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Ein offener Austausch

Die Stimmung bei Alexis und Betty war aufgekratzt gewesen. Samaras’ Regierung hatte in den Meinungsumfragen massiv an Rückhalt verloren, Neuwahlen waren demnächst zu erwarten. Sie wollten eine Strategie für den mittlerweile wahrscheinlichen Fall diskutierten, dass Syriza die Wahl gewinnen würde.

Mir war nicht danach, ihre freudige Aufregung zu teilen. Das Programm von Thessaloniki hatte meine Befürchtungen verstärkt, Alexis könnte drauf und dran sein, die womöglich letzte Chance unserer Generation zu verspielen, Griechenland aus dem Schuldgefängnis zu befreien. Deshalb betonte ich sehr, welche Durststrecke und welche Risiken vor uns lagen, und wiederholte die Argumente, die ich ihnen bei unserem Treffen im Juni hatte nahebringen wollen. Es war schön und gut, für das »positive Szenario« zu beten, das Dragasakis so gerne beschwor, aber wir mussten uns auf der Stelle für ein wahrscheinlicheres, sehr viel weniger schönes Szenario vorbereiten.

»Ich will euch sagen, was euch meiner Meinung nach erwarten wird, sobald ihr die Regierungsverantwortung habt«, begann ich, als wir alle im Wohnzimmer Platz genommen hatten. »Ihr könnt damit rechnen, dass am Montag nach eurer Wahl ein Bankensturm einsetzt.«3

Gerüchte, die EZB könnte die Banken schließen, würden Anleger veranlassen, ihre Euros abzuheben und entweder unter die Matratze zu stecken oder ins Ausland zu transferieren. Genau das sei 2012 passiert und im Jahr darauf in Zypern. Vertreter von EU und IWF würden es nicht eilig haben, mit einer Regierung zu verhandeln, die sie destabilisieren wollten. Sie würden erst mal nichts tun und abwarten, bis Alexis und sein Team vor der ersten von vielen unmöglichen Rückzahlungen an den IWF und die EZB stehen würden, die ab März 2015 fällig wären.4 Wie wir im Juni besprochen hatten, musste eine Syriza-Regierung deshalb darauf vorbereitet sein, vom ersten Tag an zu signalisieren, dass sie diese Zahlungen schlichtweg nicht leisten würde, wenn EU und IWF nicht bereit wären, mit gutem Willen zu verhandeln. Wenn dieser Fall eintrat, würden die EU und der IWF zweifellos antworten, die EZB sei nicht länger in der Lage, den griechischen Banken Liquidität zur Verfügung zu stellen, weil hinter deren Schuldverschreibungen ein insolventer Staat stehe. Diese Drohung lief darauf hinaus, dass die EZB ihre Notfall-Liquiditätshilfe einstellen und damit die Banken praktisch schließen würde.

Die Stimmung war nun nicht mehr so heiter.

»Ich hoffe, nichts davon tritt ein. Vielleicht kommt es nicht so. Aber es wäre dumm, sich nicht darauf vorzubereiten«, sagte ich. »Wenn sie sich für den Kriegspfad entscheiden, werden sie euch auf die Probe stellen, um zu sehen, ob ihr blufft und was eure wirklichen Prioritäten sind.«

»Was, denkst du, will Merkel?«, fragte Alexis. »Ich kann einfach nicht glauben, dass sie meint, es läge in ihrem Interesse, eine weitere Krise heraufzubeschwören.«

»Berlin wird es nicht wagen, die Märkte zu verärgern, indem es die griechischen Banken schließt«, warf Pappas ein. »Griechenland ist nicht Zypern. So können sie mit uns nicht umspringen, das hätte Konsequenzen.«

Ich war anderer Meinung. Nach meiner Ansicht hatten Merkel und Schäuble nicht die Absicht, zu ihrem Parlament zu gehen und um Schuldenerleichterungen für Griechenland zu bitten. Damit würden sie eingestehen, dass die ersten beiden Rettungspakete unter falschen Voraussetzungen gewährt worden waren. Ein solches Eingeständnis konnte Berlin nur vermeiden, wenn es einen dritten Rettungskredit organisierte und damit Griechenland weiter im Schuldgefängnis hielt, aber offiziell nicht für bankrott erklärte. Doch da für jedes Rettungspaket ein griechischer Ministerpräsident geopfert werden musste (Papandreou beim ersten, Samaras beim zweiten) und eine neue Regierung es durch das Parlament bringen musste, würden sie entweder versuchen, Alexis auf ihre Seite zu ziehen oder für ein solches Chaos zu sorgen, dass seine Regierung stürzte. Dann könnte man sie durch eine fügsame technokratische Administration ersetzen, genau wie sie es 2012 getan hatten.

Alexis schaute düster drein. »Aber was ist mit Pappas’ Argument? Haben sie nicht Angst vor Aufruhr an den Märkten?«

»Haben sie«, bestätigte ich. »Aber in dem Augenblick, in dem du in die Villa Maximos einziehst, wird die EZB alle Schleusen öffnen, um die Eurozone mit viel Geld zu stabilisieren.« Ein solches Programm der »quantitativen Lockerung« beinhaltet den massenhaften Ankauf von Staatsanleihen mithilfe der digitalen Notenpresse der EZB. Dadurch würden die Zinsen in Schlüsselländern wie Italien, Spanien und Frankreich sinken. Die EZB plante das seit zwei Jahren, es war Mario Draghis Strategie, um Zeit für den Euro zu kaufen.

»Es wäre dumm, das als Zufall anzusehen«, fuhr ich fort. »Merkel wird denken, dass in dem Augenblick, in dem die Märkte mit EZB-Geld geflutet werden, eine von der EZB erzwungene Schließung der griechischen Banken für sie selbst und für Europas Investoren halbwegs glimpflich über die Bühne gehen dürfte.«

»Wie können wir ihren Plan durchkreuzen?«, fragte Alexis.

»Indem wir ihnen eine einigermaßen anständige Vereinbarung abtrotzen«, erwiderte ich. »Du musst der EZB einen guten Grund geben, dass sie zögert, bevor sie die Banken zumacht.«

Das wichtigste Abschreckungsargument: die verbleibenden griechischen Schulden bei der EZB

Die Strategie, um die EZB von einer Bankenschließung abzuhalten, die wir im Juni diskutiert hatten – basierend auf den fünf Punkten, die ich bei der ersten Begegnung mit Alexis’ Wirtschaftsteam im Mai 2013 vorgelegt hatte und die wiederum auf einem Paper aus dem Juni 2012 basierten –, stand und fiel mit der juristischen Schlacht, die sich Mario Draghi von der EZB und die Bundesbank unter Jens Weidmann lieferten. Draghi hatte versprochen, große Mengen von Staatsanleihen von Europas Wackelkandidaten aufzukaufen, um die Eurozone zu stützen. Die Bundesbank hatte gegen das Anleihekaufprogramm geklagt mit der Begründung, es verstoße gegen die Satzung der EZB. Im Februar 2014 hatten die deutschen Gerichte den Fall an den Europäischen Gerichtshof verwiesen. Die europäischen Richter entschieden zugunsten von Draghi, aber mit einigen gewichtigen Einschränkungen – und diese Einschränkungen gaben nach meiner Analyse einer künftigen Syriza-Regierung beträchtlichen Spielraum. Ich interpretierte das Urteil so, dass Draghi sein Ankaufprogramm nur fortsetzen konnte, wenn die EZB davor geschützt war, die Staatsschulden abschreiben zu müssen, die sie bereits besaß. Das betraf auch die sogenannten SMP-Anleihen: griechische Staatsanleihen, die die EZB von privaten Investoren im Rahmen des Securities Markets Programme gekauft hatte.

Die Summe, die der griechische Staat der EZB in Form dieser ausstehenden Anleihen noch schuldete, belief sich auf 29 Milliarden Euro. Aus Griechenlands Sicht war das eine Menge Geld, zumal im Juli und August 2015 Rückzahlungen von insgesamt 6,6 Milliarden anstanden. Aber aus der Sicht der EZB waren es Peanuts im Vergleich zu der einen Billion Euro und noch mehr, die sie auszuschütten gedachte. Trotzdem waren diese wenigen Milliarden griechische Schulden für die EZB juristisch bedeutsam: Ein Haircut bei diesen Schulden oder eine Verzögerung bei der Rückzahlung würde Draghi und die EZB durch die Bundesbank und das deutsche Verfassungsgericht angreifbar machen, würde die Glaubwürdigkeit seines gesamten Programms zum Aufkauf von Schulden untergraben und einen Konflikt mit Kanzlerin Merkel heraufbeschwören, denn sie würde sich niemals mit der Bundesbank und dem Verfassungsgericht gleichzeitig anlegen. Angesichts dieser mächtigen Gegner musste Draghi damit rechnen, dass seine Freiheit drastisch beschnitten werden würde; das wiederum würde das Vertrauen der Märkte in sein bislang magisches Versprechen, »alles zu tun, was nötig ist«, um den Euro zu retten, aushöhlen – und dieses Versprechen war das Einzige, was den Kollaps der Währung noch verhinderte.

»Mario Draghi wird im März 2015 ein großes Programm zum Aufkauf von Schulden starten, ohne das Programm ist es mit dem Euro vorbei«, sagte ich. »Er kann nichts gebrauchen, was das verhindert.«5 Eine Syriza-Regierung musste deshalb Draghi signalisieren, dass sie einen für beide Seiten vorteilhaften Deal mit der EU, der EZB und dem IWF wollte und dafür zu Kompromissen bereit war. Aber sie musste auch signalisieren, diskret, aber entschlossen, dass sie es als Casus Belli betrachten würde, wenn Draghi als Reaktion auf einen Sieg von Syriza die griechischen Banken schließen sollte. Sie würde dann umgehend die nötigen Gesetze erlassen, um die Rückzahlung der griechischen Staatsanleihen im Besitz der EZB um, sagen wir, zwei Jahrzehnte hinauszuschieben. Ich hatte keinen Zweifel, dass die EZB die griechischen Banken nicht schließen würde, wenn eine Syriza-Regierung früh ihre Absicht kundtat, sich auf diese Weise mit einem Haircut bei den griechischen SMP-Anleihen im Besitz der EZB zu wehren.

»Draghi ist ein zu kluger Zentralbanker, um das zu riskieren, nur damit Berlin euch plattmachen kann«, sagte ich zu Alexis. »Wenn ihr es allerdings nicht schafft, ihn zu überzeugen, dass ihr es mit dem Schnitt bei den SMP-Anleihen ernst meint, hat er keinen Grund mehr, die deutsche Regierung zu verärgern, indem er ihre Forderung zurückweist, euch mit einer Schließung der Banken in die Knie zu zwingen.«

Wie schon 2012 gab ich mir auch an diesem Abend in Alexis’ Wohnung die allergrößte Mühe, eine schlichte Tatsache zu betonen: Bei diesem und jedem anderen Aspekt der Verhandlungen, die Syriza führen würde, durften sie auf keinen Fall bluffen. Selbst wenn Draghi die Banken schließen sollte, musste Alexis’ Regierung gerüstet sein, die Wirtschaft einige Wochen am Laufen zu halten. Aber wenn er sich behauptete – Berlin und Frankfurt zeigte, dass seine Regierung zwar eine ehrenhafte Übereinkunft wollte, notfalls aber dennoch einen kostspieligen, ungeliebten Grexit dem Albtraum von Kapitulation und Schuldknechtschaft vorziehen würde –, dann konnten echte Verhandlungen beginnen.

Waren sie bereit, diese Schlacht bis zum Ende zu führen?

Pappas schien verärgert, dass ich die Frage stellte. Alexis war reservierter und antwortete eher resigniert: »Wir haben keine Wahl.« Dragasakis sagte nichts.

Sie brauchten unbedingt einen Plan, um in dem Augenblick, in dem die Banken schließen würden, Zeit zu kaufen: einen Weg, um mehrere Wochen durchzuhalten, damit sie nicht sofort, wenn die Geldautomaten kein Geld mehr ausspuckten, zwischen Grexit und Kapitulation wählen müssten. Wenn klar war, dass Syriza es ernst meinte, hätten auch Merkel und Draghi die Chance, vor dem endgültigen Bruch noch einmal innezuhalten. Dafür brauchten sie ein Zahlungssystem, das in dem Augenblick aktiviert werden konnte, in dem die Banken schlossen.

Ein paralleles Zahlungssystem

Der von mir skizzierte Plan, den ich im Juni erwähnte und in der Fünf-Punkte-Strategie im Mai 2013 aufgriff, basierte auf früherer theoretischer Arbeit zu der Frage, wie die unter fiskalpolitischem Druck stehenden Regierungen der Eurozone durch einen neuartigen Einsatz der Websites ihrer Finanzämter etwas Spielraum gewinnen könnten. Es war ganz einfach.

Nehmen wir einmal an, ein Staat schuldet Unternehmen A eine Million Euro, zögert die Zahlung aber hinaus, weil er finanziell klamm ist. Nehmen wir weiter an, Unternehmen A schuldet seiner Angestellten Jill 30.000 Euro und einem Lieferanten, Unternehmen B, noch einmal 500.000 Euro. Gleichzeitig schuldet Jill dem Staat 10.000 Euro an Steuern, und Unternehmen B schuldet ihm 200.000 Euro. Stellen wir uns vor, das Finanzamt würde für jeden Steuerzahler (um präzise zu sein: für jede Steuernummer) ein Reservekonto einrichten, auch für die Unternehmen A und B und für Jill. Dann könnte der Staat einfach eine Million Euro auf das Reservekonto von Unternehmen A »einzahlen«, indem er die Zahl eintippt und jedem Steuerzahler eine PIN gibt, um »Geld« von einem Reservekonto auf ein anderes zu transferieren. Unternehmen A könnte so 30.000 Euro auf Jills Reservekonto transferieren und 500.000 auf das Reservekonto von Unternehmen B. Jill und Unternehmen B könnten mit dem Geld ihre jeweiligen Steuerschulden in Höhe von 10.000 Euro beziehungsweise 200.000 Euro an den Staat bezahlen. Damit ließen sich schlagartig viele Zahlungsrückstände ausgleichen.

Ein solches System wäre schon in guten Zeiten eine großartige Sache für Portugal, Italien, auch für Frankreich. Für Griechenland wäre es in dem Notfall, dass die EZB die Banken schließen würde, überlebenswichtig, weil alle möglichen Transaktionen weitergehen könnten, nicht nur Transaktionen mit dem Staat. Zum Beispiel könnten Renten teilweise auf Reservekonten gezahlt werden, und eine Rentnerin könnte einen Teil der Summe dann auf das Konto etwa ihrer Vermieterin transferieren, die ebenfalls Steuern bezahlen muss. Diese Kredite könnten zwar nicht in bar aus dem System herausgenommen werden, aber es würde funktionieren, solange der Staat sie weiter anstelle von Steuern akzeptieren würde. Und es würde sehr gut funktionieren, wenn man es in zweierlei Hinsicht weiterentwickelte.

Jeder griechische Staatsbürger hat einen Ausweis. Stellen wir uns vor, es würden neue Ausweise ausgegeben in Form einer Smartcard mit einem Chip, wie ihn moderne Giro- und Kreditkarten heute schon haben. Die Ausweise von Rentnern, Staatsbediensteten, Sozialhilfeempfängern, Lieferanten des Staates – alle, die Geschäfte mit dem Staat abwickeln – könnten mit ihren Reservekonten bei der Finanzverwaltung verknüpft und dann dafür eingesetzt werden, um in Supermärkten, an Tankstellen und ähnlichen Einrichtungen für Waren und Dienstleistungen zu bezahlen. Mit anderen Worten: Selbst wenn die Banken geschlossen würden, selbst wenn der Staat illiquide wäre, könnte die Regierung weiterhin ihren Verpflichtungen nachkommen, indem sie die Ausweise ihrer Bürger einfach in Kreditkarten verwandeln würde – natürlich nur so lange, wie der Gesamtwert der Kredite den Staat nicht in ein Haushaltsdefizit treiben würde.

Zweitens könnte sich der Staat mit diesem System bei griechischen Bürgern Geld leihen und so die Geschäftsbanken umgehen, die feindseligen und misstrauischen Finanzmärkte und natürlich die Troika. Die Bürger könnten Steuerkredite vom Staat erhalten und darüber hinaus die Option, online Kredit beim Finanzamt zu erwerben, wenn sie Onlinebanking in Verbindung mit ihren normalen Bankkonten nutzen würden. Warum sollten sie das wollen? Weil der Staat ihnen einen Abschlag von, sagen wir, 10 Prozent anbieten würde, sofern sie später, sagen wir in einem Jahr, den Kredit dafür verwenden würden, ihre Steuern zu bezahlen. De facto würde sich der Staat auf diese Weise zu einem Zinssatz von 10 Prozent, den kein Europäer heute bei einer Bank bekommt, Geld bei seinen Bürgern leihen. Solange das Gesamtvolumen der Steuerkredite der Regierung nach oben begrenzt und vollkommen transparent wäre, wäre das Ergebnis eine fiskalisch verantwortungsvolle Erhöhung der staatlichen Liquidität, mehr Freiheit gegenüber der Troika und damit eine Abkürzung auf dem Weg zu dem Endziel einer vernünftigen neuen Vereinbarung mit der EU und dem IWF.

Dragasakis schien beeindruckt. Er bat mich, das alles schriftlich zu formulieren. Alexis und Pappas schienen beruhigt durch den Gedanken, dass ein solches Vorgehen ihnen nach dem Bruch mit den Gläubigern wertvolle Zeit kaufen würde. Achtundvierzig Stunden nach meiner Rückkehr nach Austin schickte ich einen zehnseitigen Entwurf an Pappas, den er an Alexis und Dragasakis weitergeben sollte.

Spulen wir jetzt vier Monate vor, in den März 2015, zu einer Kabinettssitzung der Syriza-Regierung, die Alexis als Ministerpräsident leitete. Nach der Einschätzung, dass die Konfrontation mit der Troika mit einem Rachemanöver an Tag eins begonnen hatte, genau wie ich vorausgesagt hatte, erläuterte ich einen Gesetzentwurf zur Bekämpfung der humanitären Krise, den mein Ministerium im Parlament eingebracht hatte: An dreihunderttausend Familien, die unterhalb der Armutsgrenze lebten, sollten Debitkarten ausgegeben werden mit einer Kreditlinie von einigen Hundert Euro im Monat zur Deckung ihrer Grundbedürfnisse.

»Aber diese Karten sind erst der Anfang«, erklärte ich. »Bald könnten sie die Personalausweise ersetzen und die Grundlage für ein Zahlungssystem abgeben, das parallel zu den Banken existiert.«

Ich erläuterte, wie das System funktionieren würde, und skizzierte dann seine vielen Vorteile: Es würde der Regierung mehr fiskalischen Spielraum geben, die Armen zu unterstützen, ohne sie durch die Verteilung von Lebensmittelcoupons zu stigmatisieren, und vor allem würde es der Troika signalisieren, dass Griechenland ein Zahlungssystem besaß, das unsere Wirtschaft weiter am Laufen halten würde, wenn sie unsere Banken schließen sollte. Und dann war da noch ein letzter Punkt: Sollte die Troika Griechenland aus der Eurozone werfen, was sich der deutsche Finanzminister seit Jahren wünschte,6 könnte dieses Zahlungssystem mit einem Knopfdruck in eine neue Währung umfunktioniert werden.

Als die Kabinettssitzung vertagt wurde, kamen die meisten Minister zu mir und sagten mir, wie begeistert sie von dem Vorschlag seien. Einige klopften mir auf den Rücken, andere umarmten mich, eine Ministerin versicherte, sie sei bewegt und inspiriert.

Fünf Monate später, nach meinem Rücktritt, kritisierte mich die Presse, weil ich ohne einen Plan B in harte Verhandlungen gegangen sei. Tagelang machten sich Politiker nicht nur der Opposition, sondern auch viele Syriza-Abgeordnete in den Medien über mich lustig, weil ich angeblich in die Höhle des Löwen marschiert sei, ohne einen Plan zu haben für den Fall, dass die Banken geschlossen würden. Ich wartete darauf, dass Alexis oder jemand anderes aus dem Kabinett aufstehen und die Sache klarstellen würde. Aber keiner tat das. In einer Telefonkonferenz unter der Leitung von David March vom Official Monetary and Financial Institutions Forum machte ich daher in meiner Antwort auf die Frage, was bei den Verhandlungen der griechischen Regierung mit der EU und dem IWF schiefgegangen war, meine Pläne für ein paralleles Zahlungssystem öffentlich.

Die Diskussion wurde vermeintlich nach der Chatham-House-Regel geführt: Danach dürfen Teilnehmer zitieren, was gesagt wurde, aber ohne den jeweiligen Sprecher zu identifizieren. Doch diese Regel wurde missachtet. Umgehend wurden Aufzeichnungen meiner gesamten Präsentation publik. Und sofort warfen mir dieselben Journalisten und Politiker, die mich lächerlich gemacht hatten, weil ich angeblich keinen Plan B hatte, das genaue Gegenteil vor: »Varourakis’ geheimer Grexitplan« war eine typische Schlagzeile, die suggerierte, ich hätte hinter dem Rücken von Alexis einen teuflischen Plan ausgeheckt, um Griechenland aus dem Euro zu führen. Rufe, mich anzuklagen und vor Gericht zu stellen, wurden lauter. Während ich diese Zeilen schreibe, schwebt tatsächlich eine Anklage wegen Hochverrats im griechischen Parlament über mir, weil ich angeblich Ministerpräsident Tsipras mit einer »Verschwörung« in den Rücken gefallen sei.

Es ist für mich eine Quelle des Stolzes und der Freude, dass glühende Anhänger der Troika in Griechenland jede Gelegenheit nutzen, um mich fertigzumachen. Ich betrachte ihre Angriffe als einen Orden, der mir dafür verliehen wurde, dass ich es gewagt hatte, ihre Forderungen in der Eurogruppe abzulehnen. Aber es erfüllt mich mit Traurigkeit, dass einstige Kabinettskollegen, Menschen, die zu mir kamen, um meinen Vorschlag für ein Zahlungssystem zu loben, entweder so tun, als hätten sie nie davon gehört, oder in solche Verleumdungen mit einstimmen.

Das Angebot

Das Angebot traf mich vollkommen unerwartet. Gegen Mitternacht verlagerte sich die Diskussion in Alexis’ Wohnung von Abschreckung und parallelen Zahlungssystemen zur praktischen Politik. Alexis informierte mich, dass Neuwahlen sehr wahrscheinlich seien. Die Amtszeit der Regierung lief noch über zwei Jahre, aber es war zweifelhaft, ob sie den März 2015 überstehen würde, den Monat, in dem die fünfjährige Amtszeit des Präsidenten der Republik endete. Sofern es Ministerpräsident Samaras nicht gelang, rund um seinen Präsidentschaftskandidaten eine gestärkte parlamentarische Mehrheit zu mobilisieren, würde das Parlament automatisch aufgelöst, und Neuwahlen würden anberaumt werden.7 Und dann trug Alexis unter den wachsamen Augen von Dragasakis ganz beiläufig sein Angebot vor.

»Wenn wir gewinnen, und daran besteht kein Zweifel, möchten wir, dass du unser Finanzminister wirst.«

Während meiner Reise von Austin nach Athen hatte ich immer wieder die Worte vor mich hin gesagt, mit denen ich sein Angebot ablehnen würde – nur dass ich mit einem ganz anderen Angebot gerechnet hatte, dem des Chefunterhändlers unter Finanzminister Dragasakis. Aber nun schlug Alexis mir vor, die beiden Rollen zu vereinen und mir zu übertragen.

Um Zeit zu gewinnen und ehrlich verwirrt wandte ich mich an Dragasakis: »Aber ich dachte, du würdest das Finanzministerium übernehmen?«

Alexis schaltete sich ein: »Dragasakis wird als stellvertretender Ministerpräsident die drei Wirtschaftsressorts kontrollieren.« Damit meinte er das Finanzministerium, das Wirtschaftsministerium und ein neues Ministerium für Produktiven Wiederaufbau.8

Das veränderte alles. Die vorgeschlagene Kabinettsstruktur war vernünftig. Der einzige Grund, Alexis’ Angebot jetzt abzulehnen, wären Zweifel an den wahren Absichten von ihm und Dragasakis, an ihrem Format und Charakter. Es wäre, gelinde gesagt, merkwürdig gewesen, derart fundamentale Bedenken direkt vorzubringen. Stattdessen sprach ich eine andere prinzipielle Frage an.

»Wie du weißt, habe ich erhebliche Vorbehalte gegen das Programm von Thessaloniki. Tatsächlich kann ich ihm kaum etwas abgewinnen, und da ihr es dem griechischen Volk als euer wirtschaftliches Versprechen präsentiert habt, sehe ich beim besten Willen nicht, wie ich als Finanzminister die Verantwortung für seine Umsetzung übernehmen könnte.«

Erwartungsgemäß schaltete sich Pappas an der Stelle ein und wiederholte, das Programm von Thessaloniki sei für mich nicht bindend. »Du bist nicht einmal Mitglied von Syriza.«

»Aber wird man nicht erwarten, dass ich als Finanzminister Mitglied werde?«

Alexis hatte die Antwort offensichtlich schon vorbereitet: »Nein, auf keinen Fall. Ich will nicht, dass du Mitglied von Syriza wirst. Du sollst unbelastet von den verworrenen kollektiven Entscheidungsprozessen in unserer Partei bleiben.«

In meinem Kopf schrillten mehrere Alarmglocken. Alexis’ Argument war vernünftig, barg aber enorme Risiken. Auf der einen Seite würde es mir wertvolle Freiheit verschaffen, wenn ich halbwegs unabhängig von Syriza agieren konnte, einer Partei, deren mehr als dünne wirtschaftspolitische Strategie ich seit Jahren kritisierte. Alexis konnte dann bei all meinen Entscheidungen, die der Parteilinie zuwiderliefen, auf die Tatsache verweisen, dass ich nicht an die Parteilinie gebunden war. Aber das konnte jederzeit als Vorwurf auf mich zurückfallen, und dann hätte ich die Partei gegen mich, deren Unterstützung ich im Kampf gegen die Troika und die griechische Oligarchie doch dringend brauchen würde. Auch diese Sorge konnte ich nicht mit ihnen teilen.

Der Druck, mich zu entscheiden, wuchs, doch ich musste sicher sein: Waren wir uns über Ziele und Mittel wirklich einig? Wenn nicht, wäre mein Leben herrlich unkompliziert geblieben.

»Schauen wir, ob wir uns über Grundlegendes einigen können, bevor wir über meine Rolle in einer Syriza-Regierung sprechen«, schlug ich vor.

Ich beabsichtigte, ihnen eine aktualisierte, feste, klar umrissene Version der Fünf-Punkte-Strategie vorzulegen, die ich Alexis 2012 präsentiert hatte und die dann so schmählich abgelehnt worden war.9

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9783956142185
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