, finanziell sehr vorsichtige eiserne Kanzlerin. Auf die verschwenderischen Banker der Anglosphäre zeigte sie moralisierend mit dem Finger, und sie machte Schlagzeilen mit einer Rede in Stuttgart, in der sie sagte, die amerikanischen Banker hätten sich bei einer schwäbischen Hausfrau Rat holen sollen, sie hätte ihnen einiges über den Umgang mit Geld erzählen können. Man stelle sich ihr Entsetzen vor, als sie wenig später lauter aufgeregte Telefonanrufe von ihrem Finanzminister, ihrer Zentralbank und ihren Wirtschaftsberatern erhielt, alle mit der gleichen unfassbaren Botschaft: »Frau Bundeskanzlerin, auch unsere Banken sind bankrott! Damit ihre Geldautomaten weiter Geld ausspucken, brauchen wir eine Geldspritze in Höhe von 406 Milliarden Euro von den schwäbischen Hausfrauen – möglichst gestern!«

Das war der Inbegriff von politischem Gift. Wie konnte sie vor dieselben Abgeordneten treten, denen sie jahrelang Vorträge über die Tugend des Sparens gehalten hatte, wenn es um Krankenhäuser, Schulen, Infrastruktur, soziale Sicherheit, die Umwelt gegangen war, und sie nun inständig bitten, einen derart gewaltigen Scheck für Banker zu unterschreiben, die noch Sekunden zuvor in Geld geschwommen waren? Aber Not kennt nun einmal kein Gebot, und so atmete Kanzlerin Merkel tief durch, ging in den nach einem Entwurf von Norman Foster umgebauten Reichstag mit der berühmten Kuppel, überbrachte den sprachlosen Parlamentariern die schlechte Nachricht und verließ das Gebäude wieder mit dem erbetenen Scheck in der Hand. Geschafft, dürfte sie gedacht haben. Nur dass es nicht geschafft war. Wenige Monate später glühten die Telefone wieder: Dieselben Banken brauchten noch einmal die gleiche Summe.

Warum brauchten die Deutsche Bank, die Commerzbank und andere Türme der finanziellen Inkompetenz mit Sitz in Frankfurt mehr Geld? Weil der Scheck über 406 Milliarden Euro, den sie 2009 von Frau Merkel bekommen hatten, kaum ausreichte, um ihre Geschäfte mit toxischen amerikanischen Derivaten zu decken. Und ganz gewiss reichte er nicht aus für all das Geld, das sie den Regierungen von Italien, Irland, Portugal, Spanien und Griechenland geliehen hatten – insgesamt 477 Milliarden Euro, von denen happige 102 Milliarden nach Athen geflossen waren. Wenn Griechenland seinen Rückzahlungsverpflichtungen nicht mehr nachkommen könnte,3 standen die deutschen Banken vor einem weiteren Verlust, der einen neuen Scheck von Frau Merkel in einer Höhe zwischen 340 und 406 Milliarden Euro erforderlich machen würde. Als erfahrene Politikerin wusste sie, dass es politischer Selbstmord wäre, vom Bundestag noch einmal eine solche Summe zu verlangen.

Für die politisch Verantwortlichen von Frankreich und Deutschland ging es um eine Billion Euro. Sie durften der griechischen Regierung nicht erlauben, die Wahrheit zu sagen, nämlich zuzugeben, dass Griechenland bankrott war. Und sie mussten weiterhin einen Weg finden, um ihre Banken ein zweites Mal zu retten, ohne ihren Parlamenten zu sagen, dass sie genau das taten. Wie Jean-Claude Juncker, damals Premierminister von Luxemburg und später Präsident der Europäischen Kommission, es einmal formuliert hat: »Wenn es ernst wird, müssen Sie lügen.«4

Nach wenigen Wochen stand ihre Flunkergeschichte: Sie würden die zweite Rettung ihrer Banken als Akt der Solidarität mit den verschwenderischen und faulen Griechen hinstellen, die zwar unwürdig und unerträglich waren, aber trotz allem Mitglieder der europäischen Familie, weshalb man sie retten musste. Passenderweise hieß Rettung in dem Fall, sie mit einem weiteren gigantischen Kredit zu versorgen, damit sie ihre französischen und deutschen Gläubiger, die strauchelnden Banken, bezahlen konnten. Die Sache hatte nur einen Haken, für den man erst eine Lösung finden musste: Der Gründungsvertrag der Eurozone verbot die Finanzierung von Staatsschulden durch die EU. Wie konnte die EU diese Klausel umgehen? Das Rätsel wurde mit einem typischen Brüsseler Kuhhandel gelöst, etwas, das die Europäer, insbesondere die Briten, hassen gelernt haben.

Erstens sollten die neuen Kredite nicht europäische Kredite sein, sondern internationale, indem der IWF in den Deal eingebunden würde. Dafür musste der IWF gegen seine heiligste Regel verstoßen: Leihe nie einer bankrotten Regierung Geld, bevor es einen »Haircut« für ihre Schulden gegeben hat, einen Schuldenschnitt. Aber der damalige IWF-Direktor Dominique Strauss-Kahn wollte um jeden Preis die Banken des Landes retten, das er zwei Jahre später zu führen gedachte. Er war bereit, die interne Bürokratie des IWF zu zwingen, ein Auge zuzudrücken. Wenn der IWF mit an Bord war, konnte man den Europäern erzählen, die internationale Gemeinschaft leihe den Griechen Geld, nicht nur die EU, zu dem höheren Zweck, das Weltfinanzsystem zu stützen. Kein Gedanke, dass das eine EU-Rettung für ein EU-Mitglied war und schon gar nicht eine Rettungsaktion für deutsche und französische Banken!

Zweitens würde der größte Teil des Geldes, das Europa aufbringen sollte, nicht von der EU direkt kommen. Die Kredite würden in eine Reihe bilateraler Darlehen verpackt werden – das heißt von Deutschland an Griechenland, von Irland an Griechenland, von Slowenien an Griechenland und so weiter –, und dabei würde jeder bilaterale Kredit die relative wirtschaftliche Stärke des Kreditgebers widerspiegeln, eine seltsame Anwendung von Karl Marx’ Maxime, »jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen«. Von jeweils 1000 Euro, die Athen bekommen würde, um sie an die französischen und deutschen Banken weiterzureichen, würde Deutschland für 270 Euro haften, Frankreich für 200 Euro und die kleineren, ärmeren Länder für die restlichen 530 Euro.5 Das war das Schöne an der Griechenlandrettung, zumindest für Frankreich und Deutschland: Sie verteilte den größten Teil der Last, die französischen und deutschen Banken zu retten, auf die Steuerzahler von Ländern, die noch ärmer waren als Griechenland, wie etwa Portugal und die Slowakei. Zusammen mit den ahnungslosen Steuerzahlern der Länder, die den IWF mit finanzierten wie Brasilien und Indonesien, würden sie gezwungen sein, Geld an die Banken in Paris und Frankfurt zu überweisen.

Die Slowaken und die Finnen wussten genauso wenig wie die Deutschen und die Franzosen, dass sie tatsächlich für die Fehler französischer und deutscher Banker bezahlen sollten. Ihnen missfiel der Gedanke sehr, für die Schulden eines anderen Landes geradezustehen. Deshalb säte die französisch-deutsche Achse im Namen der Solidarität mit den unausstehlichen Griechen die Saat der Zwietracht zwischen stolze Völker.

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