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Tab. 1.1: Die wichtigsten Neurotransmitter und psychotropen Substanzen (nach Hülshoff in Trost/Schwarzer 2009, 56)


Neurotrans-mitter oder Hormon Haupt-Wirkort Wirkung Auswirkungen von Störungen chemisch verwandte Substanzen (Drogen, Medikamente)
Acetylcholin a) Lähmungen b) Mb. Alzheimer
Dopamin Erregender Neurotrans-mitter im „Belohnungssystem“ a) Mb. Parkinson b) Schizo- phrenie
Noradrenalin vom Lokus coeruleus ins gesamte Gehirn Regulierung von Wachsamkeit und Erregung
Serotonin Schlaf-Wach-Rhythmus, Gefühlserleben u. a. Depression
Gamma-Amino-Buttersäure erregungs-hemmender Neurotransmitter Feinsteuerung, Erregungs-hemmung u. a. Angstsyndrome, Sucht
Zwischenhirn, Limbisches System Belohnungs-system, analysierend, euphorisierend Sucht
u. a. vegetatives Nervensystem Stresshormon, „flight and fight reaction“ Stress, Erschöpfungssyndrom

1.4Übungsfragen und Literaturhinweise


Überprüfen Sie Ihr Wissen!

1.Wie erklären Sie sich die Plastizität des menschlichen Gehirns in der Kindheit?

2.Erläutern Sie die Prinzipien, nach denen Informationen im zentralen Nervensystem weitergeleitet werden.

3.Warum kann man den Thalamus als „Vorzimmer des Bewusstseins“ bezeichnen?

4.Warum ist es möglich, dass Psychopharmaka und Drogen das Bewusstsein beeinflussen können?


Literaturhinweise

Dudel, J., Menzel, R., Schmidt, R. F. (Hrsg.) (2001): Neurowissenschaft. Vom Molekül zur Kognition. Berlin/Heidelberg/New York

In diesem gut illustrierten, nicht immer leicht zu lesenden Fachbuch werden grundlegende Aspekte tierischen und menschlichen Erlebens ebenso informativ wie detailliert behandelt.

Eliot, L. (2010): Was geht da drinnen vor? Die Gehirnentwicklung in den ersten fünf Lebensjahren. Berlin

Gut verständliche, ausführliche Übersicht über die neuro- und sinnesphysiologischen Entwicklungsprozesse vor und nach der Geburt sowie in den ersten fünf Lebensjahren.

Hülshoff, Th. (20083): Das Gehirn. Funktion und Funktionseinbußen. Göttingen/Bern/Toronto/Seattle

Übersicht über Gehirnfunktion und Funktionseinbußen, die sich an pflegende, beratende und soziale Berufe wendet.

Hüther, G. (20094): Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn. Göttingen

In leicht lesbarer, bildreicher Sprache befasst sich der Neurobiologe und Arzt mit der Frage, wie man mit seinem Gehirn umgehen sollte, damit es zur vollen Entfaltung der in ihm angelegten Möglichkeiten kommen kann.

2Sozialmedizinische Grundlagen

2.1Was ist Krankheit?

Gespräche von Menschen jenseits des 30. Lebensjahres drehen sich nicht selten um Gesundheit bzw. deren Fehlen, nämlich die Krankheit. Da wird von schweren Unfällen, Operationen oder chronischen Krankheiten bei Verwandten und Freunden und auch von den eigenen Malaisen berichtet. Alle medizinischen Fortschritte täuschen nicht darüber hinweg, dass wir nach wie vor im Laufe unseres Lebens erkranken und dass uns diese Thematik zutiefst beunruhigt.


Auf den ersten Blick scheint es ganz einfach zu sein: Gesund ist, wer kein ärztlich festzustellendes Leiden aufweist, bei dem eine „Diagnose“ fehlt. Bei näherem Hinsehen stellen sich die Dinge komplizierter dar: Was ist mit den chronischen Rückenschmerzen, die sich weder röntgenologisch noch funktionsdiagnostisch zeigen? Sie führen dennoch dem Patienten erhebliches Leid zu und lassen ihn möglicherweise vorübergehend arbeitsunfähig sein. Hier müssen wir von „Störungen der Befindlichkeit“ und dem (meist naturwissenschaftlich) objektivierbaren Befund unterscheiden. Das ist aber eine spezielle, oft zu kurz gegriffene Sichtweise, wenn man nur dem objektiven Befund „Krankheitswert“ zuweist. Umgekehrt: Einem medizinischen Bonmot zufolge sind gesunde Menschen lediglich solche, die noch nicht ausreichend untersucht wurden. Irgendetwas, so könnte man sarkastisch formulieren, findet sich immer. Gerade die Möglichkeiten neuerer Gentests, aber auch eine immer detaillierter ausfallende biochemische oder durch bildgebende Verfahren gestützte Diagnostik können kleine Abweichungen des „Normzustandes“ zeigen. Man scheint somit nicht gesund, sondern „noch nicht krank“ zu sein.

Wenn man aber Krankheit als einen „regelwidrigen“ Zustand versteht, bei dem körperliche Funktionen, Messgrößen oder Befunde nicht im Normbereich stehen, so muss man sich fragen, was denn unter einer solchen Norm zu verstehen ist. Der Arzt und Anthropologe Schiefenhövel berichtet beispielsweise von Gebieten Afrikas, in denen Würmer in der menschlichen Blase als „Norm“ zu betrachten sind – zweifellos lästig, zweifellos unangenehm, angesichts ihrer Alltäglichkeit aber letztlich „normal“. Messgrößen und Befunde, so führt er weiter aus, werden maßgeblich von trendsetzenden Medizinern und Bevölkerungsschichten etabliert. Manche solcher Befunde unterliegen auch bestimmten Moden und dem „Zeitgeist“.


So war um 1900 in den meisten internistischen Lehrbüchern ein niedriger Blutdruck weder als Symptom noch als Krankheitseinheit zu finden. Um 1950 herum maß man diesem Symptom eine große Bedeutung bei, die mit ihm verbundenen Schwindelattacken oder das „Unwohlsein“ galten nun als krankhaft. In der letzten Dekade des 20. Jahrhunderts hingegen relativierte sich das Bild wieder.

Erschöpfungssyndrome unterschiedlicher Ausprägung werden nicht in jeder Gesellschaft gleichermaßen als Krankheit angesehen. Wenn, dann werden sie kulturell bedingt oft unterschiedlich attributiert: Engländer scheinen eher an „nervösen Leiden“ zu erkranken, bei Franzosen finden wir die „crise du foie“ – also eine Art Leberbeeinträchtigung, während Deutschen chronischer Stress und Erschöpfung „auf’s Herz schlägt“ und vermehrt zu funktionalen Herzbeschwerden führt.

Was wir für krank oder gesund, für normal oder bedenklich halten, ist also keineswegs nur ein objektiv gegebener, naturwissenschaftlich zu messender Befund. Es richtet sich auch stark nach kulturellen Begebenheiten.


So kann man im „Struwwelpeter“ Heinrich Hoffmanns, erschienen in der Mitte des 19. Jahrhunderts, zahlreiche Verhaltensweisen finden, die damals als Charakter- oder Erziehungsschwäche klassifiziert (und von Hoffmann entsprechend bestraft) wurden. In den vergangenen 160 Jahren hat eine derartig starke „Medikalisierung“ stattgefunden, dass von den ehemaligen Charakterschwächen nicht mehr allzu viel übrig geblieben ist: Paulinchen wurde zur Pyromanin, der Struwwelpeter ist ebenso wie der bitterböse Friedrich eher depressiv-depriviert, Hans-Guck-in-die-Luft könnte an einer Absence leiden, der Suppenkasper weist eine Anorexie auf, und im Zappelphilipp erkennen wir das hyperkinetische Syndrom. Ob mit einem solchen Paradigmenwechsel allerdings viel gewonnen wurde oder lediglich ein (wertend-normatives) Stigma durch ein neues (medikalisiertes) ersetzt wurde, sei dahingestellt.

Erfahrungsgemäß erkennt man die Kultur- bzw. Epochenabhängigkeit von Krankheitsauffassungen erst aus der Distanz. So wurde angesichts der enormen Fortschritte in der naturwissenschaftlich orientierten Medizin zu Beginn des 20. Jahrhunderts und des seinerzeit vorherrschenden Paradigmas einer Industriegesellschaft der Körper häufig als eine Art Fabrik vorgestellt, bei der die Leber entgiftet, das Herz pumpt, der Darm Nahrung transportiert und das Gehirn steuert. Dies war ebenso richtig wie kurz gegriffen. Am Ende des 20. Jahrhunderts entstanden, gesellschaftlich bedingt, neue Paradigmen, die auch in der Medizin Einzug hielten. Momentan wird der Mensch eher mit einem Netzwerk verglichen, bei dem vor allem die Interaktion unterschiedlicher Funktionseinheiten im Vordergrund des Interesses stehen.

Psychoneuroendo-krinoimmunologie

Neue Paradigmen gehen von Wechselwirkungen verschiedener Systeme aus, wie sie eine neue und sehr erfolgreiche Fachrichtung, die Psychoneuroendokrinoimmunologie, postuliert. Demzufolge gibt es enge Wechselwirkungen zwischen psychischen Phänomenen (also Gefühlen, Vorstellungen und kognitiven Prozessen, die in unserem Gehirn repräsentiert werden), neurophysiologischen Phänomenen, die sich als Aktivität unseres Nervensystems beschreiben lassen, endokrinen Prozessen, die durch Hormonausschüttung charakterisiert sind und immunologischen Prozessen, die maßgeblich von den Zellen unseres Abwehrsystems abhängen und dafür sorgen, dass wir uns vor pathogenen Keimen schützen können. Nach neueren Erkenntnissen gibt es zwischen diesen Systemen zahlreiche Verbindungen und Zusammenhänge. Darauf wird weiter unten noch näher eingegangen.

WHO

Auch die Weltgesundheitsorganisation, derzufolge Gesundheit „ein Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht allein das Fehlen von Krankheit und Gebrechen“ (Waller 2013, 10) ist, formuliert in diesem zugegeben hohen Anspruch einen Gesundheitsbegriff, der eine Verknüpfung körperlicher, seelischer und sozialer Faktoren intendiert. Unterschiedliche Krankheitsmodelle können mehr oder weniger dazu beitragen, Krankheiten und die von ihnen betroffenen Kranken, also Patienten (wörtlich: „Leidende“), zu verstehen und ihnen beizustehen. Im Folgenden sollen acht solcher Krankheitsmodelle kurz mit ihren Möglichkeiten und Grenzen vorgestellt werden.

Medizinisches Krankheitsmodell: Ein klassisch-medizinisches, vorwiegend naturwissenschaftlich orientiertes Krankheitsmodell definiert Krankheit als einen regelwidrigen Funktionszustand körperlicher Organe, der eine spezifische Ursache, bestimmte Grundstörungen, typische Symptome und eine beschreibbare Prognose aufweist. So wäre z. B. ein Diabetes mellitus zu definieren als ein Mangel des Blutzucker steuernden Hormons Insulin, der auf einen Zelluntergang in der Bauchspeicheldrüse zurückzuführen ist. Er ist durch Durst, Benommenheit, vermehrtes Wasserlassen u. a. spezifische Symptome von geschulten Therapeuten zu erkennen und erlaubt unter bestimmten therapeutischen Prämissen eine normale Lebenserwartung. Ein solches Krankheitsmodell ermöglicht die Erforschung von Ursachen und Verlaufsform ebenso wie gezielter, oft naturwissenschaftlich begründeter und hinsichtlich ihres Erfolges objektivierbarer Behandlungsmethoden. Der rasante Fortschritt der Medizin des 19. und 20. Jahrhunderts beruht zum größten Teil darauf, dass sich Ärztinnen und Ärzte dieses naturwissenschaftlichen Paradigmas bedienten. Als es gelang, Insulin als Hormon zu identifizieren und zu synthetisieren, war die bis 1920 immer tödlich verlaufende „juvenile Zuckerkrankheit“ behandelbar. Sie ermöglichte, wenigstens im Prinzip, eine bedingte Gesundheit und normale Lebenserwartung.


Kritisch anzumerken ist allerdings, dass ein ausschließliches Beachten naturwissenschaftlich orientierter Kriterien möglicherweise nur Teilaspekte einer Erkrankung erfasst. Dass es außerdem die Dominanz von Ärzten stärkt und bei strenger Auslegung diätetische, psychologische, pädagogische und sozio-kulturelle Aspekte ebenso wenig berücksichtigt wie die dem Patienten und seinem unmittelbaren Umfeld innewohnenden Potenziale, ist ebenfalls ein des Öfteren angebrachter Kritikpunkt.

Evolutionsbiologische Krankheitsmodelle: Eine etwas andere, gleichwohl biologische Facette bieten die Krankheitsmodelle der „Evolutionsmedizin“. Der zufolge lässt sich zumindest ein Teil von Krankheiten mit der Conditio humana, der menschlichen Beschaffenheit, die sich in Hunderttausenden von Jahren evolutionär entwickelt hat, erklären.

ultimate vs. proximate Ursachen

Demzufolge kann man ultimate von proximaten Ursachen unterscheiden. Unmittelbare (proximate) Ursachen eines Diabetes sind mit den entsprechenden Funktionsausfällen der Bauchspeicheldrüse bereits oben angezeigt worden. Unter evolutionären (ultimaten) Gesichtspunkten allerdings kann sich Diabetes zunehmend in einer Bevölkerungsgruppe durchsetzen, weil er durch die neuen Lebensbedingungen in einer hochtechnisierten Gesellschaft nicht mehr zu unmittelbarer Gefährdung führt und somit verstärkt vererbbar ist.

Evolutionsmedizin

In ihrem lesenswerten und gut verständlichen Lehrbuch gehen die Ärzte und Evolutionsbiologen Nesse und Williams (2000) der Frage nach, warum wir krank werden. Aus evolutionsmedizinischer Sicht werden hier genannt:

a)Abwehr- und Verteidigungsmechanismen: Husten, Schnupfen, Fieber u. a. m. sind demzufolge keine krankhaften und möglichst zu behandelnden Symptome, sondern vielleicht sinnvolle Möglichkeiten, mit denen Keime bekämpft oder nach draußen befördert werden. Bei der normalen Grippe kann die Erhöhung der Körpertemperatur durch ein Bad oder einen Saunagang möglicherweise zu einem vermehrten Absterben von Krankheitserregern führen und den Heilungsprozess beschleunigen. Unter solchen Gesichtspunkten können fiebersenkende Medikamente unter Umständen kontraproduktiv werden. Nichtsdestotrotz kann es natürlich einen graduellen Anstieg von Fieber geben, der lebensbedrohlich ist und eine solche Maßnahme nötig macht.

b)Auch Infektionen können als evolutionär bedingter, nie endender Wettlauf zwischen sich aufrüstenden Keimen und dem darauf reagierenden Immunsystem des Menschen gesehen werden. Demzufolge wäre unser antibiotikagestützter Sieg über Krankheitserreger nur ein vorläufiger.

c)Veränderte Umweltbedingungen können dazu führen, dass evolutionär angelegte körperliche Parameter (z. B. unsere Affinität zu süßen, fetten und stark gewürzten Speisen) zunehmend dysfunktional werden. Unter Steinzeitbedingungen war es wichtig, sich die wenigen hochkalorischen Nahrungsmittel, die man bekam, einzuverleiben. In einer Überflussgesellschaft können Blutgefäßablagerungen, Durchblutungsstörungen u. v. m. die Folge sein.

d)Genetisch tradiert und vererbt wird alles, was den Erbträger nicht daran hindert, erfolgreich Kinder in die Welt zu setzen und diese großzuziehen. Folglich können eine Reihe von Krankheitspotenzialen (z. B. Krebs des höheren Lebensalters) unbeschadet weitergegeben werden.

e)Unter „Designer-Kompromissen“ verstehen die Autoren den Preis, den die Individuen in der Evolutionskette für Weiterentwicklung zahlen. Mehrfach wurde beispielsweise das Rückgrat umfunktioniert: Von der torpedoförmigen Struktur eines wasserbewohnenden Lebewesens ging es über die „Brückenkonstruktion“ des landerobernden Wirbeltieres zur „Turmkonstruktion“ des aufrechtgehenden Homo sapiens. Das geht für 30 Jahre (und die sind zur Aufzucht der Nachgeborenen notwendig) problemlos vonstatten. Danach kommen die Verschleißerscheinungen der Wirbelsäule und die chronischen Rückenschmerzen zum Tragen.

Eine solche evolutionäre Sichtweise auf die Entstehung von Krankheiten ermöglicht eine Vielzahl neuer diagnostischer und therapeutischer Ansätze. Auf diese kann hier allerdings im Einzelnen nicht eingegangen werden.

Psychosomatische Krankheitsmodelle: Psychosomatische Krankheitsmodelle gehen weiter und formulieren Wechselwirkungen zwischen körperlichen Phänomenen und seelischen Erkrankungen, die in Kap. 2.2 noch detaillierter besprochen werden.

Stress-Coping-Modell: Ähnliches gilt für das von Canon und Lazarus vorgestellte Stress- und Stress-Coping-Modell, das vor allem Zusammenhänge zwischen Krankheit, Stress und Stressbewältigung fokussiert. Auch dies wird in Kap. 2.2 näher erläutert werden.

Biopsychosoziales Krankheitsmodell: Neuere Ansätze der Sozialmedizin und insbesondere der Sozialpsychiatrie entwickelten biopsychosoziale Krankheitsmodelle, die Krankheiten, ihre Ursachen, Entstehungen und Manifestationen jeweils auf biologischer, psychischer und sozialer Ebene untersuchen. Auch die Therapieansätze sind demzufolge mehrdimensional. Insbesondere wird auch auf Wechselwirkungen biologischer, psychischer und sozialer Faktoren eingegangen.


So kann beispielsweise eine Depression biologisch (Serotoninmangel), psychisch (Verlusterlebnis) oder sozial (Vereinsamung) (mit-)begründet sein, und die Behandlung kann pharmako-, psycho- und sozialtherapeutisch erfolgen, wobei die Faktoren verschiedener Ebenen interagieren (Näheres in Hülshoff 2001, 86ff).

Soziologische Krankheitsmodelle: Soziologische Krankheitsmodelle untersuchen dagegen die soziale Bedeutung von Krankheit.

Rollenmodell von Parsons

Im „Rollenmodell“ von Parsons findet sich eine zwar häufig kritisierte, letztlich aber auch heute noch aktuelle Beschreibung der Rolle des Kranken. Demzufolge beinhaltet die Krankenrolle zum einen eine temporäre Befreiung von sozialen Pflichten: Der kranke Rekrut wird vom Wehrdienst freigestellt, beim erkrankten Kind kann eine temporäre Schulbefreiung erfolgen. Zum anderen wird der Betroffene nicht für die Krankheit verantwortlich gemacht. Wurde bis in die 1960er Jahre Alkoholismus als Charakterschwäche angesehen, so wird Abhängigkeit vom Alkohol seit 1968 als Krankheit anerkannt. Dies brachte eine erhebliche Entlastung der Patienten mit sich. Allerdings hat, so Parsons, der Patient die Verpflichtung, gesund werden zu wollen, wozu er entsprechend der Erwartung seiner Umgebung fachkundige Hilfe aufsuchen muss – eine Anforderung, der nicht alle alkoholkranken Menschen nachgehen.

sozialeRandgruppen

Ein anderer Zweig der Medizinsoziologie befasst sich mit der Frage, ob die Zugehörigkeit zu sozialen Randgruppen die Auftrittswahrscheinlichkeit von Krankheiten erhöht. Nach einschlägigen Studien, auf die hier nicht eingegangen werden kann, tut sie das: Häufigkeit und Schwere von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, chronischen Erkrankungen, psychischen und Suchterkrankungen korrelieren eindeutig mit der Zugehörigkeit zur sozialen Schicht. Auch die Lebenserwartung armer Menschen – selbst in Wohlstandsgesellschaften – ist signifikant niedriger als die von gut situierten Bürgern.

Labeling-Approach

Eine dritte Fragestellung medizinisch-soziologischer Forschung befasst sich damit, inwieweit insbesondere chronische und psychische Erkrankungen einschneidende Folgen für den Sozialkontakt und die gesellschaftliche Partizipation haben. Der so genannte „Labeling-Approach“ (Etikettierungsansatz) geht davon aus, dass eine Vielzahl von Krankheiten auf Seiten der Umgebung zu mehr oder weniger starren Rollenerwartungen führt, unter denen der Patient mitunter mehr leidet als unter der Krankheit selbst. So wird fälschlicherweise Epilepsie mitunter mit intellektueller Behinderung verbunden – über 90% aller Menschen mit hirnorganischen Krampfanfällen leben und arbeiten jedoch völlig unauffällig in oft sehr verantwortlichen Positionen (s. Hülshoff 2008, 213ff).

Risikofaktoren-Modell: Das Risiko-Faktoren-Modell versucht, den vielschichtigen Faktoren, die einer Krankheit zugrunde liegen können, gerecht zu werden, indem hier gleichzeitig medizinische, psychologische und soziologische Krankheitsrisiken Beachtung finden. So kann beispielsweise eine Bronchialkrebs-Erkrankung durch eine biologisch-genetisch begründete Vulnerabilität (Verletzlichkeit) mit verursacht sein, ihr Auftreten aber in engem Zusammenhang mit dem Rauchverhalten gesehen werden. Dieses wiederum speist sich auch aus psychologischen Momenten (der Stressbelastung, dem süchtigen Verhalten, den individuellen Lebenserfahrungen etc.) und gesellschaftlichen Phänomenen, die z. B. über Werbung, Gruppenkonformität, epochale Einflüsse oder Gesetzeslage das Rauchen begünstigen oder präventiv zu erschweren versuchen. Hinzu kommt, dass es physikalische, chemische und psychosoziale Faktoren gibt, die unabhängig vom Rauchen ihrerseits das Krebsrisiko beeinflussen können – Asbestbelastung, Strahlenexposition u. a. Faktoren mehr.

Theologische und philosophische Ansätze: Auch philosophische und theologische Ansätze zur Krankheitserklärung bzw. Bewältigung lassen sich finden. Im Wort „Heil“ bzw. „Heilung“ gibt es bereits den Hinweis, dass hierunter ursprünglich eine Wiederherstellung ganzheitlichen Wohlbefindens verstanden wurde. Die ers-ten Heilkundigen waren nicht nur Medizinmänner und -frauen, sondern hatten oft auch priesterliche Funktionen. Krankheit wurde nicht nur als körperlich-dysfunktionales Phänomen verstanden, sondern galt auch als eine Störung des sozialen Miteinanders sowie eine Entfremdung von Natur und transzendentalem Hintergrund. Dementsprechend erforderte Heilung eine Aussöhnung mit dem eigenen Körper, der Sozietät (dem Stamm, dem Klan), aber auch mit der Gottheit.

Wenn Kinder krank werden, findet sich nicht selten das Phänomen, dass sie ihre Erkrankung mit dem eigenen Verhalten in Verbindung bringen. Es kommt der menschlichen Psyche offensichtlich sehr nahe, eigenes Fehlverhalten für die Erkrankung verantwortlich zu machen. Es gehört viel menschliche Reife und Selbsterkenntnis dazu, Krankheit als ein evolutionsbedingtes Phänomen zu erkennen, das uns Menschen schicksalsbedingt zu gegebener Zeit und in unterschiedlichem Ausmaß überkommt. Oft genug regredieren wir in der Krankheit aber wieder und suchen, ähnlich wie in unserer Kindheit, nach Krankheitsgründen, die mitunter mit quälenden Schuldgefühlen korrespondieren. Das Wissen um diese Vorgänge ermöglicht eine befreiende, kathartische Aussprache und die Überwindung solcher Schuldgefühle.

Es bleibt aber festzuhalten, dass es vielen Menschen wichtig ist und mitunter auch gelingt, gerade auch in der Krankheit einen Sinn zu entdecken. Das Krankheitserleben hat nämlich durchaus Auswirkungen auf unser Selbstbewusstsein. Aus Kinderheilkunde wie mütterlichen und großmütterlichen Erfahrungen wissen wir, dass Kinder nach schweren Kinderkrankheiten (z. B. Masern) nicht nur immunologisch, sondern auch seelisch, körperlich und geistig einen Wachstumsschub durchmachen können. Dass das Immunsystem an durchgemachten Erkrankungen lernt und vor anderen Krankheiten gefeit ist, leuchtet ein. Aber auch die Erfahrung der Hilflosigkeit und die Überwindung derselben, die Möglichkeit zu regredieren, verwöhnt und versorgt zu werden sowie das körperlich wie emotional beglückende Erlebnis, wieder zu Kräften zu kommen, verändert Selbsterfahrung und Selbstbewusstsein erheblich, selbst wenn dies nicht immer ausgedrückt werden kann. Insofern kann auch im Krankheitsprozess ein subjektiv erlebter und im Lebenskontext nachzuvollziehender Sinn gesehen werden.

Fragt man sich, welches der hier kurz angerissenen Krankheitsmodelle „das Richtige“ ist, zeigt sich sehr schnell, dass die Frage so falsch gestellt ist. Vielmehr kann man überlegen, welche Aspekte der hier vorgestellten Krankheitsmodelle im Einzelfalle in der Lage sind, besonders gelungen zum Verständnis von Krankheit und Krankem sowie zur Förderung eines ganzheitlich orientierten Heilungsprozesses beizutragen.

Behinderung

Kurz soll noch auf den Begriff der Behinderung eingegangen werden. So ist im Sinne des Schwerbehindertengesetzes eine Behinderung „die Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden Funktionsbeeinträchtigung, die auf einem regelwidrigen körperlichen, geistigen oder seelischen Zustand beruht“ (zit. n. Hörning in Schwarzer 2010, 26). Diese eher defizitorientierte und individuumzentrierte Betrachtung ist nicht unproblematisch.

Nach einer älteren Definition der Weltgesundheitsorganisation (neuere Definitionen betonen mehr Chancen, Herausforderungen und Entwicklungsmöglichkeiten) lässt sich der Behinderungsbegriff in die Aspekte der Schädigung (impairment), der Funktionseinbuße (disability) und der Beeinträchtigung (handicap) differenzieren.

Entscheidend ist nicht nur das Ausmaß der Schädigung: Vergleichsweise große Hirnverletzungen können ggf. mit nur geringfügigen Lähmungen oder anderen Funktionseinbußen einhergehen – und umgekehrt. Außerdem kann der Schweregrad von Funktionseinbußen auch von medizinisch-rehabilitativen Behandlungen, heilpädagogischen und anderen Förderungen und nicht zuletzt von der biografisch-individuellen Persönlichkeitsentwicklung abhängen.

Benachteiligung

Letztendlich sind aber neben der Schädigung und den Funktionseinbußen vor allem Beeinträchtigungen und Benachteiligungen zu beachten, da sie wesentlich die Partizipation am soziokulturellen Leben erschweren können. Gerade im Bereich der „Beeinträchtigung“ gilt ganz besonnders, dass man behindert wird: Beispielsweise durch unüberwindbare Bahnsteigkanten, unzugängliche Eingänge, aber auch durch Stigmatisierungen und inadäquate Einstellungen von Mitmenschen.

Paradigmenwechsel

Die Diskussion um Beeinträchtigung und Behinderung hat sich im Rahmen verschiedener Paradigmenwechsel verändert. So war das vorherrschende (und heute noch relevante) Paradigma der 1960er Jahre das „Normalisierungsprinzip“, in dem erstmals formuliert wurde, dass auch und gerade Menschen mit Behinderung ein an dem normalen Alltag ihrer nicht behinderten Mitmenschen orientiertes Leben, so normal wie möglich, führen sollten. Beispielsweise sollte durch Barrierenreduktion und Teilhabe am Arbeitsprozess auch eine Integration in das soziokulturelle Leben einer Gesellschaft ermöglicht werden, wobei das Integrationsparadigma wesentliche Gedanken des Normalitätsprinzips aufwies und um den Gedanken der Partizipation erweiterte.

Schließlich war das „Assistenzprinzip“ ein weiterer paradigmatischer Fortschritt: Heilpädagogen, Ärzte, Heilerziehungspfleger und andere Berufsgruppen wurden nun zunehmend als professionelle Dienstleister verstanden, die von Menschen mit Behinderung in Anspruch genommen werden konnten, wobei der Behinderte der Auftraggeber war. Das Assistenzprinzip beinhaltet also wesentliche Aspekte der Autonomie und Selbstbestimmung behinderter Menschen, die selbst am besten einschätzen können, was hilfreich für sie ist.

Das Inklusionsparadigma schließlich geht noch über den Gedanken der Integration hinaus: Menschen mit Behinderung, so kann man vereinfachend formulieren, partizipieren nicht nur an einer Gesellschaft, sondern sie sind einer ihrer essentiellen Bestandteile und definieren sie mit. Eine Gesellschaft, in der für Menschen mit Behinderung kein Platz ist oder nur Randplätze vorgesehen sind, wird kälter und unmenschlicher – und zwar für alle ihre Mitglieder. Das Verdrängen der Möglichkeit, als Eltern eines behinderten Kindes oder infolge von Alter, Krankheit oder Unfall selbst behindert zu sein, führt individuell wie gesellschaftlich zu erheblichen Fehlentwicklungen. Die Inklusion von Menschen und Gruppen mit und ohne Behinderung in einer sich als soziokulturelle Einheit verstehenden Gemeinschaft ist also für das Funktiuonieren einer humanen Gesellschaft unabdingbar.

Zusammenfassend ist also zu sagen: Krankheiten und Behinderungen können als ein komplexes Geschehen verstanden werden, das den Menschen in seiner körperlichen, seelischen und sozialen Dimension betrifft. Eine im wohl verstandenen Sinne ganzheitliche Medizin wird dies berücksichtigen und neben den primär körperlichen Symptomen und Funktionsstörungen das emotionale Erleben und die psychosozialen Interaktionen berücksichtigen. Versteht man Krankheit als Überforderung und Krise des Menschen, die sich auf diesen drei Ebenen zeigt, so lässt sich dies in besonderer Weise am Beispiel der Stressreaktion verdeutlichen:

Hier greifen körperliche, seelische und soziale Faktoren ineinander und führen dazu, dass unterschiedliche Stressoren zu körperlich-seelischen Reaktionen führen, die subjektiv als Stress erlebt werden und körperlich Erschöpfungssyndrome und Krankheiten verursachen können. Die sozialen Gegebenheiten tragen darüber hinaus ganz wesentlich dazu bei, ob und inwieweit dieser Stress bewältigt wird oder ob es zu einer chronischen Überforderung mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen kommt. Hierauf wird im folgenden Kapitel eingegangen.

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