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Super Black Boxes

Giorgos Chatzis verschwand am 29. August 2012. Er wurde zuletzt im Büro der Rentenversicherung in der kleinen Stadt Siatista in Nordgriechenland gesehen. Dort sagte man ihm, dass seine monatliche Erwerbsunfähigkeitsrente von 280 Euro nicht mehr ausbezahlt werde. Augenzeugen berichteten, er habe sich nicht mit einem einzigen Wort beklagt. »Er wirkte geschockt und schwieg«, hieß es in einer Zeitung. Wenig später rief er auf seinem Mobiltelefon ein letztes Mal seine Frau an. Weil niemand zu Hause war, hinterließ er eine Nachricht: »Ich fühle mich nutzlos. Ich kann dir nichts mehr bieten. Kümmere dich um die Kinder.« Wenige Tage später wurde in einem abgelegenen Waldstück seine Leiche gefunden. Er hatte sich an einem Felsvorsprung erhängt, neben ihm auf dem Boden lag sein Mobiltelefon.

Ein paar Monate später erregte die Welle von Selbstmorden infolge der schweren Wirtschaftskrise in Griechenland die Aufmerksamkeit der internationalen Presse. Damals hatte sich Dimitris Christoulas, ein siebenundsiebzigjähriger Apotheker im Ruhestand, neben einem Baum auf dem Syntagma-Platz mitten in Athen erschossen. Er hinterließ ein herzzerreißendes Manifest gegen die Sparpolitik. Früher hätte die stille, würdige Trauer der Angehörigen von Christoulas und Chatzis noch den härtesten Schergen voller Scham verstummen lassen – aber nicht so in Bailoutistan, wie ich Griechenland nach 2010 sarkastisch genannt habe. Unsere Schergen halten sich von ihren Opfern fern, verbarrikadieren sich in Fünfsternehotels, brausen mit ihren Autokolonnen durch die Straßen und beruhigen ihre gelegentlich flatternden Nerven mit haltlosen Zahlen, die wirtschaftliche Erholung verheißen.

In jenem Jahr 2012, drei lange Jahre bevor Larry Summers mir den Unterschied zwischen Insidern und Outsidern erklärte, zeigte meine Lebensgefährtin Danae Stratou in einer Galerie im Zentrum von Athen eine Kunstinstallation unter dem Titel: Es ist Zeit, die Black Boxes zu öffnen! Das Werk bestand aus hundert Metallkisten, die in geometrischer Anordnung auf dem Boden verteilt waren. Jede Kiste enthielt ein Wort, ausgewählt aus Tausenden von Vorschlägen, mit denen die Athener in den sozialen Medien Danaes Frage beantwortet hatten: »Sagen Sie in einem Wort: Wovor haben Sie am meisten Angst, oder was möchten Sie unbedingt bewahren?«

Danaes Idee war, dass diese Kisten anders als etwa die Black Box eines im Meer versunkenen Flugzeugs geöffnet werden sollten, bevor es zu spät war. Das Wort, das die Athener am häufigsten genannt hatten, war nicht Arbeitsplatz, Rente oder Ersparnisse. Der Verlust, den sie am meisten fürchteten, war der Verlust von Würde. Auf der Insel Kreta, deren Bewohner für ihren Stolz berühmt sind, hatte es seit Ausbruch der Krise die meisten Selbstmorde gegeben. Wenn eine Wirtschaftskrise sich zuspitzt und die Früchte des Zorns »schwer und reif zur Ernte« werden, stürzt uns der Verlust der Würde in die tiefste Verzweiflung.

In meinem Beitrag für den Ausstellungskatalog zog ich den Vergleich zu einer anderen Art von Black Box. Technisch gesehen, so führte ich aus, sei eine Black Box ein Gegenstand oder ein System, dessen Funktionsweise undurchsichtig bleibt. Wir verstehen aber, dass die Black Box in der Lage ist, Input in Output zu verwandeln, und nutzen sie ganz selbstverständlich. Ein Mobiltelefon beispielsweise verwandelt die Bewegungen unserer Finger mühelos in ein Gespräch oder die Bestellung eines Taxis, obwohl es für die meisten von uns, wenn auch nicht für versierte Elektroingenieure, ein Rätsel bleibt, was im Inneren des Mobiltelefons passiert. Wie Philosophen gesagt haben, sind die Köpfe anderer Menschen der Inbegriff von Black Boxes: Wir können nicht wissen, was genau im Kopf eines anderen Menschen vorgeht. (Während der einhundertzweiundsechzig Tage, von denen dieses Buch handelt, habe ich mich oft bei dem Wunsch ertappt, die Menschen um mich herum, insbesondere meine Waffenbrüder, würden in diesem Sinn etwas weniger Black Boxes ähneln.)

Aber dann gibt es noch die »Super Black Boxes«, wie ich sie nenne, die Black Boxes, die so groß und so wichtig sind, dass selbst diejenigen, die sie geschaffen haben und kontrollieren, nicht vollständig verstehen, wie sie im Inneren funktionieren: zum Beispiel die Finanzderivate, deren Wirkungen nicht einmal die Finanzjongleure durchschauen, die sie ersonnen haben; globale Banken und multinationale Konzerne, deren Aktivitäten oft nicht einmal ihre Chefs ganz begreifen; und natürlich Regierungen und supranationale Institutionen wie der Internationale Währungsfonds mit Politikern und einflussreichen Bürokraten an der Spitze, die Ämter bekleiden, aber selten die Macht innehaben. Auch sie verwandeln Input – Geld, Schulden, Steuern, Wählerstimmen – in Output – Gewinn, noch kompliziertere Formen von Schulden, Kürzungen bei Sozialleistungen, in der Gesundheits- und Bildungspolitik. Der Unterschied zwischen diesen Super Black Boxes und dem bescheidenen Smartphone – oder auch anderen Menschen – ist, dass die meisten von uns keine Kontrolle über den Input haben, ihr Output jedoch unser aller Leben bestimmt.

Der Unterschied steckt in einem einzigen Wort: Macht. Nicht die Art von Macht, die mit der Gewalt von Meereswellen verbunden wird, sondern eine subtilere, unheilvollere Macht: die Macht der »Insider«, wie Larry Summers sie nennen würde, denen ich mich, wie er fürchtete, nicht anschließen würde, die Macht der geheimen Informationen.

Während und nach meiner Zeit als Minister wurde ich immer wieder gefragt: »Was wollte der IWF von Griechenland? Handelten diejenigen, die Schuldenerleichterungen ablehnten, so, weil sie eine rechtswidrige geheime Agenda hatten? Waren sie Handlanger von Konzernen, die Griechenlands Infrastruktur plündern wollten – seine Flughäfen, Hotelanlagen am Meer, Telefongesellschaften und so weiter?« Wenn die Dinge doch nur so einfach wären.

Wenn eine große Krise zuschlägt, ist es verlockend, eine Verschwörung der Mächtigen dafür verantwortlich zu machen. Sofort haben wir Bilder im Kopf von rauchgeschwängerten Räumen, in denen gerissene Männer (und ab und zu eine Frau) ausbaldowern, wie sie auf Kosten der Schwachen und des Allgemeinwohls Profit machen können. Das sind natürlich Hirngespinste. Wenn unsere bejammerswerte Lage auf eine Verschwörung zurückgeführt werden kann, dann eine solche, bei der die Verschwörer noch nicht einmal wissen, dass sie daran beteiligt sind. Was sich für viele wie eine Verschwörung der Mächtigen anfühlt, ist einfach etwas, das bei jedem Netzwerk von Super Black Boxes spontan entsteht.

Der Schlüssel zu solchen Netzwerken ist Exklusion und Intransparenz. Erinnert sei nur an das Motto »Gier ist geil«, das vor dem großen Knall 2008 an der Wall Street und in der City of London herrschte. Viele anständige Bankangestellte waren krank vor Sorge über das, was sie da beobachteten und taten. Aber wenn sie Beweise oder Informationen vor sich liegen hatten, die schreckliche Entwicklungen ahnen ließen, sahen sie sich Summers’ Dilemma gegenüber: Sie konnten sie an Outsider weitergeben und in der Bedeutungslosigkeit versinken, sie für sich behalten und Komplizen werden, oder ihre Macht ausüben und ihre Informationen gegen die von jemand anderem tauschen und damit eine improvisierte Zwei-Personen-Allianz schmieden, die beiden Beteiligten innerhalb des größeren Insidernetzwerks schlagartig mehr Macht verleihen würde. Wenn weitere heikle Informationen ausgetauscht werden, schmiedet diese Zwei-Personen-Allianz Verbindungen mit anderen ähnlichen Allianzen. Das Ergebnis ist eine Machtstruktur innerhalb anderer Strukturen, die Beteiligten konspirieren de facto, ohne bewusst Verschwörer zu sein.

Wenn ein Politiker, der etwas weiß, einem Journalisten ein Exklusivinterview gibt und im Gegenzug eine Berichterstattung bekommt, die in seinem Interesse liegt, wird der Journalist, wenn auch unwissentlich, in ein Netz von Insidern einbezogen. Wenn der Journalist sich weigert, die Geschichte im Sinne des Politikers darzustellen, riskiert er, eine wertvolle Quelle zu verlieren und von dem Netz ausgeschlossen zu werden. Auf diese Weise kontrollieren Netze der Mächtigen den Informationsfluss: Sie kooptieren Outsider und schließen alle aus, die sich nicht an die Spielregeln halten. Solche Netze entwickeln sich organisch und werden von einer Eigendynamik angetrieben, die kein Einzelner kontrollieren kann, nicht einmal der Präsident der Vereinigten Staaten, der CEO von Barclays und all jene, die Schlüsselpositionen im IWF oder in einer nationalen Regierung innehaben.

Wenn man erst einmal in diesem Netz gefangen ist, braucht es Heldenmut, um zum Whistleblower zu werden, besonders wenn man in der Kakofonie, in der es immer um Geldverdienen geht, seine eigene Stimme nicht mehr hört. Und wer aus der Reihe tanzt, endet wie eine Sternschnuppe: schnell verglüht und vergessen von einer zerstreuten Welt.

Faszinierenderweise übersehen viele Insider eines solchen Netzes, besonders wenn sie nur lose damit verbunden sind, dass da ein Netz ist, das sie verstärken, weil sie nur relativ wenig Kontakt damit haben. In ähnlicher Weise sind die Insider im Herzen des Netzes oft viel zu tief darin versunken, um zu bemerken, dass es noch eine Welt draußen gibt. Selten ist jemand so scharfsichtig, dass er erkennt, wenn er in einer Black Box lebt und arbeitet. Larry Summers ist ein solcher seltener Insider. Seine Frage war tatsächlich ein Appell, den Verlockungen der Außenwelt zu widerstehen. Seiner Haltung lag die Überzeugung zugrunde, dass die Welt nur aus dem Inneren der Black Box zum Besseren verändert werden kann.

Damit lag er meiner Meinung nach gründlich falsch.

Theseus vor dem Labyrinth

Vor 2008, als die Super Black Boxes noch reibungslos funktionierten, lebten wir in einer scheinbar ausbalancierten und sich stets regenerierenden Welt. Damals feierte der britische Schatzkanzler Gordon Brown das Ende des wirtschaftlichen Auf und Ab, und der künftige Vorsitzende der amerikanischen Notenbank, Ben Bernanke, pries die »große Mäßigung«. Natürlich war das eine Illusion, erzeugt von Super Black Boxes, deren Funktionsweise niemand verstand, vor allem nicht die Insider, die damit hantierten. Und dann stürzte 2008 alles krachend zusammen und bescherte unserer Generation eine Weltwirtschaftskrise wie 1929, vom Zusammenbruch des kleinen Griechenland ganz zu schweigen.

Ich bin der Ansicht, dass die Finanzkrise des Jahres 2008, die uns heute, fast ein Jahrzehnt später, immer noch beschäftigt, mit dem endgültigen Zusammenbruch der Super Black Boxes der Welt zusammenhängt – den Netzwerken der Macht, den Verschwörungen ohne Verschwörer, die unser Leben bestimmen. Summers’ blindes Vertrauen, dass die Mittel zur Überwindung der Krise aus eben diesen kaputten Super Black Boxes kommen würden, dank normaler Operationen von Insidern, erschien mir schon damals rührend naiv. Vielleicht ist das nicht überraschend. Schließlich hatte ich drei Jahre zuvor für Danaes Ausstellungskatalog geschrieben, »diese Super Black Boxes zu öffnen ist inzwischen eine Vorbedingung für das Überleben von Anstand, von ganzen Gruppen unserer Mitmenschen, sogar für das Überleben unseres Planeten. Einfach ausgedrückt: Uns sind die Entschuldigungen ausgegangen. Deshalb ist es Zeit, die Black Boxes zu öffnen!« Aber was bedeutet das konkret?

Erstens müssen wir bereit sein anzuerkennen, dass wir, dass jeder von uns ein Knoten in dem Netz ist, unwissentlich de facto ein Verschwörer. Zweitens, und das ist das Geniale an Wikileaks, wenn wir in das Netzwerk hineingelangen können wie Theseus in das Labyrinth und den Informationsfluss unterbrechen, wenn wir die Köpfe von möglichst vielen in dem Netz mit der Angst erfüllen können, dass unkontrollierbar Information abfließt, dann werden die nicht rechenschaftspflichtigen, schlecht funktionierenden Netze der Macht unter ihrem eigenen Gewicht und ihrer Bedeutungslosigkeit zusammenbrechen. Drittens müssen wir der Versuchung widerstehen, alte geschlossene Netzwerke durch neue zu ersetzen.

Als ich drei Jahre später die Bar in Washington betrat, war ich abgeklärter. Es ging mir nicht in erster Linie darum, Informationen an Outsider weiterzugeben, sondern alles Erforderliche zu tun, um Griechenland aus dem Schuldgefängnis herauszuholen. Wenn das bedeutete, mich so zu verhalten, als wäre ich ein Insider, dann musste es eben sein. Aber sobald der Preis für den Zugang zum Kreis der Insider darin bestehen würde, dass ich Griechenlands dauerhaften Verbleib im Schuldgefängnis akzeptierte, würde ich gehen. Nach meiner Überzeugung ist es eine Bedingung für die Würde, auf der das Glück des griechischen Volks beruht, dass man einen Ariadnefaden in das Labyrinth der Insider legt und bereit ist, zum richtigen Zeitpunkt dem Faden bis zum Ausgang zu folgen.

Am Tag nach meinem Gespräch mit Larry Summers traf ich mich mit Jack Lew, dem designierten amerikanischen Finanzminister. Der Mitarbeiter, der mich danach zum Ausgang des Ministeriums führte, verblüffte mich mit einer beiläufigen Bemerkung: »Herr Minister, ich möchte Sie warnen, dass Sie binnen einer Woche eine Rufmordkampagne erleben werden, die von Brüssel ausgeht.« Larrys aufmunternde Worte, wie wichtig es sei, nichts nach außen dringen zu lassen, und seine Warnung, dass wir dabei waren, den Medienkrieg zu verlieren, bekamen auf einmal eine ganz neue Bedeutung.

Natürlich war das alles keine große Überraschung. Insider, so hatte ich 2012 geschrieben, reagieren aggressiv auf jeden, der es wagt, Outsider einen Blick in ihre Super Black Boxes werfen zu lassen: »Nichts davon wird leicht sein. Die Netzwerke werden heftig reagieren, so wie sie es bereits tun. Sie werden noch autoritärer werden, noch abgeschotteter, noch fragmentierter. Sie werden unglaublich auf ihre ›Sicherheit‹ und ihr Informationsmonopol bedacht sein und dem gemeinen Volk noch weniger vertrauen.«2

Die folgenden Kapitel erzählen von ihrer gewaltsamen Reaktion auf meine hartnäckige Weigerung, die Befreiung Griechenlands gegen einen privilegierten Platz in einer ihrer Black Boxes einzutauschen.

Hier unterschreiben!

Es lief alles auf einen kleinen Kringel auf einem Blatt Papier hinaus – ob ich bereit war, auf der gepunkteten Linie einer neuen Rettungsvereinbarung zu unterschreiben, die Griechenland tiefer in den labyrinthischen Schuldenkerker stoßen würde.

Meine Unterschrift war deshalb so wichtig, weil kurioserweise nicht Präsidenten oder Ministerpräsidenten gefallener Länder solche Vereinbarungen über Rettungskredite mit dem IWF oder der Europäischen Union unterzeichnen. Dieses vergiftete Privileg fällt dem unglückseligen Finanzminister zu. Deshalb war es für Griechenlands Gläubiger entscheidend wichtig, mich gefügig zu machen, mich zu kooptieren oder, falls das nicht gelingen sollte, mich zu zerschmettern und durch einen willigeren Nachfolger zu ersetzen. Hätte ich unterschrieben, wäre ein weiterer Outsider zum Insider geworden, und alle hätten mich mit Lob überschüttet. Die Flut von Schimpfwörtern, die die internationale Presse gerade zum passenden Zeitpunkt nur wenig mehr als eine Woche nach dem Besuch in Washington über mich ergoss, genau wie der Mitarbeiter des US-Finanzministeriums es mir angekündigt hatte, hätte es nicht gegeben. Ich wäre »verantwortungsbewusst« gewesen, ein »vertrauenswürdiger Partner«, »bekehrter Rebell«, der die Interessen seines Landes über seinen »Narzissmus« stellte.

Nach Larry Summers’ Gesichtsausdruck zu urteilen, als wir das Hotel verließen und in den strömenden Regen traten, war ihm das klar. Er wusste, dass den »Europäern« nicht an einer ehrenhaften Vereinbarung mit mir oder meiner Regierung gelegen war. Er wusste, dass man mich letzten Endes massiv unter Druck setzen würde, eine Kapitulationsurkunde zu unterschreiben als Preis dafür, dass ich ein Insider wurde, dem man vertrauen konnte. Er wusste, dass ich dazu nicht bereit war. Und er fand das schade, zumindest für mich.

Ich für meinen Teil wusste, dass er mir helfen wollte, zu einer praktikablen Vereinbarung zu kommen. Ich wusste auch, dass er tun würde, was er konnte, um uns zu helfen, sofern es nicht gegen die goldene Insiderregel verstieß: Wende dich nie gegen andere Insider und sprich nie zu Outsidern über das, was Insider tun oder sagen. Nicht sicher war ich mir, ob er verstehen konnte, warum ich auf gar keinen Fall eine nicht praktikable, unehrenhafte Vereinbarung über einen weiteren Rettungskredit unterschreiben würde. Es hätte zu lange gedauert, meine Gründe zu erklären, aber ich fürchte, selbst wenn wir Zeit dafür gehabt hätten, hätte ihm meine Erklärung nicht eingeleuchtet, weil unsere Ausgangspunkte zu unterschiedlich waren.

Meine Erklärung hätte ich in Form von ein oder zwei Geschichten präsentieren können. Die erste hätte wahrscheinlich in einer Athener Polizeistation im Herbst 1946 begonnen, als Griechenland am Rand eines kommunistischen Aufstands und in der zweiten Phase des schrecklichen Bürgerkriegs steckte. Die Geheimpolizei hatte einen zwanzigjährigen Chemiestudenten der Universität Athen mit Namen Giorgos festgenommen, zusammengeschlagen und mehrere Stunden in einer kalten Zelle liegen gelassen, bis ihn ein Beamter höheren Rangs in sein Büro holte, scheinbar, um sich zu entschuldigen: »Es tut mir leid, dass du so hart angepackt wurdest. Du bist ein guter Junge und hast das nicht verdient. Aber weißt du, es sind verräterische Zeiten, und meine Männer sind am Ende. Vergib ihnen. Unterschreib einfach hier, und dann kannst du gehen. Entschuldigung noch einmal.«

Der Beamte wirkte ehrlich, und Giorgos war erleichtert, dass die Hölle, die er in der Gewalt der Schläger durchlitten hatte, vorbei war. Aber dann begann er das Schriftstück zu lesen, das er unterschreiben sollte, und es lief ihm kalt den Rücken herunter. Auf dem maschinengeschriebenen Blatt hieß es: »Hiermit verurteile ich wahrhaftig und in aller Ehrlichkeit den Kommunismus, alle, die den Kommunismus verbreiten, und ihre verschiedenen Gefolgsleute.«

Zitternd vor Angst legte er den Stift hin, nahm alle Freundlichkeit zusammen, die seine großzügige Mutter Anna ihm im Lauf der Jahre mitgegeben hatte, und sagte: »Herr Polizist, ich bin kein Buddhist, aber ich würde nie eine Erklärung unterschreiben, dass ich den Buddhismus verurteile. Ich bin kein Muslim, aber ich denke nicht, dass der Staat das Recht hat, von mir zu verlangen, dass ich den Islam verurteile. Ich bin auch kein Kommunist und sehe nicht ein, warum man von mir verlangt, den Kommunismus zu verdammen.«

Giorgos’ Verweis auf die Meinungsfreiheit half nichts. Entweder unterschreiben oder systematische Folter und Haft von unbegrenzter Dauer. »Du hast die Wahl!«, schleuderte der aufgebrachte Beamte ihm entgegen. Er hatte durchaus Grund gehabt, etwas anderes zu erwarten. Giorgos besaß alle Eigenschaften eines guten Jungen – ein geborener Insider. Er war im ägyptischen Kairo geboren und aufgewachsen, in einer Mittelschichtfamilie innerhalb einer großen griechischen Gemeinschaft, die selbst in einer kosmopolitischen europäischen Enklave mit Franzosen, Italienern und Briten lebte, Seite an Seite mit gebildeten Armeniern, Juden und Arabern. Zu Hause sprachen sie dank seiner Mutter Französisch, in der Schule Griechisch, bei der Arbeit Englisch, auf der Straße Arabisch und in der Oper Italienisch.

Mit zwanzig wollte Giorgos zu seinen griechischen Wurzeln zurückkehren. Er gab seinen komfortablen Posten in einer Kairoer Bank auf und zog nach Griechenland, um Chemie zu studieren. Im Januar 1945 traf er an Bord der Corinthia in Athen ein, gerade einen Monat nach Ende der ersten Phase des griechischen Bürgerkriegs, der ersten Episode des Kalten Kriegs. Eine fragile Entspannung lag in der Luft, und Giorgos erschien es vernünftig, als studentische Aktivisten der Linken wie der Rechten ihn als Kompromisskandidaten für den Vorsitz der Studentenschaft seiner Fakultät auswählten.

Kurz nach seiner Ernennung erhöhte die Universitätsleitung jedoch die Studiengebühren, zu einer Zeit, als die Studenten in absoluter Armut vegetierten. Giorgos stattete dem Dekan einen Besuch ab und brachte alle erdenklichen Argumente gegen die Erhöhung vor. Beim Hinausgehen überwältigte ihn ein Geheimpolizist auf der Marmortreppe der Fakultät und zerrte ihn in einen wartenden Lieferwagen. Und dann wurde er vor eine Wahl gestellt, gegen die Summers’ Dilemma wie ein Spaziergang im Park wirkt.

Da der junge Mann aus gutbürgerlichen Verhältnissen stammte, hatte der Polizeibeamte erwartet, dass er entweder freudig unterschreiben oder unter der Folter rasch zusammenbrechen würde. Doch je mehr er geschlagen wurde und je länger die Folter dauerte, desto weniger frei fühlte sich Giorgos, zu tun, was er am liebsten getan hätte: zu unterschreiben, die Qual zu beenden und nach Hause zu gehen. Und so kam er schließlich in verschiedene Zellen und Gefangenenlager, denen er jederzeit hätte entgehen können, wenn er nur seine Unterschrift unter ein einziges Blatt Papier gesetzt hätte. Vier Jahre später kehrte Giorgos, nur noch ein Schatten seiner selbst, aus dem Gefangenenlager in eine trostlose Gesellschaft zurück, die von seinem speziellen Dilemma weder etwas wusste noch sich wirklich dafür interessierte.

Unterdessen, während Giorgos in Haft gewesen war, wurde eine junge Frau, vier Jahre jünger als Giorgos, als erste weibliche Studierende zum Studium der Chemie an der Universität Athen zugelassen, obwohl die Hochschule alle Hebel in Bewegung gesetzt hatte, das zu verhindern. Eleni, so ihr Name, begann das Studium als rebellische Feministin, bevor der Begriff überhaupt existierte. Trotzdem hegte sie eine heftige Abneigung gegen die Linken: Während der nationalsozialistischen Besatzung war sie als sehr junges Mädchen von linken Partisanen entführt worden, die sie für die Verwandte eines NS-Kollaborateurs gehalten hatten. Nach ihrer Einschreibung an der Universität warb eine faschistische Organisation namens X sie an, weil sie so entschieden antikommunistisch eingestellt war. Ihr erster – und wie sich herausstellte, auch ihr letzter – Auftrag lautete, auf Schritt und Tritt einem Kommilitonen zu folgen, der ebenfalls Chemie studierte und gerade erst aus dem Lager entlassen worden war.

Das ist, kurz zusammengefasst, die Geschichte meiner Entstehung. Denn Giorgos ist mein Vater und Eleni, die in den 1970er-Jahren eine wichtige Rolle in der Frauenbewegung spielte, war meine Mutter. Mit dieser Geschichte im Gepäck war es für mich ausgeschlossen, auf der gepunkteten Linie zu unterschreiben als Gegenleistung für die Gnade, die Insidern gewährt wird. Hätte Larry Summers das verstanden? Ich glaube nicht.

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913 стр. 6 иллюстраций
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9783956142185
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