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KAPITEL 5
Im Sterbelicht sei doppelt zornentfacht

Während der Wahltag näher rückte, überkam mich eine merkwürdige Mischung aus Gemeinschaftsgefühl und Einsamkeit. Auf den Straßen, bei öffentlichen Versammlungen, in Taxis und im Syriza-Hauptquartier, wo ich mich mit Alexis und seinem Team traf, begegneten mir Solidarität, Freundlichkeit, Sympathie und enorme Unterstützung. Doch tief im Innersten wusste ich, dass ich institutionell isoliert, ressourcenarm und völlig auf mich gestellt war. Da ich nicht im Parlament saß, nicht einmal der Partei angehörte und die vorangegangenen drei Jahre auch noch in Austin verbracht hatte, fehlte mir, wie Alexis bereits bemerkt hatte, ein Netzwerk aus Unterstützern.

Meine Kandidaten-Kollegen verfügten über Assistenten, Fahrer, Büroräume, wichtige Beziehungen. Ich hatte Danaes moralische Unterstützung, mein Motorrad und unsere Wohnung am Fuße der Akropolis, in der ich Interviews gab, Besprechungen abhielt, meine Blog-Einträge verfasste und alles erledigte, was rund um den Wahlkampf anfiel. Aus dem Syriza-Hauptquartier erhielt ich die telefonische Auskunft, dass ein Parlamentskandidat gesetzlich verpflichtet sei, ein gesondertes Bankkonto zu eröffnen, auf das er alle Wahlkampfspenden einzahlte und von dem er alle wahlkampfrelevanten Ausgaben bezahlte. Da es obligatorisch war, eröffnete ich ein Konto, zahlte aber nie etwas ein, da ich Spenden weder einwarb noch erhielt, keine Angestellten hatte und keinen einzigen Euro für Werbematerial ausgab. Mein einziges Wahlkampfinstrument war der Blog in griechischer Sprache, den ich zusätzlich zu meinem bereits bestehenden englischsprachigen Blog auf einer kostenlosen Plattform einrichtete. Das war’s.

Nun konnte ich zwar auf die konventionellen Instrumente des politischen Wahlkampfs verzichten, doch mir machte Sorge, dass ich womöglich ohne eigenes Team ins Finanzministerium einziehen und auf Gedeih und Verderb von den Beamten abhängig sein würde, die bis dahin treue Diener von Bailoutistan gewesen waren, zuzüglich einiger Angestellter, die Dragasakis und das Syriza-Hauptquartier zur Verfügung stellen wollten. Daher nutzte ich die wenigen Wochen vor der Wahl dafür, das denkbar beste Team um mich zu versammeln.

Um einen stellvertretenden Finanzminister für die Schlüsselposition der Aufsicht über die Staatskasse zu finden, traf ich mich zum Kaffee mit Alekos Papadopoulos, der in den 1990er-Jahren Finanzminister der PASOK gewesen war und den ich seit vielen Jahren kannte. Er galt als integer und hatte als einziger Finanzminister in seiner Amtszeit die Staatsfinanzen anständig kontrolliert. Alekos war zwar Syriza-Gegner, sicherte mir aber seine persönliche Unterstützung zu und versprach, mir jemanden zu empfehlen. Noch am selben Abend nannte er mir per SMS Dimitris Mardas, von dem ich noch nie gehört hatte, den mein erfahrener Freund aber als überaus fähig und rechtschaffen schilderte. Am nächsten Morgen rief ich Mardas an und machte ihm ein Angebot, mit dem er sicher nicht gerechnet hatte.1

Noch wichtiger war es, einen Präsidenten für den Wirtschaftsbeirat zu finden. Die Regierungschefs sind in der Eurozone auf die Loyalität und Kooperation ihrer Finanzminister angewiesen. Entsprechend hängt der Erfolg des Finanzministers davon ab, dass er eine ähnlich enge Beziehung zum Präsidenten des Wirtschaftsbeirates in seinem Ministerium hat, der ihn wiederum in der sogenannten »Arbeitsgruppe Eurogruppe« vertritt. In dieser Arbeitsgruppe werden vorgeblich die Eurogruppen-Sitzungen vorbereitet, doch in Wahrheit schmiedet die Troika dort hinter den Kulissen ihre Pläne und Maßnahmen.

Diesen Posten hatte Dragasakis allerdings bereits in meinem Namen vergeben, ehe ich überhaupt einen Fuß auf griechischen Boden gesetzt hatte. Dragasakis hatte Giorgos Chouliarakis ausgesucht, einen knapp über dreißig Jahre alten Ökonomen, der nach seiner Lehrtätigkeit an der Manchester University zur griechischen Zentralbank gewechselt war. »Er ist ein guter Kerl und räumt uns dank seiner informellen Zusammenarbeit mit Leuten aus dem Wirtschaftsbeirat schon mal Steine aus dem Weg«, erklärte mir Dragasakis, als wir uns nach meiner Ankunft in Griechenland ein paar Wochen vor der Wahl zum ersten Mal trafen. Während mein guter Freund Wassily entsetzt war, weil er Dragasakis’ Absichten und Entscheidungen stets skeptisch gegenüberstand, freute ich mich, dass vor Ort schon jemand alles vorbereitete.

Als ich Chouliarakis dann kennenlernte, mochte ich ihn auf Anhieb, obwohl vieles darauf hindeutete, dass er nur eine eingeschränkte Kooperationsfähigkeit besaß und sich ungern in die Karten schauen ließ. Meine Befürchtungen wurden zerstreut, als er mir erzählte, dass er als Student an der Universität Athen zwei progressive und kluge Wirtschaftsprofessoren als Lehrer gehabt hatte, die ich sehr schätzte; einer war mein Freund und Kollege Nikos Theocarakis, neben Stournaras Mitglied des akademischen Quartetts, das sich kurz nach meiner Ankunft an der Universität im Jahr 2000 gegründet hatte.2 Diese Mitteilung bestärkte mich auch in meinem Vorhaben, Nikos zum Staatssekretär für Fiskalpolitik zu ernennen.

Bei der Zusammenstellung meines Teams beunruhigte mich der Gedanke, dass uns jegliche Erfahrung im Umgang mit der Troika fehlte, mit den Technokraten also, die regelmäßig im Namen der EU, der EZB und des IWF nach Athen kamen, in den Ministerien die Minister befragten und ihnen wie Knechten ihren Willen aufzwangen. Das verstand sich natürlich von selbst, da wir Bailoutistan nie gedient hatten und von den Beamten und den Troika-Vertretern wie Todfeinde behandelt wurden. Zum Glück lief ich eines Tages Elena Panaritis über den Weg, die die Sprache und Vorgehensweise der Troika kannte.

Elena hatte jahrelang in Washington gearbeitet, vor allem für die Weltbank; dort hatte sie beste Beziehungen zu einflussreichen Leuten geknüpft, die mit den Institutionen des sogenannten Washington-Konsenses in Beziehung standen (dem Reformpaket, das die USA krisengebeutelten Volkswirtschaften verschrieb), unter anderen dem ehemaligen US-Finanzminister Larry Summers, mit dem sie mich später bekannt machte (siehe Kapitel 1), und David Lipton, dem stellvertretenden geschäftsführenden Direktor des IWF. Wegen ihrer Arbeit in Peru im Auftrag der Weltbank und in Zusammenarbeit mit dem Willkürregime Präsident Fujimoris war sie in Griechenland und anderswo eine Hassfigur der Linken. Zu ihrer Verteidigung führte sie an, dass die Arbeit, egal für wen oder mit wem sie stattfand, wichtig und progressiv war, weil die Menschen in den Elendsvierteln der Städte zu Besitzern ihrer Hütten wurden und damit die Möglichkeit erhielten, in ihre Behausungen zu investieren, dort in Frieden zu leben und mit ihrer Immobilie auch am offiziellen Markt teilzuhaben.

Nachdem Elena unter Giorgos Papandreou über die Parteiliste ins griechische Parlament gelangt war, hatte sie das erste Rettungspaket mit abgesegnet, jedoch nie die Lüge geschluckt, dass die Rettungsaktion finanziell gelingen und Griechenland schon bald über den Berg sein würde. Wie sie mir damals erklärte, hatte sie aufgrund des immensen psychologischen Drucks von Papandreou und seinen Leuten für das Paket gestimmt. Und man muss Elena zugutehalten, dass sie sich anschließend zu einer der schärfsten Kritikerinnen des Rettungspakets entwickelte. Es war ein denkwürdiger Moment parlamentarischen Theaterdonners, als sie sich 2011 in einer wichtigen Ausschusssitzung erhob und in ihrem eigentümlichen Griechisch – das nicht ihre Muttersprache ist – mit bewegter Stimme ihre eigenen Minister verriss, weil sie die Umwandlung Griechenlands in eine Schuldnerkolonie zuließen.3 Als ich Elena ein paar Tage vor der Wahl wiedertraf, zögerte ich daher keine Sekunde, sie zu fragen, ob sie in mein Team kommen wolle, denn niemand kann besser gegen den Teufel kämpfen als jemand, der ihm schon gedient hat und durch diese Erfahrung sein erklärter Feind geworden ist.

Dasselbe galt für Natasha Arvaniti, ehemals Teilnehmerin an dem Doktorandenprogramm, das Nikos Theocarakis und ich 2003 an der Universität von Athen eingerichtet hatten. Natasha war danach in den öffentlichen Dienst eingetreten, ehe sie nach Brüssel wechselte, wo sie für die Troika arbeitete. Als Technokratin der Europäischen Kommission war sie nach Nikosia entsandt worden, um das Rettungspaket für Zypern durchzusetzen. Da Natasha aus eigener Erfahrung wusste, welche Zerstörung die Troika an ihren Wirkungsstätten hinterlässt, war sie in meinem Team hochwillkommen. Menschen wie sie und Elena halfen mir dabei, Stimmungen und Signale der Troika zu entschlüsseln und unsere Verhandlungstaktik entsprechend zu planen.

Solche Neuzugänge hatten den Nachteil, dass sie bei Syriza und in Alexis’ engerem Zirkel denen, die mir gern den Teppich unter den Füßen wegziehen wollten, jede Menge Munition lieferten für ihre Behauptung, ich plante unsere Kapitulation.

»Wir werden Probleme in der Partei bekommen, Yanis«, warnte mich Alexis eines Tages. »Brauchst du wirklich Leute wie Elena und Natasha? Man verknüpft sie mit den Rettungspaketen, und dadurch sind sie kompromittiert. Unsere Leute sind geladen.«

»Alexis«, erwiderte ich, »ist dir eigentlich klar, wie brutal unsere Konfrontation mit der Troika sein wird? Die machen keine Gefangenen. Ich brauche in meinem Team Leute, die die Troika kennen, die wissen, was sie in der Trickkiste hat, und die von ihr als würdige Gegner anerkannt werden.« Es gebe auch noch einen anderen Grund, erklärte ich: Ich vertraute Elena und Natasha, weil sie, anders als unsere Leute, ein schlechtes Gewissen hätten. Sie hatten das erniedrigende Tun der Troika selbst erlebt. Das hatte sie abgehärtet, und genau deshalb war ich mir sicher, dass sie sich nicht so leicht von ihren Gegnern vereinnahmen lassen würden wie einige unserer unerfahrenen Recken im Kampf gegen die Troika.

Unbeeindruckt von Alexis’ Unbehagen sicherte ich mir die Unterstützung weiterer Troika-Abtrünniger, einige aus dem Ausland. Einer von ihnen war Glenn Kim, der auf Empfehlung eines Verbündeten in den Medien zu uns stieß. Glenn war als Banker an vielen großen Anleihengeschäften zwischen Griechenland, der Eurozone und Deutschland beteiligt gewesen und arbeitete mittlerweile als selbstständiger Dienstleister für verschiedene europäische Regierungen. Wie man mir sagte, war er ein »ziemlicher Experte« für BIP-indexierte Anleihen, die ich als Teil eines Schuldentauschs für Griechenland vorschlagen wollte. Ich setzte mich gleich mit Glenn in Verbindung.

Ein paar Tage später, zehn Tage vor der Wahl, nippten Glenn und ich in einem Café ganz in der Nähe von Stournaras’ Bank von Griechenland an unserem Kaffee. Er machte sofort reinen Tisch und räumte ein, nicht nur bei der Ausarbeitung des griechischen Rettungspakets eine führende Rolle gespielt, sondern für die Eurozone auch die Institutionen für die Finanzierung des Rettungspakets mit entwickelt zu haben, und zwar im Auftrag unter anderem des deutschen Finanzministeriums.4

»Es war entsetzlich, was wir Griechenland 2011 und 2012 angetan haben«, gab er zu.

Ich fragte ihn, was er derzeit so treibe. Er erklärte, er arbeite für die isländische Regierung, helfe ihr bei der Umschuldung und wirke darauf hin, dass die nach dem Finanzkollaps 2008 verhängten Kapitalverkehrskontrollen wieder aufgehoben würden.

»Deine Idee von den BIP-indexierten Anleihen ist gut«, sagte er, »und ich glaube, ich kann dir bei der Ausarbeitung helfen. Es wäre meine Art, den langfristigen Schaden wiedergutzumachen, den ich und meinesgleichen in Griechenland angerichtet haben.«

Da ich einem geschenkten Gaul noch nie ins Maul geschaut hatte, willigte ich ein und fragte ihn, ob er nach einem Wahlsieg am 26. Januar nach Athen kommen könne.

Ein Zyniker würde vielleicht sagen, Fachleute wie Glenn hätten sich uns wegen des Geldes und ihrer eigenen Karriereziele angeschlossen. Kann sein. Aber wenn ich Leute auf meiner Seite hatte, die wussten, wo die Leichen im Keller versteckt waren, konnte ich das gar nicht hoch genug einschätzen. (Als die Apparatschiks der Troika Glenn in meinem Team sahen, bekamen sie fast einen Herzinfarkt.) Doch ich vermutete auch, dass ich mich in Glenns Fall nicht nur auf seine Professionalität verlassen konnte, sondern dass mehr als aufgeklärter Egoismus im Spiel war. Zwei Tage vor der Wahl bestätigte er mir das in einer E-Mail: »Yanis, wenn alles nach Plan geht, hat das gute Volk von Griechenland (und sogar von ganz Europa) einen neuen Kurs für die Zukunft eingeschlagen… Beim Gedanken an dieses Wochenende fallen mir Homers Worte ein: ›Ει ς οίωνός ἂριστος, άμύνεσθαι περί πάτρης.‹« Das Zitat stammt aus Homers Ilias und heißt übersetzt: »Ein Wahrzeichen nur gilt: das Vaterland zu erretten!«5

Auch ein anderes Machtzentrum im Ausland bot unserer Sache seine Dienste an: die französische Investmentbank Lazard unter Leitung von Daniel Cohen und Matthieu Pigasse. Wie Glenn hatte die Bank als Berater und Vermittler für das zweite Rettungspaket dem ums Überleben kämpfenden griechischen Staat viele Millionen Euro für ihre Dienste in Rechnung gestellt. Als Daniel und Matthieu mich um einen Termin baten, war ich daher überrascht, vorsichtig und skeptisch. Doch mit ihrem ehrlichen Bericht über ihre Mittäterschaft und ihrer genauso ehrlichen Entschuldigung sowie dem Angebot, Griechenland wieder auf die Beine zu helfen, indem sie ihre umfänglichen Dienste kostenlos leisteten, konnten sie mich überzeugen.

Mit diesen illustren Überläufern gewannen wir unendlich viel Sachverstand. Bei Syriza oder im Umfeld der Partei konnte niemand solche Kompetenz vorweisen. Das sollten meine schwersten Geschütze sein. Natürlich wurde meine Beziehung zu ihnen auch dazu genutzt, mir allerlei Schweinereien vorzuwerfen. Nicht zufällig stellte an eben dem Tag, an dem Glenn die Troika in Brüssel mit seiner Anwesenheit schockte, ein Oppositionsabgeordneter im Parlament die Frage, warum die griechische Regierung einen »Koreaner« in ihrem Team habe und in welcher Beziehung er zu mir stehe; er deutete damit finstere Beziehungen zu amerikanischen, asiatischen oder anderen dunklen Mächten an.6 Unterdessen warnten Syriza-Leute, oft mit guten Absichten und geleitet von ernsthaften Bedenken, ihre Partei vor einem Teufelspakt, den ich mit der Troika vorbereite.

Elena, Natasha, Glenn und die wohlmeinenden Leute von Lazard boten der Troika auch weiter die Stirn, nachdem die jungen Enthusiasten von Syriza eingeknickt waren. Gemeinsam mit ehemaligen Studenten und Absolventen des Doktorandenprogramms an der Universität von Athen dienten diese Troika-Überläufer uneigennützig unserer Sache, entwickelten hervorragende Wirtschaftsmodelle, leisteten unermüdlich Zuarbeit für die Verhandlungen und gaben mir enorme moralische Unterstützung, wenn wieder mal ein Treffen mit der Eurogruppe in der Villa Maximos oder in anderen Räumen anstand, bei dem erwachsene Menschen ein furchtbar schlechtes Benehmen an den Tag legten.

Während ich ein Expertenteam zusammenstellte, bat ich auch Freunde und potenzielle Verbündete außerhalb Griechenlands um Beistand. Eine solche Bitte richtete ich an Lord (Norman) Lamont. »Lieber Norman«, hieß es in meinem Schreiben:

Wie Du sicher den Presseberichten entnommen hast, gehen die Griechen am kommenden Sonntag zur Wahl. Was auch immer herauskommen mag: Ich kandidiere für einen Sitz im Wahlkreis Großraum Athen, und den Umfragen zufolge bin ich wohl dazu »verdammt«, ihn auch zu erobern. Schlimmer noch: Wenn meine Partei die Regierung bildet (was durchaus wahrscheinlich ist), erbe ich das Finanzministerium – das voll ist mit leeren Truhen und aus Brüssel und Frankfurt enormen Druck bekommt. Kann ich in den vor uns liegenden turbulenten Zeiten wohl auf Dich als künftigen Berater zählen?

In der Hoffnung, dass es Dir gut geht,

Yanis

Norman antwortete umgehend. Ja, er sei willens und bereit, mir beratend zur Seite zu stehen. Als ich erwiderte, die Problematik übersteige das Thema Schulden und Anleihen bei Weitem, denn es gehe auch um die Souveränität des Parlaments, und die Frage aufwarf, ob die Demokratie ein Luxus sei, der den Bürgerinnen und Bürgern eines verschuldeten Staates verweigert werden dürfe, antwortete er:

Ich stimme selbstverständlich völlig mit dem überein, was Du über die Demokratie und die Souveränität des Parlaments sagst. Ich versuche Cameron und Osborne ständig in Erinnerung zu rufen, dass es in der gewünschten Neuverhandlung unserer Beziehung zur EU um die Wiederherstellung der Souveränität und nicht nur um Wirtschaft und Wettbewerbsfähigkeit geht. Wir beide sind uns da einig. Ich stimme Dir auch zu, dass in der Eurozone zu viel Wert auf Austerität als einziges Mittel gelegt worden ist … Vorausgesetzt, dass Du Finanzminister wirst, werde ich alles mir Mögliche tun, um Dir zu helfen … Ich habe da ein paar Ideen. Viel Glück Dir persönlich. Mit den besten Grüßen

Norman

Meine Freundschaft mit dem Erz-Tory und Euroskeptiker Lord Lamont of Lerwick, der als Schatzkanzler dafür gesorgt hatte, dass Großbritannien aus dem Europäischen Währungssystem ausstieg und das Vereinigte Königreich somit nicht dem Euro beitreten konnte, biss sich mit meinem Image als nicht ganz zurechnungsfähiger linker Extremist. Für manche lieferte sie einen Beweis dafür, dass ich, geleitet und angestachelt von Lamont, darauf aus war, Griechenland aus dem Euro zu holen.

Natürlich war genau das Gegenteil richtig. Als sich die Krise ein paar Monate später zuspitzte und Wolfgang Schäuble uns zum Grexit drängte, lautete Normans Ratschlag, mir das wirklich gründlich zu überlegen angesichts der Kosten und Gefahren, die eine Rückkehr zur nationalen Währung mit sich brächte. In meinen einhundertzweiundsechzig Tagen als Minister erwies sich Norman als Fels in der Brandung und gab mir Ratschläge zum letzten Entwurf für die Vorschläge zu Reformen, Schulden und Finanzpolitik, die ich EU und IWF unterbreitete. Wenn mehr linke Politiker so klare Kante gezeigt hätten, so hätten wir vielleicht ein völlig anderes Ergebnis erzielt.

Zu meinen ausländischen Unterstützern zählten neben Norman der Ökonom der Columbia University Jeff Sachs, der eine wichtige Rolle als Berater und Fürsprecher spielte, der bereits erwähnte Thomas Mayer von der Deutschen Bank, Larry Summers und Jamie Galbraith. Jamie hatte jahrelang an der Ausarbeitung des Buches Bescheidener Vorschlag zur Lösung der Eurokrise mitgewirkt; er bemühte sich in Washington, die Abneigung gegen Alexis und Syriza zu mildern, schrieb Reden für Alexis und stellte Konferenzen auf die Beine, um die Anglosphäre auf die neue Syriza-Regierung vorzubereiten.

Am 20. November schrieb ich Jamie eine gut gelaunte E-Mail:

Jamie,

gestern erzählte mir Alexis, er habe einen Anruf von einem bekannten Banker erhalten, der damit drohte, dass er am Tag nach unserem Wahlsieg die Geldautomaten seiner Bank ausschalten würde, sollte Alexis mich zum Finanzminister ernennen. Alexis fragte ihn daraufhin, wie alt er sei. Der Banker erwiderte: fünfundsechzig. Darauf sagte Alexis: Wenn Sie mich stürzen, bin ich jung genug, um wieder hochzukommen. Sie nicht!

Das war so ein Moment, in dem mich einfach nur Stolz erfüllte auf meine Freunde, alte wie neue, und Glück, mir so fiese Feinde gemacht zu haben.

Das wüste Land

Man bräuchte schon die poetischen Fähigkeiten eines T. S. Eliot oder eines John Steinbeck, um das volle Ausmaß der Verwüstung zu schildern, das im Januar 2015 in Griechenland herrschte. Hier werden wir uns mit einem Zahlenvergleich zufriedenstellen müssen.

Großbritannien wurde Anfang der 1980er-Jahre von einer Vervierfachung der Arbeitslosigkeit erschüttert. Ursache war eine Rezession, die 1980 bis 1981 nur ein Jahr andauerte und in der das Bruttoinlandsprodukt um 1,26 Prozent sank. Die nächste Rezession traf Großbritannien ein Jahrzehnt später und dauerte ebenfalls nur ein einziges Jahr (1990 bis 1991); das Bruttoinlandsprodukt fiel um 1,78 Prozent. Erst kürzlich, nach der Kreditkrise, brachte eine weitere einjährige Rezession (2008 bis 2009) das Land ins Taumeln, und das Bruttoinlandsprodukt sank um immerhin 5,15 Prozent. Vergleichen wir diese drei traumatischen Krisen mit dem Unglück, das die Griechen befiel.

Im Jahr 2010, dem Jahr des ersten Rettungspakets, hatte das Bruttoinlandsprodukt gegenüber dem Vorjahr um sage und schreibe 7,5 Prozent abgenommen. Verbesserte sich durch die Rettungsaktion etwas? Im Gegenteil: Von 2010 bis 2011 fiel es um weitere 8,9 Prozent. Das Jahr 2011 bis 2012 war ein vergleichsweise gutes Jahr, denn die Wirtschaft schrumpfte lediglich um 1,1 Prozent. Welchem Umstand hatten wir diese Ruhepause zu verdanken? Ironischerweise der von der Wirtschaftskrise ausgelösten politischen Krise, die dazu führte, dass wir entweder gar keine Regierung hatten oder eine, die zu schwach war, um weitere Sparmaßnahmen zu beschließen!

Doch sobald Ministerpräsident Samaras im Juni 2012 mit einer kleinen, aber soliden parlamentarischen Mehrheit ins Amt kam, sorgte die Troika dafür, dass er die verlorene Zeit wettmachte, indem er die Sparmaschine mit voller Kraft wieder anwarf. Das Ergebnis? Das bis dahin grausamste Jahr: Das Bruttoinlandsprodukt ging bis Ende 2013 um weitere 14 Prozent und im Jahr 2014 noch einmal um 3,3 Prozent zurück.

Wenn britische Freunde mitleidig anmerken, Griechenland stehe heute da, wo Großbritannien in der Großen Depression gestanden habe, bedanke ich mich für den freundlich gemeinten Vergleich, muss sie aber gleichzeitig korrigieren. Zwischen 1929 und 1932 schrumpfte die britische Wirtschaft um 4,9 Prozent, und die Arbeitslosigkeit stieg von 8 auf 17 Prozent. (An dieser Stelle erscheint vor meinem geistigen Auge eine griechische Version der von John Cleese verkörperten Figur in Monty Pythons’ Sketch »Four Yorkshiremen«, die ruft: »Ihr hattet Glück! Luxus!«) Griechenland dagegen erlebte sechs Rezessionsjahre in Folge, den Verlust von 28 Prozent seines Bruttoinlandsproduktes, den Verlust eines Fünftels seiner Arbeitsplätze und eine Arbeitslosenrate, die von 7 auf 27 Prozent hochschnellte, mit einer Jugendarbeitslosigkeit von mehr als 65 Prozent.

Und dennoch glauben manche noch heute, da ich diese Zeilen schreibe, dass Ende 2014 die griechische Wirtschaft auf dem Weg der Besserung war und bis Ende 2015 über den Berg gewesen wäre, wenn diese idiotischen griechischen Wähler nicht die wirtschaftliche Erholung aufs Spiel gesetzt hätten, indem sie am 25. Januar 2015 für Leute wie mich stimmten. Wie unartige Kinder, die auf dem Rücksitz mit ihrem ständigen »Wann sind wir endlich da?« den Fahrer ablenken, habe die griechische Wählerschaft ihr Land just in dem Moment vom Weg der Erholung abgebracht, als es auf die Zielgerade einbog. Und ohne den unerträglichen Finanzminister der populistischen Regierung, die die Griechen wählten, wäre ein drittes Rettungspaket niemals nötig gewesen. Ist da vielleicht doch etwas dran?

Die gezackte graue Linie in Schaubild 1 zeigt das Inlandsprodukt Griechenlands, unverfälscht durch statistische Tricks und angegeben in Euro (siehe auch Anhang 1). Die darübergelegte schwarze Linie gibt den Viermonatsdurchschnitt wieder, der die Gesamtentwicklung klarer abbildet. Das eingefärbte Oval hebt die Zeitspanne im Jahr 2014 heraus, als die angebliche Erholung einsetzte. Können Sie sie sehen? Die griechischen Wähler sahen sie jedenfalls nicht.


Das unbereinigte BIP Griechenlands (vierteljährlich) 2007 bis 2014, darüber der jeweilige Viermonatsdurchschnitt.

Als sich abzeichnete, dass ich in diesem wirtschaftlichen Umfeld griechischer Finanzminister werden könnte, hielt ich eine Rede vor Mitgliedern des Europaparlaments, Journalisten und anderen sogenannten Meinungsmachern. Auf die Frage, ob eine neue Regierung die »jüngste Erholung« gefährden könnte, blieb mir nichts anderes übrig, als meinen Zuhörern die miserablen Fakten darzulegen, die so gut wie nie in der Presse erschienen.

In Griechenland leben 10 Millionen Griechen (wegen Auswanderung sinkt die Zahl rapide), die sich auf etwa 2,8 Millionen Haushalte mit einer »Beziehung« zu den Steuerbehörden verteilen.

Von diesen 2,8 Millionen Haushalten haben 2,3 Millionen (mit 3.5 Millionen Steuernummern) Schulden beim Finanzamt, die sie nicht bedienen können.

Da eine Million Haushalte ihre Stromrechnung nicht vollständig bezahlen können, gibt das Stromunternehmen immer weiter Kredit und tut so, als könnten die Schulden noch bezahlt werden, was dazu führt, dass eine Million Haushalte nächtliche Dunkelheit und das Stromunternehmen die Insolvenz befürchten müssen. Und tatsächlich schaltet die Staatliche Stromgesellschaft monatlich etwa 30.000 Haushalten und Firmen wegen unbezahlter Rechnungen den Strom ab.

Für 48,6 Prozent der Familien sind Renten ihre Haupteinkommensquelle. Unterdessen fordert die Troika eine weitere Rentenkürzung. Die einst 700 Euro Altersrente wurden seit 2010 bereits um 25 Prozent gekürzt und sollen in den nächsten Jahren halbiert werden.

Das Mindesteinkommen ist (auf Anweisung der Troika) um 40 Prozent gesunken.

Andere Sozialleistungen wurden um mehr als 18 Prozent gekürzt.

Etwa 40 Prozent der Bevölkerung werden nach eigener Aussage in diesem Jahr ihren finanziellen Verpflichtungen nicht nachkommen können.

Die Arbeitslosigkeit ist um 160 Prozent gestiegen, sodass heute 3,5 Millionen Beschäftigte 4,7 Millionen arbeitslose oder nicht arbeitende Griechen unterstützen.

Von 3 Millionen erwerbsfähigen Personen sind 1,4 Millionen arbeitslos.

Von den 1,4 Millionen Arbeitslosen erhalten nur 10 Prozent Sozialleistungen und nur 15 Prozent überhaupt irgendeine Unterstützung. Die Übrigen müssen sich allein durchschlagen.

Von den Beschäftigten im privaten Sektor bekommen 500.000 schon seit mehr als drei Monaten kein Gehalt.

Firmen, die für den Staat tätig sind, werden erst bis zu vierundzwanzig Monate nachdem sie ihre Arbeit verrichtet und die Umsatzsteuer an die Steuerbehörde abgeführt haben, bezahlt.

Zwischen 2008 und 2014 reduzierten kleine und mittlere Unternehmen ihre Belegschaft um 29,3 Prozent, und ihre Produktion (gemessen an der Wertschöpfung) sank um 40,2 Prozent.

Die Hälfte der im gesamten Land noch tätigen Firmen ist mit den Beiträgen zur Renten- und Sozialversicherung ihrer Angestellten erheblich im Zahlungsrückstand.

Im Jahr 2013 waren 36 Prozent der Bevölkerung offiziell von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Dieser Prozentsatz steigt.

Das verfügbare Haushaltseinkommen ist seit 2010 um 30 Prozent gesunken.

Allein die Gesundheitsausgaben wurden zwischen 2009 und 2011 um 11,1 Prozent gekürzt; in der Folge stieg die Zahl von HIV-Infektionen, Tuberkuloseerkrankungen und Totgeburten deutlich an.

Konnte man diese düsteren Zahlen, die den Umbau unserer Nation in ein wüstes Land dokumentierten, wirklich als Zeichen der Besserung sehen? Oder erklären sie vielmehr, warum die griechischen Wählerinnen und Wähler die angebliche wirtschaftliche Erholung ihres Landes nicht zu erkennen vermochten?

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