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2.2Stress und Krankheit


Am Anfang eines Seminars zum Thema „Krise und Krankheit“ steht mitunter eine Übung, in der die Studierenden gebeten werden, die Augen zu schließen und sich möglichst entspannt hinzusetzen. Nach einer kleinen „meditativen Reise durch den eigenen Körper“ werden sie gebeten, sich an die letzte Krankheit zu erinnern: „Woran waren Sie erkrankt? Wo wohnten Sie zu dieser Zeit? Mit welchen Menschen standen Sie in Verbindung? Welche Aufgaben standen – abgesehen von Krankheit und Gesundung – zu dieser Zeit für Sie an? Welchen Verlauf nahm die Krankheit, und welche Faktoren und welche Menschen haben zur Gesundung beigetragen? Wie fühlten Sie sich nach der Gesundung? Gab es Veränderungen im Leben, und welche Aufgaben standen nun an?“

Eine weitere, vertiefende Übung kann darin bestehen, die wesentlichen erinnerten Krankheiten des bisherigen Lebens auf eine linke Spalte eines Bogens zu schreiben und auf der rechten Spalte die Lebenssituation und Entwicklungsaufgaben der jeweiligen Zeit festzuhalten. Mitunter zeigt sich, dass Krankheit und Gesundheit zumindest subjektiv korrelieren mit bestimmten Herausforderungen anderer, beispielsweise sozialer Art, die sich manchmal wie ein roter Faden durch das bisherige Leben durchziehen. Krankheit, so hat es den Anschein, tritt besonders in Phasen des Übergangs und subjektiv als Stress erlebte Herausforderung auf. Zwar gibt es externe Krankheitsfaktoren, die mehr oder weniger unabhängig einen Menschen krank machen, doch können mitunter Zusammenhänge zwischen sozialem und subjektivem Empfinden und einer erhöhten Krankheitsanfälligkeit bestehen: Jeder kennt das Phänomen, dass er in Zeiten schweren körperlichen oder seelischen Stresses eine erhöhte Infektanfälligkeit aufweist. In Zeiten psychischen und sozialen Wohlbefindens hingegen kann sich unsere Resilienz gegenüber Infektionen erhöhen.

Krankheitsgewinn

In der psychosomatischen Medizin sind solche Zusammenhänge schon seit langem bekannt. So stellen psychosomatisch orientierte Ärztinnen und Ärzte bei Auftreten einer Krankheit auch die Schlüsselfrage: „Warum diese Krankheit und warum jetzt“? Sie gehen dabei u. a. auch von der Erkenntnis aus, dass eine Krankheit primären und sekundären Krankheitsgewinn mit sich bringen kann. Unter Letzterem versteht man die Fürsorge, Rücksichtnahme, Zuwendung und Rollenbefreiung, die eine Krankheit möglicherweise zur Folge hat: Man wird von Hausarbeiten entlastet, krankgeschrieben und von der Verantwortung für momentane Schwächen befreit, wie das bereits im Rollenmodell von Parsons zum Ausdruck gekommen ist (s. Kap. 2.1). Darüber hinaus kann körperliche Krankheit aber auch Ausdruck eines intrapsychischen, unbewusst verlaufenden und momentan unteroptimal gelösten Konfliktes sein. In diesem Fall sprechen wir von primärem Krankheitsgewinn. Er besteht darin, dass der Konflikt zunächst nicht offen zutage treten muss.


Ein 15-jähriges Mädchen litt unter wiederholten augenscheinlich „epileptischen“, tatsächlich jedoch psychogenen Anfällen, die sehr den Krampf-anfällen seines hirnorganisch geschädigten Bruders ähnelten. Die in diesen psychogenen Anfällen demonstrierte Ohnmacht korrespondierte mit dem lange unbewussten Unwillen des Mädchens, im Gastronomiebetrieb der Eltern zu arbeiten.

Der primäre Krankheitsgewinn der Konfliktentlastung kann so groß sein, dass die Patienten aus gutem, nämlich subjektivem (und unbewusstem), Grund eine Konfliktanalyse abwehren. Darauf müssen anamnestisches Gespräch und Diagnostik Rücksicht nehmen.

Erfahrene psychosomatisch orientierte Ärzte werden also zunächst nach den Beschwerden und Gründen des Kommens fragen und der geschilderten Symptomatik breiten Raum lassen. Neben einer körperlichen Untersuchung, mit der der Patient mit seinen körperlichen Beschwerden ernst genommen wird, wird auch nach dem genauen Zeitpunkt des Beschwerdebeginns gefragt werden. Erst in einem dritten Schritt kann man sich die Lebenssituation bei Beschwerdebeginn vergegenwärtigen. Dabei können Veränderungen, Schicksalseinbrüche oder Situationen bei Krankheitsrückfällen zur Sprache kommen. Nun wird der Patient schrittweise in der Lage sein, auch lebensgeschichtliche Verbindungen zu knüpfen: Wann war ich in ähnlicher Weise krank, wie verlief die Gesundung und welche sozialen Faktoren waren daran beteiligt? Erst in einem weiteren Schritt schließlich kann sich der Patient darüber im Klaren werden, welche Rolle seine Krankheit, sein Krankheitserleben, Lebensereignisse und seine bisherige Biografie spielen, und diese Gesichtspunkte in das Bild seiner Persönlichkeit integrieren. Nun gewinnt die Frage nach dem „Grund der Krankheit“ eine neue Dimension.

Die engen Zusammenhänge zwischen Gesundheit, Krankheit und psychosozialer Belastung werden aber nicht nur, wie bisher gezeigt, auf psychologischer Ebene, sondern sozusagen ganz basal auf der körperlichen Ebene deutlich. Bereits in Kap. 2.1 wurde auf die engen Zusammenhänge zwischen Psyche, zentralem Nervensystem, Endokrinium und Immunsystem eingegangen. Diese Zusammenhänge sollen am Beispiel der Stressentstehung und -bewältigung noch etwas vertieft werden.

StressEustress

Physikalische, chemische, biologische oder psychosoziale Faktoren (Stressoren) können ein Individuum belasten und eine Stressreaktion auslösen. Der Stressor wird von unserem Sensorium o. a. Außenposten des Körpers (z. B. der Haut) aufgenommen und vom zentralen Nervensystem als Stressor erkannt. Dies führt zu einer Reaktion des Limbischen Systems, wodurch das Gefühl der Bedrohung, bei Hilflosigkeit das der Angst, bei möglichem Ausweg das der Energie, des Ärgers und der Wut entsteht. In einer „flight and fight reaction“ wird nun die Ausschüttung von Stresshormonen ausgelöst, zu denen vor allem die Katecholamine Adrenalin und Noradrenalin gehören. Sind dem Individuum Flucht oder Angriff möglich, führt die hormonbedingte Aktivität von Herz-Kreislauf-Funktionen, Lungenfunktion, motorischen Systemen etc. zu einer körperlichen Reaktion, die Energie verbraucht. In aussichtslosen Situationen hingegen kommt es zu einer lähmenden Erstarrung, die wir als panische Angst wahrnehmen und die nicht selten mit körperlichen und seelischen Erscheinungen der Depression einhergeht: Niedergeschlagenheit, Lustlosigkeit, Erschöpfung, Schlaflosigkeit, Verzweiflung u. v. m. können Symptome sein, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann (s. Hülshoff 2012, 86ff). In jedem Fall aber führt diese Stressreaktion dazu, dass andere Körperfunktionen (Fortpflanzungsfunktion, Reparaturvorgänge, aber auch die Funktion unseres Immunsystems) zweitrangig und folglich gedrosselt werden.

Geht der Stress rasch vorüber oder kommt es zu häufigen Erholungspausen, so wechselt die sympathotone Erregung mit vagotonen Ruhephasen ab. Wir sprechen von Eustress, der dem Körper angemessen ist und gut verarbeitet werden kann.

Erschöpfungs-syndrom

Ein zu starker, pausenloser Stress, der nicht adäquat abgearbeitet werden kann, führt hingegen zu Erschöpfungssyndromen. Diese gehen psychisch oft mit dem Erleben einer Depression einher und können auf der körperlichen Ebene, vor allen Dingen durch eine vermehrte Cortisolausschüttung, zu einer schweren Schädigung des Immunsystems führen. Wir werden nun krankheitsanfälliger und sind unter Umständen ernsthaft gesundheitlich gefährdet.

Beim Stressgeschehen kommt es nicht nur zu einer physischen Belastung, sondern auch zu einer starken psychischen Anspannung. Erst diese emotionalen Erregungszustände – hervorgerufen durch unterschiedliche Auslöser – verursachen die relativ einheitlichen somatischen Stressreaktionen. Als stressassoziierte Emotionen werden oft Angst, Wut, Aggression sowie Trauer und Niedergeschlagenheit genannt.

Stresserleben

Ob eine Belastungssituation allerdings als Stress erlebt wird, hängt oft nicht allein von der Belastung selbst, sondern von weiteren Faktoren ab: So kann es zu Stress kommen, wenn die Erholungspausen zu kurz sind und nicht zur Regeneration ausreichen, wenn Bewältigungsversuche zur Lösung des Problems wiederholt scheitern, das Individuum keinen Ausweg mehr sieht oder wenn es zu einer zu dichten Folge stressender Ereignisse kommt.

Potenziell haben Menschen die Möglichkeit, mit eher aktiven oder mit eher passiven Stressreaktionen zu reagieren, wobei die individuellen Ausformungen naturgemäß beträchtlich variieren. Aktives Stressgeschehen besteht in Kampf, Konfrontation und aktiver Herangehensweise. Dagegen ist der passive Stress durch Rückzug, Passivität und Ausweichen von Auseinandersetzungen gekennzeichnet, was sich in den Gefühlen der Hilflosigkeit und Depression niederschlagen kann. Sofern es sich um Dauerstress handelt, kann ein solches passives Verhalten möglicherweise mit psychosomatischen Erkrankungen einhergehen. Ob es dazu kommt, hängt aber nicht nur von der objektiven Belastung, sondern auch von der Vorstellung des Menschen vom Ausmaß der Belastung und ihrer Bewältigungsmöglichkeiten ab.

So kann für den einen ein Umzug eine willkommene Abwechslung oder eine Verbesserung seiner Lebensverhältnisse sein, während der Zweite damit vor allem soziale Verluste assoziiert. Vor allem bisherige Lebenserfahrungen (Life-Events), ein objektiv vorhandenes soziales Netz bzw. dessen Fehlen sowie bisher erfolgreiche oder fehlgeschlagene Lösungsversuche (Coping-Verhalten) sind ausschlaggebende Faktoren dafür, wie Stress erzeugend ein Ereignis bewertet wird.

psychosozialer Stress

Stress, so wurde bereits angedeutet, entsteht nicht nur durch physikalische oder chemische Noxen, sondern auch und gerade im psychosozialen Kontext. Zunächst soll angemerkt werden, dass es exogene Stressfaktoren in einer hochindustrialisierten Gesellschaft gibt, denen ihre Mitglieder zu einem beträchtlichen Teil unterworfen sind, ohne dass sie sich so ohne weiteres davon frei machen könnten. Die zunehmende Anforderung an berufliche Flexibilität kann beispielsweise ein solches Stresspotenzial darstellen. Von Jugendlichen wird z. T. erwartet, dass sie möglicherweise mehrfach in ihrem späteren Leben den Beruf wechseln. Es wird von ihnen erwartet, dass sie sich an eine schnell ändernde Umwelt anzupassen verstehen und sich mit den sich immer schneller verändernden Bedingungen im Arbeitsbereich erfolgreich auseinander setzen. Dabei sei z. B. an die Entwicklung in der Informationstechnologie erinnert (der Frage, inwieweit das Arbeiten am Bildschirm oder mit hochtechnisierten Überwachungs- und Steuerungssystemen Stress hervorruft, kann hier nicht weiter nachgegangen werden).

Durch zunehmende gesellschaftliche Veränderungen kommt es häufig auch zu sozialen Rollenveränderungen und damit verbundenen Krisen. Die damit oft einhergehende Verunsicherung kann ebenfalls Stress auslösen oder verstärken. Schließlich gibt es zahlreiche physische Belastungen (Lärm, Allergene, verschiedene Umweltbelastungen etc.), die ihrerseits psychosozialen Stress verstärken können. Ein besonders wichtiger sozialer Aspekt ist die Arbeitslosigkeit. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass von Arbeitslosigkeit bedrohte oder betroffene Menschen oft in hohem Maße an Stress leiden. In verschiedenen Untersuchungen wurde aufgezeigt, dass bei einer Belegschaft insbesondere in der Phase zwischen Ankündigung und endgültiger Schließung eines Betriebes erhebliche Anzeichen für das Vorliegen von Stress auftraten – mit einer Reihe z. T. ernster körperlicher Auswirkungen. Die Tatsache, dass insbesondere Dauerarbeitslosigkeit ein sozialmedizinisch besonders relevantes Problem darstellt, kann hier nur am Rande erwähnt werden. So sollte man sich vor Augen halten, dass es bei aller Subjektivität von Stresserleben und den zweifellos individuell sehr unterschiedlichen Bewältigungsmöglichkeiten gesellschaftlich gehäuft auftretende belastende und Stress erzeugende Faktoren gibt, von denen hier nur einige genannt wurden.

Life-Events

Kurz soll noch darauf eingegangen werden, wie Menschen Belastungen erleben und bewältigen. Dem Psychiater Holms war aufgefallen, dass nach dem Ausbruch verschiedener Erkrankungen sehr häufig eine Summierung einschneidender Veränderungen in der Lebenssituation der Betroffenen vorausgegangen war, z. B. ein Wechsel des Arbeitsplatzes, Änderungen der Familiensituation etc. Hieraus wurde die Hypothese abgeleitet, dass die krankheitsfördernde Belastung abhängig sei von vorausgegangenen einschneidenden Lebensereignissen, die man „Life-Events“ nannte.

Zahlreiche Forschergruppen versuchten, z. T. mit Fragebögen und Skalen, solche einschneidenden Veränderungen und ihre Belastung zu erfassen und ihre Bedeutung für die Stressreaktion zu analysieren. Trennung der Ehepartner scheint besonders stress-auslösend zu sein, doch wurden zahlreiche andere stressende Lebensereignisse beschrieben. An Stressoren im Zusammenhang mit Herzkrankheiten sind beispielsweise in erster Linie Lebensunzufriedenheit, insbesondere Unzufriedenheit im Beruf, gefolgt von Situationen von Verlassenheit, dem Verlust enger Bezugspersonen sowie berufliche Unsicherheit zu nennen. Ein Zusammenhang zwischen den „Life-Events“ und dem Stress, unter Umständen sogar Erkrankungen, konnte statistisch aufgezeigt werden. Es stellte sich aber heraus, dass nicht nur die Belastung an sich, sondern vor allem die Tatsache, ob und wie Menschen diese Belastung bewältigen konnten, ausschlaggebend dafür war, ob und in welchem Maße sich Stressreaktionen bildeten.

Stressbewältigung (Coping)

Die Bewältigung von Stress (Coping) hängt von einigen Voraussetzungen ab: Entscheidend ist zunächst, wie die Belastung von Betroffenen bewertet wird. Menschen versuchen zunächst einzuschätzen, welche Bedeutung eine Belastung für sie und ihr Wohlergehen hat. Mit anderen Worten: Wie sehr etwas belastet, hängt davon ab, wie einschneidend und wichtig die Belastung für das weitere Leben des Betroffenen ist. Zum Zweiten wird subjektiv bewertet, welche Bewältigungsmöglichkeiten dem Menschen zur Verfügung stehen. Als stressig wird ein Ereignis erst dann erlebt, wenn der Betroffene keine adäquate Möglichkeit mehr sieht, mit der Belastung fertig zu werden. Dies führt zur Frage nach der Bewältigungsfähigkeit:

■Problemorientiertes Coping: Prinzipiell kann ein Mensch in extremer Belastung entweder das Problem direkt angehen, man spricht von „problemorientiertem Coping“. In diesem Fall wird der Mensch versuchen, die belastenden Faktoren auszuschalten, sie zu umgehen oder durch persönliche gezielte Problemlösung die Ursache des Stresses zu bewältigen. Dabei kann die Situation sowohl alleine durch persönliche als auch durch kollektive Bewältigungsmöglichkeiten (soziale Unterstützung, soziales Netzwerk, soziale Integration) geleistet werden.

■Emotionsregulierendes Coping: Eine andere Form der Stressbewältigung wird als „emotionsregulierendes Coping“ bezeichnet, das sich vorwiegend darauf beschränkt, mit der emotionalen Erregung fertig zu werden, die eine Stresssituation ausgelöst hat. Wenn – vereinfacht gesagt – die Stresssituation nicht zu ändern ist, kann zumindest versucht werden, mit den sie begleitenden Gefühlen wie Ärger, Wut oder Trauer besser umzugehen und sie zu verarbeiten. Auch Entspannungsübungen u. a. Methoden dienen zumindest z. T. diesem Zweck.

Wenn Krankheit mitunter im Gefolge psychosozialen Stresses und sozialer Überforderung auftritt, dann wird deutlich, dass auch die Bewältigung eines solchen Stresses über somatische (medizinische) Behandlung und individualzentrierte Psychotherapie hinausgehen muss. Krankheit hat neben physikalisch-biologischen und intrapsychischen oft auch soziale Ursachen, in der Regel auch soziale Auswirkungen und Begleiterscheinungen, die auf der sozialen Meso- und Makroebene ihre Beachtung finden müssen.

2.3Salutogenese und Resilienz

Der Paradigmenwechsel vom rein naturwissenschaftlichen zum biopsychosozialen Krankheitsmodell (vgl. Kap. 2.1) führte seit den 1980er Jahren zum Modell der „Salutogenese“, einem 1979 von Antonovsky eingeführten Begriff, bei dem es um die Stärkung von gesundheitserhaltenden Faktoren geht. Antonovsky fragte sich, warum gleiche Stressoren (s. Kap. 2.2) bei einer Person zu chronischer Belastung oder Krankheit führen, bei anderen hingegen nur zu einer kurzen Krise oder sogar einer späteren Verbesserung des Allgemeinzustandes, warum also Menschen trotz großer psychischer oder physischer Belastungen gesund bleiben können.

Gesundheits-förderung

Solche zur Salutogenese (lat.: salus = Heil, gr.: Genesis = Entstehung) beitragenden, gesundheitsfördernden Faktoren werden heute als „Resilienzfaktoren“ (Schutzfaktoren) bezeichnet. Sie können u. a. aus einer genetisch bedingten, geringeren Vulnerabilität (beispielsweise hinsichtlich einer Depression), Temperamentsunterschieden, Intelligenz, Kommunikationsfähigkeit, einem positiven Selbstwertgefühl, einer inneren Kontrollüberzeugung oder dem Vertrauen auf Selbsthilfemöglichkeiten bestehen. Auch soziale Faktoren wie Gesprächsmöglichkeiten auf der Metaebene (beispielsweise bei schicksalsbedingten Lebenskrisen) oder familiärer Schutz können sich gesundheitsfördernd auswirken. In der Ottawa-Charter der WHO von 1986 wurde Gesundheitsförderung wie folgt definiert: „Gesundheitsförderung zielt auf einen Prozess, allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu bewegen (vgl. Schwarzer 2010, 70f). Um ein umfassendes, körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden zu erlangen, ist es notwendig, dass sowohl einzelne als auch Gruppen ihre Bedürfnisse befriedigen, ihre Wünsche und Hoffnungen wahrnehmen und verwirklichen, sowie ihre Umwelt meistern bzw. verändern können. In WHO-Nachfolgekonferenzen wurden spezielle Handlungsbereiche und Entwicklungsfelder der Gesundheitsförderung entwickelt. So befasste sich beispielsweise die 8. Globale Gesundheitsförderungskonferenz in Helsinki im Jahr 2013 schwerpunktmäßig mit dem Thema der gesundheitlichen Chancengleichheit unter Einbeziehung aller relevanten Politikfelder (Lehmann 2013).

In der „International Classification of Functioning, Disability and Help“ (ICF) von 2001 wird besonderer Wert auf das Aktivitätspotenzial und die Partizipation behinderter Menschen gelegt. Es ist aber wichtig, sich klarzumachen, dass Behinderung nicht mit Krankheit identisch ist: Zwar können Krankheiten zu Behinderung führen und Behinderung manchmal mit erhöhter Vulnerabilität einhergehen, aber eine Behinderung selbst ist keine Krankheit, sondern eine „Variante der Daseinsform in der Vielfalt menschlicher Daseinsformen“ (Nicklas-Faust, zit. in Hülshoff 2010, 2).

Die oben genannten Resilienzfaktoren können also auch bei Menschen mit Behinderung dazu führen, trotz vielfältiger Belas-tungen und Krisen gesund zu bleiben und ein gelingendes wie teilhabendes Leben trotz und mit zum Teil erschwerten Bedingungen zu führen. Die notwendigen Rahmenbedingungen einer so verstandenen Gesundheitsförderung auf sozialer und politischer Ebene umfassen gemäß der eingangs erwähnten Ottawa-Charter der WHO unter anderem „Frieden, angemessene Wohnbedingungen, Bildung, Ernährung […], soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit“ (zit. nach Michel in Schwarzer 2010, 71). Es ist aufschlussreich, dass sich diese Aussage keineswegs exklusiv auf Menschen mit Behinderung, sondern, (wenn man so will inklusiv), auf alle Menschen einer Gesellschaft bezieht.

2.4Soziale Dimensionen von Krankheit


Der zehnjährige Kevin wird wegen heftiger, chronischer Kopfschmerzen, Spiel- und Lernunlust sowie des dringenden Verdachtes einer erheblichen kindlichen Depression in die Kinder- und Jugendpsychiatrische Klinik überwiesen.

Anamnese und familientherapeutische Gespräche und eine „Helferkonferenz“ mit Eltern, Lehrer und begleitendem Sozialarbeiter ergeben folgende Hintergründe: Der 50-jährige Vater ist seit drei Jahren arbeitslos, nachdem er zuvor lange Zeit wegen eines Alkoholproblems erhebliche Schwierigkeiten am Arbeitsplatz hatte. Die Mutter hat ebenfalls mit depressiven Verstimmungen zu tun und hat seit ihrer Jugend heftige Migräneanfälle. Kevins 13-jährige Schwester leidet unter Asthma bronchiale, das vor allem in Spannungssituationen vermehrt auftritt. Die ebenfalls in der Familie lebende Großmutter ist wegen einer massiven Herzinsuffizienz auf konstante medizinische und mitunter pflegerische Hilfe angewiesen.

Der vorherrschende Bindungsmodus in dieser Familie ist der des Mitleidens und Mitleids. Gerade weil man sich wertschätzt und liebt, möchte man dem anderen Leid ersparen: Wer am meisten leidet, so die Tradition dieser Familie, bekommt die meiste Beachtung, Zuwendung und Schonung. Am Anfang dieser Familientradition besteht also ein durchaus verständliches, von Mitmenschlichkeit, Achtung und Liebe geprägtes Bild der familiären Beziehung. Verabsolutiert hingegen führten solche nun erstarrenden Beziehungsmuster dazu, dass nur noch Leid beachtet wird: Jede Regung von Lebensfreude, Spontaneität oder Aggression führte dazu, dass man aus dem Blickpunkt geriet oder mit Aufgaben überfordert wurde. So wurden in der hier vorgestellten Familie Aufgaben im Haushalt oder unangenehme Konfrontationen dem jeweils „Gesündesten“ angetragen. Schlimmer noch: Der Bindungsmodus des Mitleidens wurde zur Chiffre familiärer Zugehörigkeit und Solidarität. Lebensfreude und Vitalität konnte sich der Einzelne kaum noch gestatten, wurde es doch als eine Art „Verrat“ an den anderen gesehen.

Zur Symptombesserung und schließlich zur Heilung des zehnjährigen Kevin trug bei, dass ihn Eltern und Großmutter von entwicklungshemmendem „Mitleiden“ freisprachen und verdeutlichten, dass sie sich über seine Vitalität freuen, auch wenn sie selbst aus den unterschiedlichsten Gründen belastet sind. Wichtig war aber ebenso, dass der Junge in Schule und Übermittagsbetreuung altersentsprechende Aufgaben fand, dass es ihm gelang, zunächst in einem Fußballverein, später in einer Jugendgruppe tragfähige Kontakte zu knüpfen, und dass ihm das „Helfersys-tem“, maßgeblich durch die temporäre sozialpädagogische Familienhilfe repräsentiert, Hilfestellung bei seiner Individuation gab. Darüber hinaus lebt Kevin in einer Gesellschaft, die neben familiärem Zusammenhang auch Individuation und persönliche Entwicklung als einen eigenständigen Wert postuliert.

Indexpatient

An diesem Beispiel wird deutlich, dass die zweifellos somatischen, funktionell sehr wirksamen Schmerzen des „Indexpatienten“ in ihrem sozialen Kontext eine noch andere Bedeutung finden, als wenn man sie isoliert sieht. Auch eine „Therapie“, die die psychosozialen Aspekte berücksichtigt, wird sich nicht mit autogenem Training und schmerzlindernder Medikation begnügen – so sinnvoll solche Maßnahmen sein mögen.

Wie mit einem Teleskop kann man den Fokus der Aufmerksamkeit auf die somatischen, psychischen oder sozialen Komponenten einer Erkrankung richten. So können auf der somatischen Ebene genetische Faktoren (z. B. eine veranlagungsbedingte Überreaktion auf Schmerzen), zelluläre Faktoren (z. B. ödematöse Bezirke) oder Fehlfunktionen (Minderdurchblutung oder Blutdruckschwankungen) eine Rolle beim Entstehen von Kopfschmerzen spielen. Auf der psychischen Ebene können verdrängte Konflikte und damit verbundener primärer Krankheitsgewinn ebenso wie ein ängstliches Beobachten körperlicher Fehlfunktionen oder das Gefühl von Niedergeschlagenheit, Depression und Hoffnungslosigkeit das subjektive Empfinden von Kopfschmerzen beeinflussen. Auf der sozialen Ebene, um die es in diesem Kapitel vorrangig geht, kann man das Mikro- vom Meso- und Makrosystem unterscheiden.

Mikro-/Meso-/Makrosystem

Zum Mikrosystem gehören die nächsten Angehörigen und Bezugsgruppen, insbesondere die Familie. Ihre Regeln, Beziehungs- und Kommunikationsmuster, soziale Unterstützung sowie Bindungs- bzw. Ablösemuster beeinflussen maßgeblich das Erleben des Einzelnen auch bei Krankheit und Krankheitsempfinden. Zum Mesosystem zählen wir Netzwerke sowie Institutionen im mittleren Sozialbereich: Wenn Kevin in die Kinder- und Jugendpsychiatrische Abteilung kommt und hier Distanz zum familiären Geschehen gewinnt, so ist dies ebenso zum Mesosystem zu zählen wie die Aktivitäten von Schule, Sportverein, Jugendgruppe und sozialpädagogische Familienhilfe. Dies alles spielt sich aber im soziokulturellen Kontext der Gesellschaft und der Zeit, in der Kevin lebt, ab. Die Gemeinde und die in ihr verorteten Schulen, Krankenhäuser und Jugendgruppen, der Informationsgrad der Bevölkerung über Krankheiten und Krankheitseinstellungen, die öffentliche bzw. veröffentlichte Meinung hierzu, epochale Einflüsse und „Vorurteile“ sowie kulturelle und politische Rahmenbedingungen sind hier von Bedeutung. Auf all diesen Ebenen werden zum einen die Entstehung und der Verlauf von Krankheit beeinflusst, zum anderen speist sich auch das Krankheitsempfinden von solchen sozialen Faktoren.

soziale Faktoren

Nach Misek-Schneider (in Schwarzer 2010, 31ff) lassen sich soziale Faktoren im Prozess der Krankheitsentstehung, im Verlauf der Krankheit sowie bei der Krankheitsbewältigung aufzeigen. So kann der Ausbruch einer Krankheit durch psychosoziale Momente mitbestimmt werden, wenn beispielsweise in Zeiten überhöhter und unphysiologischer beruflicher Beanspruchung ein Erschöpfungssyndrom zu erhöhter Infektanfälligkeit führt oder drohende Arbeitslosigkeit Bluthochdruck, Ängste und eine koronare Herzkrankheit begünstigen. Aber auch ob und wann die aufgetretenen Beschwerden vom „Patienten“ als Krankheitszeichen wahrgenommen und adäquat behandelt werden, wird maßgeblich von sozialen Faktoren beeinflusst: Je aufgeklärter und ausgebildeter der Betroffene, je höher sein sozialer Status und je größer seine finanziellen Ressourcen sind, desto eher wird er adäquate medizinische Hilfe suchen und finden. Bereits im Vorfeld von Erkrankung, nämlich im Ernährungs- und Gesundheitsverhalten, zeigen sich eindeutige Korrelationen zwischen sozioökonomischem Status und einem der Gesundheit zuträglichen Verhalten (wenngleich es natürlich individuelle Ausnahmen gibt). Allgemein kann gesagt werden, dass Armut, Unwissenheit und niedriger Sozialstatus ein erhebliches Gesundheitsrisiko sind, auch in hochtechnisierten Gesellschaften.

Compliance

Auch ist die „Compliance“ von Bedeutung. Darunter versteht man, dass der Patient die ärztliche Diagnose und die zur Heilung oder Rehabilitation notwendigen Maßnahmen akzeptiert und eigenverantwortlich mitträgt. Kommunikation und Interaktion zwischen Patient und Behandelndem sowie sozialem Umfeld, mithin soziale Faktoren, tragen also maßgeblich zur Gesundung bei und beeinflussen die Krankheitsprognose.

Krankheitserleben

Das Erleben von Krankheit speist sich zum einen aus intrapsychischen Faktoren, die maßgeblich durch die bisherige Lebenserfahrung und Biografie, aber auch einschneidende Life-Events (also Lebensereignisse ähnlicher Bedeutung) sowie bisheriger Heilungs- bzw. Problemlösungserfahrungen bestimmt sind. Auch Abwehrmechanismen im Krankheitserleben, z. B. das Verleugnen einer Krankheit, das Rationalisieren und Abspalten von Gefühlen, das Projizieren von Wut und Ärger auf andere oder die Regression in kleinkindliche Verhaltensweisen, sind eher psychischen Komponenten zuzuordnen. Aber wie ein Patient seine Krankheit erlebt, hängt auch von der Einstellung der Umwelt ab. Beispielsweise können primäres wie sekundäres Krankheitsverhalten sozial beeinflusst werden, wenn Menschen über die Maßen behütet, segrediert oder hospitalisiert werden. Auch gesellschaftliche Vorurteile (man spricht hier von Stigmatisierung) können das Krankheitserleben beeinflussen.


So berichtete eine Mutter eines etwa 20-jährigen, an schizophrener Psychose erkrankten Mannes voller Verzweiflung, dass sie mit niemandem, insbesondere nicht mit Nachbarn, darüber sprechen könne. „Wenn er nur Krebs hätte, dann könnte ich darüber reden und mir der Anteilnahme meiner Nachbarn sicher sein – aber bei Schizophrenie? Ich möchte nicht, dass wir für verrückt gehalten werden!“, war der verzweifelte Kommentar der betroffenen Familienangehörigen.

Schließlich hängt die Bewältigung von Krankheit maßgeblich vom sozialen Umfeld ab. Vor allem dem Begriff des „Coping“, der Bewältigungsprozesse, die wir bereits in Kap. 2.1 kennen gelernt haben, kommt hier in drei unterschiedlichen Spielarten eine besondere Bedeutung zu:

■Zum einen ist hier die aktive Beschäftigung mit der Krankheit und die konstruktive Begegnung mit der individuellen Situation und der Bewältigung derselben zu nennen.


So ist beispielsweise chronische Krankheit oder Behinderung häufig mit Verlusterlebnissen gepaart. Der Verlust eines Organs, einer bisherigen Fertigkeit oder von Teilen des sozialen Status geht mit Trauer einher, die durchlebt und durcharbeitet werden muss, um die Krise zu überwinden und zu neuen Aufgaben zu reifen.

■Zum Zweiten kann Coping darin bestehen, sich hin zu anderen Aktivitäten, Einstellungen und Werten zu orientieren.


Ein 20-jähriger Chemielaborant war nach einem tragischen Verkehrsunfall querschnittsgelähmt und konnte seinen Beruf nicht mehr ausüben. Nach einjähriger Rehabilitation und anfänglicher Krisen- und Depressionsphase wandte er sich einem Studium und späteren Beruf zu, den er auch via Rollstuhl ausüben konnte, und entwickelte zunehmend die Fähigkeit zu einem erfüllten Berufs- und Familienleben.

■Schließlich besteht Coping auch darin, andere Menschen aufzusuchen und soziale Kontakte zu knüpfen.


Die große Bedeutung von Selbsthilfegruppen besteht nicht nur darin, dass man sich gegenseitig informiert, beispielsweise über adäquate Therapien und kompetente Ärzte oder rechtliche Situationen. Sie besteht auch darin, Verständnis, Halt und Empathie von anderen Betroffenen zu bekommen, die sich wie sonst niemand in die eigene Lage hineinversetzen können. Darüber hinaus ermöglichen solche sozialen Netzwerke natürlich auch eine Information der breiten Öffentlichkeit sowie politische Aktivitäten und die Wahrnehmung spezifischer Interessen.

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9783846358351
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