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3. Eine vernünftige Haushaltspolitik und Vorschläge für eine Umschuldung

Syriza sollte laut und deutlich verkünden, ihre Regierung werde dafür sorgen, dass der Staat nicht über seine Verhältnisse lebte, in guten wie in schlechten Zeiten. Technisch bedeutete das, einen kleinen Primärüberschuss anzustreben, nicht mehr als 1,5 Prozent des BIP – nicht genug, um die nicht tragfähigen Staatsschulden zurückzuzahlen, aber genug, um den Staat flüssig zu halten, während der private Sektor eine Chance haben würde, wieder Luft zu holen. Als Vorbedingung dafür musste Syriza eine so umfassende Umschuldung vorschlagen, dass künftig Rückzahlungen mit einem Primärüberschuss von 1,5 Prozent möglich sein würden. Während der Verhandlungen mit der Eurogruppe und ihrer Troika über diesen letzten Punkt musste sich eine Syriza-Regierung darauf einstellen, die höchsten Gehälter und besonders großzügige Renten zu kürzen, um so viel Geld einzusparen, wie nötig wäre, um über die Runden zu kommen.

4. Ein Notfallplan zur Bekämpfung der humanitären Krise

Unterdessen sollte eine Syriza-Regierung unverzüglich Vorkehrungen treffen, die vielen Hunderttausend Familien, die am meisten litten, mit Nahrungsmitteln, Energie und Wohnraum zu versorgen. Lambros und all jene, die wie er vollkommen abzustürzen drohten, sollten bei der Regierung oberste Priorität haben. Die Ausweise sollten kostengünstig durch eine Smartcard mit Zahlungsfunktion ersetzt werden. Die Funktion würde für Familien unterhalb der absoluten Armutsgrenze aktiviert werden, damit sie in Supermärkten damit bezahlen, ihre Stromrechnung und Wohnkosten begleichen konnten.

5. Ein bescheidener Vorschlag, um die Eurozone funktionsfähig zu machen

Als progressive proeuropäische Kraft sollte die Syriza-Regierung nicht nur für die Griechen verhandeln, sondern mit umfassenden Vorschlägen für den Umgang mit Europas Staatsschulden und Banken, für die Investitionspolitik und die Bekämpfung der Armut nach Brüssel gehen – Vorschläge, ohne die die Eurozone nicht nachhaltig ist. Meine Empfehlung an das Wirtschaftsteam von Syriza lautete deshalb, den Bescheidenen Vorschlag zur Lösung der Eurokrise zu übernehmen, an dem Stuart Holland, Jamie Galbraith und ich über Jahre gearbeitet hatten.

Um diese Ziele zu erreichen, sagte ich den Anwesenden, müssten sie mit einem umfassenden Programm nach Brüssel reisen, das nicht nur für Griechenland gut wäre, sondern auch für alle anderen europäischen Länder. Sie müssten ein klares Signal setzen, dass Athen sich nicht länger durch Einschüchterung dazu bringen lassen würde, immer neue Kredite zu akzeptieren. Die Verantwortlichen in der EU und beim IWF müssten begreifen, dass Syriza mit dem Ziel angetreten sei, Griechenland in der Eurozone zu halten und Kompromisse zu finden. Aber ihnen müsste auch klargemacht werden, dass Syriza notfalls bereit wäre, die Verhandlungen zu verlassen, ungeachtet ihrer Drohungen. Wenn sie nicht dazu bereit wären, sei es von vornherein sinnlos, überhaupt in Verhandlungen einzutreten.

Alexis und Pappas wirkten zufrieden. Euklid und Stathakis signalisierten ebenfalls grundsätzliche Zustimmung. Dragasakis stellte die entscheidende Frage: »Wie können wir die Eurogruppe, die EZB und die Troika davon überzeugen, dass wir nicht bluffen?« Die Frage traf tatsächlich ins Schwarze, das war der Dreh- und Angelpunkt der ganzen Strategie.

Ich erwiderte, Syrizas Wünsche und Prioritäten müssten allgemein bekannt gemacht werden. Alle müssten wissen, dass eine von Syriza geführte Regierung vor allem eine praktikable Vereinbarung innerhalb der Eurozone wolle, aber eher den Grexit akzeptieren werde, ein schreckliches Ergebnis, als eine Kapitulation, das schlimmstmögliche Ergebnis. Wenn diese Reihenfolge der Prioritäten allgemein bekannt wäre, würde die Verantwortung für den Grexit mit all seinen Kosten und den juristischen Problemen, die er nach sich ziehen würde, unweigerlich bei der EU und dem IWF liegen. Es wäre ganz allein ihre Verantwortung, und das würden sie auch wissen.

Aber auch wenn Syrizas wahre Präferenzen bekannt wären, würden die Verantwortlichen von EU und IWF ganz sicher Alexis’ Entschlossenheit auf eine denkbar harte Probe stellen. Es war auch möglich, dass die EU und der IWF letztlich doch Griechenland lieber aus dem Euro werfen würden, als sich mit einer Syriza-Regierung zu einigen, oder dass sie Alexis so unter Druck setzen würden, dass der Grexit quasi aus Versehen passierte. Auf meine Ausführungen folgte eine lange, konstruktive Diskussion, in der wir diese Szenarien durchspielten. Aber mein zentrales Argument war folgendes: Alles hing davon ab, die Eurogruppe, die EZB und die Troika davon zu überzeugen, dass sie es mit ihren Präferenzen ernst meinten; wenn ihnen das nicht gelang, war alles umsonst. Darüber müssten sie sich klar werden, schärfte ich ihnen ein:

Glaubt ihr wirklich ganz fest, tief in eurem Inneren, dass es schlimmer ist, »den Samaras zu machen«, wie er vor der Troika zu kapitulieren, als aus dem Euro geworfen zu werden? Wenn ihr nicht sicher seid, lasst ihr besser Samaras in der Villa Maximos bleiben. Denn was nützt es, die Macht für eine Konfrontation mit den Gläubigern zu erringen, um dann vor der Troika einzuknicken und die Schuld für ihre Unmenschlichkeit auf sich zu nehmen? Gewinnt die Macht nur, wenn ihr fest entschlossen seid, nicht zu bluffen, weil ihr wisst, dass eine Kapitulation noch schlimmer ist als ein furchtbarer Grexit. Nur dann wird Griechenland eine Chance haben, nachhaltig in der Eurozone zu bleiben und den Grexit ein für alle Mal hinter sich zu lassen.

Auf dem Weg zur Tür legte Pappas mir den Arm um die Schulter und sagte: »Das war brillant. Von jetzt an wird das unsere Linie sein.«

Wachsende Skrupel

Am Abend des 11. Juni 2013, eine Stunde vor Mitternacht, froren die Fernsehbildschirme ein. Zwei Stunden lang zeigten die Sender nur einen Moderator, dem man mitten im Satz das Wort abgeschnitten hatte, als er gerade erklären wollte, dass die Regierung beschlossen hatte, die drei staatlichen Fernsehsender zu schließen, alle regionalen und nationalen Radiosender und die Satellitenstation, die die griechische Diaspora mit Nachrichten aus Griechenland versorgte. Es war etwa so, als wären schlagartig alle BBC-Sender ausgefallen und alle Radiostationen der BBC verstummt.

Ich traute meinen Augen nicht. Meine Erinnerung raste zurück in die Zeit von Griechenlands faschistischen Diktatoren, deren erste Maßnahme bei ihrem Putsch darin bestanden hatte, die Fernsehsender zu übernehmen. Sie hatten sich wenigstens die Mühe gemacht, ein Bild der griechischen Flagge zu senden, allerdings mit Militärmusik unterlegt. In Bailoutistan fror die der Troika ergebene Regierung einfach für zwei Stunden das Bild ein. Dann wurden die griechischen Bildschirme schwarz – das beste Symbol, dass die neue Regierung auf einen autoritären Kurs eingeschwenkt war, nachdem das katastrophale Scheitern ihrer Erfolgsgeschichte offenbar geworden war.

Minuten nach dem Blackout drangen Demonstranten in das Gebäude des Fernsehsenders ERT ein, aus dem man mich 2011 verbannt hatte. Das war der Beginn einer monatelangen Besetzung, die den Geist der Proteste auf dem Syntagma-Platz wiederaufleben ließ. Am nächsten Morgen flogen Danae, Jamie Galbraith und ich nach Thessaloniki, um den Mitarbeitern von ERT unsere Unterstützung anzubieten. Dort hielt erst ich eine Rede, und nach mir sprachen Jamie und Alexis vor einem brechend vollen Saal. Meine Rückkehr zu ERT als einer von Tausenden Demonstranten und Gast in dem inoffiziellen Programm, das die Mitarbeiter über das Internet sendeten, hätte nicht freudiger und trauriger zugleich sein können.

Unter dem Eindruck dieser Ereignisse und meiner Treffen mit dem Wirtschaftsteam von Syriza nahm im Lauf des Sommers so etwas wie eine kohärente Agenda langsam Gestalt an. Im November 2013 organisierten Jamie und ich eine zweitägige Konferenz an der Universität Texas zu dem Thema »Ist die Eurozone zu retten?«, an der Alexis, Pappas und Stathakis teilnahmen und Vorträge hielten, die gut ankamen. Der Gedanke dabei war, die drei führenden Syriza-Politiker Vertretern des Establishments aus Europa und den Vereinigten Staaten vorzustellen, Gewerkschaftlern, Wissenschaftlern und Journalisten.

Es war auch eine hervorragende Gelegenheit, um Alexis’ Entschlossenheit zu testen, sich an die Logik der Fünf-Punkte-Strategie zu halten. Während der Konferenz erlebten er und Pappas eine hitzige Diskussion zwischen mir und Heiner Flassbeck, einem linken deutschen Ökonomen, in der Regierung Schröder Staatssekretär im Finanzministerium. Flassbeck behauptete, innerhalb der Eurozone sei Griechenlands Befreiung aus dem Schuldgefängnis unmöglich. Er hielt daran fest, der Grexit sei das richtige Ziel für eine Syriza-Regierung oder zumindest die beste Drohung, die man gegen Griechenlands Gläubiger einsetzen konnte – die gleiche Position vertrat die Linke Plattform, eine offizielle Fraktion innerhalb von Syriza, die ein Drittel der Mitglieder des Zentralkomitees zu ihren Gefolgsleuten zählte.35 In Austin gelangte ich zu der Erkenntnis, dass Alexis diese Position ablehnte und überzeugt war, wenn jemand mit dem Grexit drohe, dann müsse das die Troika sein und nicht Syriza.

Der Winter ging vorüber. Samaras’ Regierung bemühte sich weiter, ihre »Erfolgsgeschichte« zu verkaufen, und die griechische Gesellschaft versank weiter im wirtschaftlichen Sumpf. Im April 2014 konnte die Regierung einen letzten Erfolg verkünden, als Stournaras mit stillschweigender Unterstützung der EZB Staatsanleihen an Investoren verkaufte. Doch im Mai siegte Syriza bei den Wahlen zum Europaparlament, und ihr Sieg zeigte, dass sich die Wähler nicht täuschen ließen. Einen Monat später gab Wolfgang Schäuble die Regierung Samaras auf. Veränderung lag in der Luft.

Für den Sommer war ich wieder nach Griechenland zurückgekehrt. Im Juni traf ich mich mit Alexis und seinem Wirtschaftsteam, um sie vor einer neuen Gefahr zu warnen. Im Kleingedruckten einer ansonsten harmlosen Pressemitteilung der EZB hatte gestanden, dass sie in nächster Zukunft Schuldverschreibungen, die von den Banken geretteter Länder ausgegeben wurden und für die deren Regierungen bürgten, nicht mehr als Sicherheit für Kredite akzeptieren werde. Mit anderen Worten: Ein wichtiger Teil des Verschleierungsmanövers, mit dem die vier größten griechischen Banken ihre tägliche Liquidität gesichert hatten, drohte zu verschwinden. Das Datum, an dem die Neuregelung in Kraft treten sollte, ließ alle Alarmglocken in meinem Kopf schrillen: März 2015 – der Monat, in dem die Amtszeit des griechischen Staatspräsidenten endete, in dem mutmaßlich Neuwahlen stattfinden würden und aller Wahrscheinlichkeit nach Syriza eine Regierung bilden würde.

»Begreift ihr, was sie damit bezwecken?«, fragte ich Alexis, Pappas, Dragasakis, Euklid und Stathakis, nachdem ich ihnen die Bombe der EZB gezeigt hatte. Am Tag nach der Regierungsübernahme von Syriza würde Mario Draghi ihnen mitteilen, dass die EZB wie angekündigt den griechischen Banken praktisch sofort den Zugang zu Liquidität sperren müsse. Damit schuf die EZB die Bedingungen, um ohne Vorwarnung oder Grund sofort nach der Regierungsübernahme von Syriza die Banken zu schließen.

Dragasakis schaute mich fassungslos an. »Und was passiert dann?«

Ich setzte ihm auseinander, die Banken könnten dann nur noch weiter funktionieren, wenn die griechische Zentralbank mitspielte. Sie könnte ihnen über die sogenannte Notfall-Liquiditätshilfe (ELA) Geld leihen. Die griechische Zentralbank ist de facto ein Ableger der EZB, deshalb würde auch dann das Geld von der EZB kommen, allerdings indirekt und zu einem höheren Zinssatz, und die EZB könnte den Geldhahn auch zudrehen.36 Aber bevor all das passieren würde, wäre noch ein anderes Hindernis zu überwinden.

»Ist es Zufall, dass in drei Tagen Ministerpräsident Samaras Stournaras aus dem Finanzministerium entlassen und an der Spitze der Zentralbank installieren wird?«, fragte ich. »Offensichtlich ist es ein Schachzug, der euren Wahlsieg vorwegnimmt.«

An dem Punkt wurde Alexis ärgerlich. »Als Ministerpräsident werde ich als Erstes den Rücktritt von Stournaras verlangen. Notfalls werde ich ihn persönlich aus der Zentralbank herausprügeln.« Pappas hatte einige noch drastischere Lösungsvorschläge für dieses Problem.

Ich wies darauf hin, dass es eigentlich keine Rolle spielte, wer im Büro des Zentralbankchefs saß; für eine Syriza-Regierung musste es oberste Priorität haben, Draghi an der Schließung der Banken zu hindern. Die Fünf-Punkte-Strategie, die ich im Jahr zuvor formuliert hatte, sah als Erstes vor, Draghi klarzumachen, dass die Schließung von Banken durch die EZB eine Reaktion Athens auslösen würde, die womöglich die gesamte Eurozone zu Fall bringen könnte. Die Frage war: Standen sie wirklich hinter der Strategie, und würden sie sich mit allen anlegen, die wie Draghi dachten, nicht nur Stournaras, sondern auch griechische Banker wie Aris und Zorba?

Alexis und Pappas reagierten enthusiastisch: Sie würden ohne Zögern so handeln. Euklid, angeblich derjenige im Team, der am weitesten links stand, stimmte zu. Stathakis nickte. Dragasakis hingegen drückte sich in einer Weise aus, die ich als typisch für ihn kennenlernte: »Machen wir auf der Grundlage des positiven Szenarios weiter. Wenn nötig, werden wir reagieren.«

Eine Woche später präsentierten Alexis und ich in dem herrlichen Garten des Athener Museums für Byzantinische und Christliche Kunst wieder vor einem großen Publikum die griechische Übersetzung des Bescheidenen Vorschlags zur Lösung der Eurokrise. Alexis’ Team war vollzählig anwesend, Dragasakis saß in der ersten Reihe – eine eindrucksvolle Demonstration, dass sie diese Strategie unterstützten.

Zwei Wochen später traf ich mich wieder mit Alexis und Pappas.

»Ist dir klar«, fragte Pappas, »dass niemand anderer als du die Umsetzung der Strategie leiten kann, die du empfohlen hast? Bist du bereit dazu?«

Ich erwiderte, dass ich bereit sei zu kämpfen, dass ich aber nicht viel davon hielte, wenn Technokraten in die Politik katapultiert würden. Tatsächlich hatte ich große Bedenken. Um im Namen eines Landes zu verhandeln, braucht man ein demokratisches Mandat. Der Bescheidene Vorschlag brachte meine persönlichen Überzeugungen zum Ausdruck, und ich hatte nicht vor, die Entpolitisierung der Wirtschaftspolitik, einer durch und durch politischen Domäne, zu legitimieren. Überdies waren es Dragasakis, Euklid und Stathakis gewesen, die Syriza über Jahrzehnte hinweg aufgebaut hatten. Dafür gebührte ihnen der Respekt der Partei. Ich hingegen könnte immer nur ein Stellvertreter für sie sein, und deshalb wäre ich nicht in der Lage, die Verhandlungen mit der erforderlichen Autorität zu führen. Schließlich waren auch meine Zweifel, ob sich die internen Prioritäten von Syriza tatsächlich mit einer glaubwürdigen Regierungsagenda vereinbaren ließen, nicht geschwunden.

Eine Woche später bestätigte Wassily Kafouros, ein Freund aus meinen Studienjahren in England, meine Befürchtungen. Er fragte mich, ob ich als Einziger nicht wisse, dass Dragasakis sehr enge Verbindungen zu den Bankern habe. Ich erwiderte, dass ich das nicht glaube. »Was für Beweise hast du, Wassily?«

»Beweise habe ich nicht«, räumte er ein, »aber es ist allgemein bekannt, dass ihm schon immer daran gelegen war, sogar schon in seinen kommunistischen Zeiten, ein enges Verhältnis zu den Bankern zu haben.«

Ich vermutete, dass der Vorwurf falsch war, und obwohl mir noch immer Zweifel im Kopf herumgingen wie ruhelose Schlangen, beschloss ich, dass es keinen Zweck hatte, wenn ich mir über Probleme Sorgen machte, die ich nicht lösen konnte. Die Wahlsieger mussten die Bogen weglegen. Ich konnte nur auf die Fallstricke hinweisen und Vorschläge machen, wie man sie vermeiden konnte.

KAPITEL 4
Wassertreten

Segler nennen sie das steinerne Schiff oder kurz Steinschiff: drei große Felsen, die im Saronischen Golf weit ins Meer ragen. Von einem Boot, das sich ihnen bis auf eine Seemeile nähert, sehen sie tatsächlich wie ein Geisterschiff aus, das langsam auf Kap Sounion mit dem zauberhaften Poseidon-Tempel zusteuert. Es hat einen ganz besonderen Reiz, unweit der Fahrrinne im Schatten des Steinschiffs in dem unglaublich blauen Wasser zu schwimmen.

Im August 2014 traten Alexis und ich etwa fünfzig Meter von dem Steinschiff entfernt Wasser, so weit weg wie möglich von neugierigen Ohren. Unser Gespräch drehte sich um Vertrauen. Vertraute Alexis seinem Team so weit, dass es sich mit Bankern wie Aris und Zorba anlegen würde? Vertraute er ihnen, dass sie ohne Furcht vor – und ohne den Wunsch nach – dem Grexit mit der Troika verhandeln würden? Würden sie es mit der Troika aufnehmen, die willens und bereit war, sie mittels der Banken zu ersticken, während Griechenlands Oligarchen Amok liefen?

Alexis wich geschickt aus und schlug konsequent einen optimistischen Ton an. Ich hielt an mich, um ihn nicht mit meinen Zweifeln zu überschütten, musste ihm aber die Frage stellen, die mir auf den Nägeln brannte, seit Wassily sie aufgeworfen hatte:

»Alexis«, begann ich so beiläufig wie möglich. »Ich habe gehört, Dragasakis stehe den Bankern sehr nahe. Und ganz allgemein, dass er nach außen unseren Rettungsplan vertritt, während er in Wahrheit daran arbeitet, den Status quo zu erhalten.«

Alexis antwortete nicht gleich. Stattdessen blickte er erst einmal in die Ferne in Richtung des Peloponnes, bevor er sich mir zuwandte. »Nein, das glaube ich nicht. Er ist okay.«

Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte, dass er so kurz angebunden war. Hatte er ebenfalls Zweifel, die aber vom Vertrauen in die Integrität seines älteren Gefährten aufgewogen wurden, oder wies er meine Frage ab? Bis heute weiß ich es nicht. Ich weiß nur, dass er darauf beharrte, dass ich keine Wahl hätte: Wenn der Augenblick gekommen sei, müsse ich bei den Verhandlungen eine führende Rolle übernehmen.

Weil ich keine Lust hatte, meine Bedenken noch einmal aufzuzählen, erwiderte ich spontan: »In Ordnung, Alexis, du kannst mit mir rechnen. Aber nur unter einer Bedingung.«

»Welche?«, fragte er lächelnd.

»Dass ich Syrizas Wirtschaftsprogramm für die Wahl mit formulieren kann. Es darf nicht wieder so sein wie 2012.«

Alexis versprach mir, dafür zu sorgen, dass Pappas mich auf dem Laufenden halten und sich mit mir abstimmen würde, bevor er sich zu wirtschaftspolitischen Fragen äußerte. Mittlerweile war es Zeit, dass wir zu unseren Partnerinnen Betty und Danae zurückschwammen, die in einem kleinen Schlauchboot auf uns warteten.

Blut, Schweiß und Tränen

Einen Monat später war ich wieder in Austin. Dort hörte ich in den Nachrichten, dass Alexis eine große Rede in Thessaloniki gehalten hatte, in der er Syrizas Wirtschaftsprogramm skizzierte. Ich war sprachlos und besorgte mir umgehend den Text. Eine Welle von Übelkeit und Ärger überrollte mich. Ich ging sofort an die Arbeit. Den Artikel, der innerhalb von weniger als einer halben Stunde entstand, nutzte Ministerpräsident Samaras kurz nach seiner Veröffentlichung, um Syriza im Parlament fertigzumachen: »Selbst Varoufakis, euer Guru in Wirtschaftsfragen, sagt, dass eure Versprechen nichts wert sind.« Und so war es auch.

Das Programm von Thessaloniki, wie Alexis’ Rede getauft wurde, war gut gemeint, aber konfus und hatte definitiv nichts mit der Fünf-Punkte-Strategie zu tun, die Alexis und Pappas angeblich unterstützten. Das Programm versprach Lohnerhöhungen, Subventionen, Sozialleistungen und Investitionen, das Geld dafür sollte aus Quellen kommen, die entweder nicht existierten oder illegal waren. Es enthielt auch Versprechen, die wir besser nicht erfüllen sollten. Vor allem aber war es unvereinbar mit jeder vernünftigen Verhandlungsstrategie, um Griechenland in der Eurozone zu halten, obwohl es ausdrücklich behauptete, Griechenland solle in der Eurozone bleiben. Tatsächlich war es so dilettantisch zusammengeschustert, dass ich mir nicht einmal die Mühe machte, es Punkt für Punkt zu kritisieren. Stattdessen schrieb ich:

Wie sehr hätte ich mir gewünscht, eine andere Rede von Alexis Tsipras zu hören, eine Rede, die mit der Frage begonnen hätte »Warum soll man uns wählen?«, und sie dann beantwortet hätte: »Weil wir euch nur drei Dinge versprechen, Blut, Schweiß und Tränen!«

Blut, Schweiß und Tränen, was Winston Churchill bei seiner Amtsübernahme 1940 dem britischen Volk versprach, als Lohn für seinen Anteil am Sieg.

Blut, Schweiß und Tränen, die allen Europäern, nicht nur uns Griechen, das Recht eintragen werden, auf ein Ende des heimlichen, aber rücksichtslosen Kriegs gegen Würde und Wahrheit zu hoffen.

Wir müssen bereit sein, Blut, Schweiß und Tränen zu vergießen, um das Land wieder auf den richtigen Weg zu bringen, was unmöglich ist, wenn wir uns weiter wie Mustergefangene verhalten, die auf vorzeitige Entlassung aus dem Schuldgefängnis hoffen, und wenn wir uns weiter Geld leihen, während zugleich unsere Einnahmen sinken, aus denen wir unsere Rückzahlungen leisten müssen.

Wenn ihr für uns stimmen wollt, dann dürft ihr das nur tun, wenn ihr zu Blut, Schweiß und Tränen bereit seid, die wir euch als fairen Preis dafür versprechen, dass ihr aus dem Mund der Regierungsmitglieder die Wahrheit hört und in Europa Vertreter haben werdet, die weder betteln noch bluffen, sondern eine Strategie verfolgen, die bisher noch keine Regierung verfolgt hat, und die Strategie lautet:

Den Mächtigen die Wahrheit zu sagen.

Unseren Partnern die Wahrheit zu sagen.

Den Bürgern Europas die Wahrheit zu sagen.

Über den beklagenswerten Zustand unserer Banken die Wahrheit zu sagen.

Über unsere »Überschüsse« die Wahrheit zu sagen.

Über die nicht vorhandenen Investitionen die Wahrheit zu sagen.

Und schließlich und besonders schmerzlich: Die Wahrheit zu sagen, dass es keine Aussicht auf Rettung gibt, solange die tödliche Umarmung zwischen einem bankrotten Staat, bankrotten Banken, bankrotten Unternehmen und bankrotten Institutionen fortbesteht.

Noch ein letzter Punkt: Bevor ihr für uns stimmt, sollt ihr wissen, dass wir einen Wahlsieg mehr fürchten als eine Niederlage, dass wir starr vor Angst sind bei dem Gedanken, wir könnten die Wahl gewinnen. Aber wenn ihr euch entscheidet, für uns zu stimmen, damit wir euch wie versprochen Blut, Schweiß und Tränen bringen als Gegenleistung für Wahrheit und Würde, wenn ihr eure Furcht überwindet, dann versprechen wir, dass wir unsere Furcht davor überwinden, dieses Land zu regieren und aus der Hoffnungslosigkeit zu befreien.1

Freunde und Feinde glaubten nach der Veröffentlichung dieses Artikels übereinstimmend, dass dies das Ende meiner kurzen Liaison mit der Führung von Syriza sein würde. Ich glaubte das auch, bis Pappas mich einige Tage später anrief. Er war kurz angebunden und klang so, als wäre nichts geschehen. Ich überließ es ihm zu entscheiden, ob mein Artikel alles verändert hatte oder nicht.

»Er verändert nichts«, erwiderte er unbekümmert. »Du wirst das richtige Wirtschaftsprogramm formulieren. Das Programm von Thessaloniki war ein Kampfaufruf an unsere Truppen. Das ist alles.«

Entnervt sagte ich ihm, was ich dachte: Die Unterstützung unserer Truppen war entscheidend wichtig, und sie anzulügen war bestimmt nicht der richtige Weg, ihre Unterstützung zu bekommen. Unbeeindruckt beruhigte er mich mit ominösen Worten. »Parteipolitik ist das eine, und Regierungspolitik ist das andere. Du kümmerst dich um die Regierungspolitik und überlässt uns die Parteipolitik.«

Ich fragte, wer hinter dem Programm von Thessaloniki stehe. Pappas sagte, Dragasakis habe es mit Unterstützung von Euklid formuliert. Dass Dragasakis im Spiel war, überraschte mich nicht, aber Euklids Beteiligung war eine Enttäuschung. Ich hätte mehr von meinem Freund erwartet. »Wer immer diese Monstrosität geschrieben hat«, sagte ich, »das torpediert jede vernünftige Verhandlungsstrategie.«

Als ich den Telefonhörer auflegte, war mein Mund so trocken und bitter, dass ich mehrere Gläser Wasser trinken musste, bevor ich mit Danae über das Telefonat sprechen konnte. Die Führung von Syriza erzählte untereinander eine Geschichte und den Parteianhängern eine ganz andere. Es war der sichere Weg zu Konfusion, Spaltung und Niederlage gegenüber Gegnern, die einig, mächtig und entschlossen waren. Das, was wir unserem Volk sagten, und das, was wir den Vertretern der Troika, der EU und des IWF, Berlin und Washington, der internationalen Presse und den Finanzmärkten erzählten, sollte eine einheitliche, glaubwürdige Botschaft sein, an der nicht zu rütteln war. Danaes Reaktion auf meine Einschätzung, die Taktik von Pappas und Alexis werde unweigerlich alle künftigen Verhandlungen unterminieren, fiel eindeutig aus: »Du darfst dabei nicht mitmachen.«

Ich stimmte ihr zu.

Die Entscheidung, auf Abstand zu bleiben, brachte sofortige Erleichterung. Doch mein Seelenfrieden währte nur zwei Monate. Ende November 2014 ereilte mich der Ruf erneut, als ich mich auf eine Reise nach Florenz vorbereitete, wo ich einen Vortrag halten sollte. Pappas war am Telefon. Als er hörte, dass ich auf dem Weg nach Italien war, beschwor er mich, vor der Rückkehr nach Austin einen Abstecher nach Athen zu machen. »Du musst unbedingt kommen.« Widerstrebend buchte ich um.

In Florenz sprach ich vor einem Auditorium besorgter italienischer Beamter, Banker und Wissenschaftler. Ich stellte eine neuere Version des Bescheidenen Vorschlags vor, eine Reihe politischer Strategien, die im Rahmen der bestehenden europäischen Regeln umgesetzt werden konnten mit dem Ziel, die Eurokrise überall zu beenden, nicht nur in Italien und Griechenland.2 Am nächsten Morgen nahm ich den Zug nach Rom und von dort ein Flugzeug nach Athen. Auf dem kurzen Flug überlegte ich, was Alexis und Pappas wohl von mir wollten. Die Zeitungen am Flughafen waren voller Gerüchte über baldige Wahlen. Hatten meine Freunde bei Syriza die Botschaft meines Artikels aufgenommen?

Das Taxi setzte mich vor unserer leeren Wohnung ab. Ich stellte meinen Koffer ab und war freudig überrascht, dass mein Motorrad nach drei Monaten Herumstehen sofort ansprang. Eine Viertelstunde später hielt ich bei Alexis’ Wohnblock, wo mich noch unten auf der Straße zwei Wachposten empfingen. Mit dem Aufzug fuhr ich ganz nach oben, zur Wohnung von Alexis, Betty und ihren beiden wunderbaren kleinen Söhnen. Pappas und Dragasakis waren schon da. Es war früher Abend.

Ich verließ die Wohnung erst wieder früh am Morgen des nächsten Tages, fuhr zu unserer Wohnung zurück, wo ich meinen Koffer holte und mir ein Taxi zum Flughafen rief. Dann ging es zurück nach Austin.

»Was ist passiert?«, fragte Danae am Telefon.

»Das sage ich dir, wenn ich bei dir bin.« Zum ersten Mal hütete ich am Telefon meine Zunge aus Angst, dass jemand mithören könnte.

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