Читать книгу: «Medizinische Grundlagen der Heilpädagogik», страница 7

Шрифт:

Mit Hilfe der Eltern ist es leichter, diesen Zustand zu ertragen und sich auf die Begegnung mit neuen Menschen einzulassen. Die Verunsicherung schreitet fort, wenn Kinder in fremden Umgebungen und von fremden Menschen mit Untersuchungen und Maßnahmen konfrontiert werden, die sie als bedrohlich empfinden. Untersuchungen, Spritzen, Fieber messen, Verband wechseln und präoperative Vorgänge können zu Ängsten, mitunter auch zu Schmerzen führen. Unzählige, insbesondere ungewohnte Dinge verunsichern das Kind und müssen von geduldigen und verständnisvollen Eltern und Pädagogen aufgefangen oder bearbeitet werden. Trennung von den Eltern kann den Stress zusätzlich erhöhen, weswegen die Anwesenheit der Eltern so weit wie möglich von Nutzen ist. Die fremde Umgebung bedarf vertrauter Bezugspersonen, ausreichender Vorbereitungszeit, bekannter Gesichter etc.

Fremde Pflegepersonen sollten von den Eltern vorgestellt und positiv konnotiert werden. Wechselnde Pflegepersonen könnten durch Gruppenpflege oder ein Bezugspflegesystem ergänzt werden. Unverständliche Signale oder medizinische Fachsprache bedürfen der Übersetzung in eine kindgemäße Sprache, die von dem Kind auch verstanden werden kann, wobei auf die oben schon genannte Symbolik einzugehen ist. Auch die Nahrung und der Tagesablauf können als ungewohnt und unbekannt klassifiziert werden. Ähnliches gilt für Erziehungsstil u. a. Anforderungen, die im positiven Falle von Krankenschwestern, pädagogischem Personal und Eltern gemeinsam abgesprochen werden. Auch sollten alle beteiligten Erwachsenen auf noch nicht verstandene Krankheitsphantasien, Ängste und inadäquate kindliche Auseinandersetzungen mit dem unbekannten Geschehen eingehen können. Schmerzen und Bewegungseinschränkungen sind ebenfalls Faktoren, auf die Erwachsene Rücksicht nehmen sollten.

Hospitalisierung

Eine längerfristige Trennung von Kindern und ihren Eltern kann im Rahmen eines stationären Aufenthaltes zu schweren seelischen Hospitalisierungsschäden führen. Diese sind zunächst durch eine Phase des Protestes gekennzeichnet – Kinder protes-tieren energisch, lautstark und mitunter wütend gegen diese Trennung –, werden dann aber von einer Phase der Verzweiflung und schließlich der Verleugnung abgelöst. Deshalb ist es besonders wichtig, Eltern und Kindern viel gemeinsame Zeit zu ermöglichen. Geschieht dies nicht, kann in einer zweiten Phase der Verzweiflung das Kind zwar äußerlich ruhiger werden, zeigt allerdings zunehmende Apathie und Monotonie, hat wenig Interesse an der Umwelt und verfällt schließlich in eine tiefe Trauer um Vater und Mutter.

Schließlich kann bei längerem Aufenthalt ohne täglichen Besuch der Eltern das Kind seinen seelischen Schmerz nicht länger ertragen, es verdrängt und verleugnet ihn und damit auch die Gefühle für die Eltern. Nach außen wirkt das Kind zwar wieder aufgeschlossener, und es versucht sein Bestes aus der Situation zu machen. Häufig ist jedoch zu beobachten, dass die Kinder in dieser Situation von ihren Eltern keine Notiz mehr zu nehmen scheinen und sich nicht mehr für sie interessieren – sie haben die Trauer verdrängt. Es handelt sich hier nicht um einen Adaptationsvorgang, sondern um eine ernste seelische Krise der Kinder. Um Verhaltensstörungen, Angstneurosen und seelischen Hospitalismus zu vermeiden, ist also ein intensiver und tragfähiger Kontakt zwischen Eltern und Kindern vonnöten.

Krankenhaus-pädagogik

Pädagogen sollten Eltern die dafür notwendige Hilfe geben. Das fängt bei Beratung auch in finanzieller und arbeitsrechtlicher Hinsicht an, geht weiter über systemische Familienberatung und Familientherapie (auch gesunde Geschwisterkinder sind hierbei mit einzubeziehen) und führt schließlich zu psychoedukativen Gesprächen. Bei diesen werden Eltern über die kindlichen Adap-tations- und Verarbeitungsmöglichkeiten körperlicher Krankheit informiert. Der Krankenhauspädagogik kommt darüber hinaus auch eine pädagogisch-therapeutische Aufgabe in Bezug auf die kranken Kinder zu. Diese können häufig erst im Spiel, in der Zeichnung, in der Musik und bei anderen kreativen Gestaltungsmöglichkeiten über ihre Ängste, Nöte und Sorgen berichten.

Neben den quasi therapeutischen Aktivitäten ist die Hauptaufgabe eines krankenhauspädagogischen Dienstes aber die, Kindern auch bei längerem Krankenhausaufenthalt ein adäquates Umfeld zu geben, das ihre kindliche Entwicklung ermöglicht und perpetuiert. Auch kranke Kinder sind nicht in erster Linie Patienten, sondern Kinder. Einerseits ist unbestreitbar, dass die primäre Aufgabe eines Krankenhauses in Diagnostik, Therapie und Pflege besteht. Das Primat ärztlicher und pflegerischer Tätigkeit soll nicht bestritten werden. Andererseits ist als „dritte Säule“ der Begleitung kranker Kinder auch die Pädagogik vonnöten. Ihr muss ein neben dem medizinisch-pflegerischen Aspekt ausreichendes räumliches, zeitliches und personelles Gewicht zugestanden werden.

2.6Ethische Dimensionen

Im Zusammenhang mit Krankheit und Behinderung, insbesondere aber im heilpädagogischen Diskurs, gilt es, auch ethische Fragestellungen zu beachten. Dabei versteht man unter dem griechischen Begriff des „Ethos“ die Gewohnheit, die Sitte und den Brauch, im weiteren Sinne auch das Bestreben, auf der Grundlage von Überlegung und Einsicht in einer Situation das erforderliche Gute zu tun (Dederich, in: Greving 2007, 211). Nun ist dieses Bemühen zweifellos als ein Prozess anzusehen, der in soziokulturelle Rahmenbedingungen eingebettet und bisweilen einem Erosionsprozess ausgeliefert ist. Somit ist es sinnvoll, ethische Grundsätze zu untersuchen, zu reflektieren und moralisches Handeln zu begründen, was der Kern der „Ethik“ ist. nach Dederich sind in der gegenwärtigen Behindertenpädagogik ethische Fragestellungen aus drei Gründen von Bedeutung:

Zum einen sind dies Gründe systematischer Art, weil sich Heilpädagogik mit Fragen ihrer eigenen Legitimation und ihres Selbstverständnisses beschäftigen muss, wenn sie den ihr anvertrauten Klienten ein gutes, gelingendes und teilhabendes Leben (unter anderem durch Bildungsangebote und Gesundheitsversorgung) ermöglichen will. Zum Zweiten führen gravierende gesellschaftliche Veränderungen durch Fortschritte in den Naturwissenschaften, insbesondere der Biomedizin, zu neuen ethischen Herausforderungen, auf die gleich noch näher eingegangen wird. Und drittens führen soziokulturelle Entwicklungen zu Lebenswirklichkeiten, die unmittelbar Inklusion und Exklusion beeinflussen und im Rahmen der sogenannten „Utilitarismusdiskussion“ ebenfalls ethische Fragestellungen aufwerfen. Dederich nennt eine Reihe von Problemen und Erfahrungsfeldern, die mit besonderen ethischen Herausforderungen verbunden sind:

1.Die sogenannte „optionale Geburt“, die sich aus Möglichkeiten (und Gefahren) von Gentechnologie, Pränataldiagnostik, Präimplantationsdiagnostik sowie Fertisilationstechnologie ergeben.

2.Die Möglichkeit von „Spätabtreibungen“ hat zu heftigen Diskussionen (Stichwort: Kind als „Schaden“) geführt.

3.Mit der eben schon genannten Reproduktionstechnologie und der damit ggf. verbundenen Selektion entflammte eine erneute Kontroverse um eugenische Fragestellungen, also der „Auswahl von erhaltens- und schützenswertem Leben“.

4.Solche eugenischen Fragestellungen finden sich auch, wenn es um Dauer und Umfang lebenserhaltender bzw. lebensverlängernder Maßnahmen (auch bei Menschen mit schweren Behinderungen oder z. B. im Wachkoma) geht.

5.Genereller stellt sich die Frage der Eugenik bei der Stamm-zellforschung und beim therapeutischen sowie reproduktiven Klonen bzw. der sogenannten „verbrauchenden“ Embryonenforschung.

6.In einer Reihe von eugenischen, aber auch anderen bioethischen Überlegungen findet sich zunehmend auch eine Untersuchung von Nutzen und Kosten im Rahmen ökonomisierender Bemühungen, was meist als „Utilitarismus“, also dem größtmöglichen Nutzen für eine größtmögliche Anzahl von Menschen, bezeichnet wird.

7.Auch wenn es darum geht, die unveräußerliche Person eines Menschen in ihrer Einzigartigkeit zu sehen, deren Menschenrechte und Menschenwürde es zu betonen und zu erhalten gilt, ist man auf ethische Diskurse angewiesen. Dabei geht es, wie Dederich richtig betont, „keineswegs nur um medizinische Spezialprobleme, sondern um eine viel grundsätzlichere Ebene, nämlich um das Verhältnis unserer Gesellschaft zu (von ihr selbst produzierten) Randgruppen und Minderheiten – zu denjenigen, die als anders, abweichend, nicht passend etc. eingestuft werden. In dieser Hinsicht verweisen die Pläne der „Bioethik“ auf ein sozialethisches Grundproblem, nämlich auf das Verhältnis der Gesellschaft zu ihren behinderten Mitgliedern.“ (Dederich in Greving 2007, 215).

8.Ethik kann also auch als Schutzbereich, als eine Antwort auf potenzielle Gefährdungen behinderter und als Minderheit erlebter Menschen gesehen werden. Hierbei geht es um die Anerkennung von Vielfalt und Differenz und die Erkenntnis, dass der Mensch in seiner Sensibilität und Verwundbarkeit und Endlichkeit einmalig und einzigartig ist, so dass jeder Mensch (nicht nur der behinderte Mensch) auf unser aller Verantwortung für andere Menschen verweist. Mit dem Verzicht auf eine Negativbewertung von Behinderung und der Anerkennung von Vielfalt und Differenz geht letztlich auch eine Inklusion einher, also die Erkenntnis, dass auch behinderte Menschen konstituierende Mitglieder der Sozietät sind.

Kurz soll noch wegen der Bedeutung im gegenwärtigen Diskurs auf die Begriffe „Euthanasie“ und „Eugenik“ eingegangen werden.

Euthanasie

Euthanasie (gr.: eu = gut, thanos = Tod) meint einen „schmerzlosen und würdigen“ Tod. Belastet ist dieser Begriff durch Diskussionen Ende des 19. sowie des gesamten 20. Jahrhunderts, bei denen Euthanasie mit der Tötung schwer bzw. unheilbar Erkrankter einherging. Wurde zunächst straffrei die Tötung von Menschen auf deren eigenes Verlangen diskutiert, so ging es später auch um die Tötung von Menschen, die sich aufgrund schwerer Verletzungen oder Behinderungen hierzu nicht (mehr) äußern konnten (Neugeborene mit schweren Behinderungen, Komapatienten). Insbesondere im verbrecherischen System des Nationalsozialismus werden eugenische mit euthanasie-bezogenen Aspekten verbunden, was zunächst zu einem theoretischen, menschenverachtenden Diskurs (Stichworte: „Nutzlose Esser, Ballastexistenzen“) führte. Bald darauf jedoch wurden diese Menschen in großer Zahl ermordet. Rezente Diskussionen zur Straffreiheit des Tötens auf Verlangen oder zur sog. Sterbehilfe (nicht zu verwechseln mit Sterbebegleitung, s. u.) differenzieren zwischen aktiver Sterbehilfe (dem Töten auf Verlangen), passiver Sterbehilfe (dem Abbruch oder der Unterlassung lebenserhaltender Maßnahmen) sowie indirekter Sterbehilfe (beispielsweise der Gabe von Schmerzmitteln mit der unbeabsichtigten Nebenwirkung des schnelleren Todeseintritts). Auf diese sehr komplexe Diskussion, auch im Zusammenhang und ggf. in Abgrenzung von Patientenverfügungen, ebenso wie beispielsweise die Rechtslage in den Niederlanden oder in der Schweiz, kann hier nicht näher eingegangen werden – es wird auf den ausgezeichneten Übersichtsaufsatz von Michael Wund (in Greving 2007, 24ff.) hingewiesen. Darin wird u. a. auch auf die Gefahr der Ausweitung der passiven Sterbehilfe, beispielsweise bei Menschen mit schwerer geistiger Behinderung, im Wachkoma oder bei Demenzerkrankungen eingegangen.

Schließlich sei noch darauf hingewiesen, dass eine Verbesserung der Sterbebegleitung, beispielsweise der Schmerztherapie im Rahmen der sog. Hospizbewegung, eine wesentlich bessere und menschlichere Alternative darstellt. Betroffene, die sich hierzu äußern können, fürchten vor allem Schmerzen, allein gelassen zu werden oder eine würdelose Behandlung.

Eugenik

Eugenik (gr.: eu = gut, genesis = entstehen) beschäftigt sich mit der „Verbesserung“ des menschlichen Erbgutes und ist nach den verbrecherischen Maßnahmen des sog. „Dritten Reichs“ in Verruf geraten. Neuere eugenische Diskussionen ergeben sich aufgrund der Pränataldiagnostik mit konsekutivem Schwangerschaftsabbruch sowie einer hiermit verbundenen humangenetischen Beratung, der In-vitro-Fertilisation (künstlichen Befruchtung) und der Auswahl bestimmter Eizellen bzw. Embryonen, der keimbahnbezogenen Gentherapie und der intensiven Diskussion dieser Entwicklungen in der Heilpädagogik und der Behindertenbewegung. Insbesondere von letzterer wird mit großer Besorgnis gesehen, dass Behinderung zunehmend als Schaden angesehen wird, den (ggf. auch durch Selektion) zu verhindern sich Eltern und Ärzte nicht nur berechtigt, sondern schlimms- tenfalls sogar verpflichtet fühlen könnten.

Wir sehen: Mit dem ethischen Diskurs um Biotechnologie, Euthanasie und Eugenik werden Fragen aufgeworfen, die auch, aber keineswegs nur Menschen mit Behinderung angehen – Fragen, die den Kern menschlicher Personalität und menschlicher Würde eines Jeden von uns betreffen.

2.7Übungsfragen und Literaturhinweise


Überprüfen Sie Ihr Wissen!

5.Welche psychosozialen Krankheitsmodelle kennen Sie und worin unterscheiden sie sich von primär naturwissenschaftlich orientierten Paradigmen?

6.Erläutern Sie die Begriffe des primären und sekundären Krankheitsgewinns.

7.Beschreiben Sie die Stressreaktion und erläutern Sie die Begriffe des problemlösenden sowie des emotionsregulierenden Copings.

8.Inwiefern unterscheidet sich das kindliche Krankheitserleben von dem in der Adoleszenz?


Literaturhinweise

Beck, D. (1985): Krankheit als Selbstheilung. Frankfurt/M.

Nach Beck stellen körperliche Krankheiten oft einen Versuch dar, eine seelische Verletzung auszugleichen, einen inneren Verlust zu kompensieren oder einen unbewussten Konflikt zu lösen. Körperliches Leiden ist oft ein seelischer Selbstheilungsversuch.

Lown, B. (2012): Die verlorene Kunst des Heilens. Anleitung zum Umdenken. Frankfurt/M.

Der renommierte Kardiologe und Nobelpreisträger geht in seiner beruflichen Autobiografie auf Grundlagen ärztlichen Handelns ein. Seine außerordentlich empathischen, kenntnisreichen und praxisbezogenen Erfahrungsberichte zeugen von einer tief gehenden Auseinandersetzung mit menschlichen Grunderfahrungen und der Ambivalenz medizinischen Fortschritts.

Miketta, G. (1992): Netzwerk Mensch. Psycho-, Neuro-, Immunologie: Den Verbindungen von Körper und Seele auf der Spur. Stuttgart

Sachlich fundiertes, sehr informatives und gut zu lesendes Buch, in dem neue Denkansätze über das Funktionieren unseres Körpers in Gesundheit und Krankheit dargestellt werden. Dabei wird der Körper als vernetztes System verstanden.

Nesse, R., Williams, G. C. (2000): Warum wir krank werden. Die Antworten der Evolutionsmedizin. München

Unser Körper ist immer noch auf die Lebensbedingungen der Steinzeit eingestellt. Aus der Perspektive der Evolutionsbiologie ergeben sich überraschende neue Antworten auf die Frage, warum wir überhaupt krank werden. Originell und gut lesbar stellen die Autoren neuere Erkenntnisse dieses Forschungsbereichs dar.

Schwarzer, W. (Hrsg.) (20107): Lehrbuch der Sozialmedizin für Sozialarbeit, Sozial- und Heilpädagogik. Dortmund

Breit gefächerte Einführung in die Sozialmedizin, in der insbesondere auch psychogene und neurogene Störungen sowie Behinderungen und chronische Erkrankungen erläutert werden.

3Basale Wahrnehmungsfunktionen

3.1Grundlagen basaler Wahrnehmungsfunktionen


Unter Wahrnehmung verstehen wir die Aufnahme, Verarbeitung und Interpretation von Sinnesreizen, die uns ein stimmiges, wenn auch nicht immer vollständiges Bild der Außenwelt, in der wir leben, wiedergibt.

Das ist für uns wichtig, weil wir uns in unserer Umwelt orientieren, uns zielgerichtet fortbewegen u. a. Lebewesen bzw. Objekte entdecken und ihre Bedeutung erkennen können müssen. Nun müssen wir nicht jede prinzipiell verfügbare Information aufnehmen, sondern nur diejenigen, die für unser Überleben in unserem unmittelbaren Ökosystem notwendig sind. Ausgangspunkt jeglicher Wahrnehmung sind unsere Sinne, die wir auch als Fenster zur Außenwelt verstehen können. Schon Aristoteles unterschied die fünf „klassischen Sinne“ des Sehens, Hörens, Riechens, Schmeckens und Tastens. Wenn wir aber bedenken, dass auch die Körperlage im Raum, die Anspannung unserer Muskeln, Druck und Schmerz, Wärme u. v. a. Qualitäten wahrnehmbar sind, so wird schnell klar, dass unser Sinnessystem viel differenzierter ist.

Rezeptoren

Je nach Art der chemischen und physikalischen Reize, die registriert werden, können solche Sensoren als Mechano-, Chemo- oder Photorezeptoren sowie Rezeptoren der Wärmewahrnehmung aufgegliedert werden. In diesem Kapitel, das sich mit basalen Wahrnehmungsfunktionen befasst, wird weiter unten vor allem auf die Chemorezeptoren des Geschmacks- und Geruchssinns sowie die Mechanorezeptoren der verschiedenen taktilen Sinnesorgane und unseres Gleichgewichtsorgans eingegangen.

Signalumwandlung

Unabhängig davon, ob es sich um visuelle, akustische o. a. Wahrnehmungsmodi und die ihnen zugrunde liegenden photosensiblen oder taktilen bzw. chemisch aktivierten Rezeptoren handelt, wird jegliche Sinneswahrnehmung an der Kopplungsstelle von Sinnesorgan und Nervensystem in ein bioelektrisches Potenzial umgewandelt. Aufgrund unterschiedlicher Mechanismen – in den entsprechenden Kapiteln näher erläutert – werden nach einer Reizung des Sinnesrezeptors Membranen vorübergehend destabilisiert: Dies kann durch Lichteinfall eines Photons, Bewegung eines Sinneshärchens oder Andocken eines chemischen Moleküls geschehen. Die Destabilisierung der Membran hat einen Ionenstrom zur Folge. Dieser führt wiederum zu einer elektrischen Ladung, einem bioelektrischen Potenzial, das weitergeleitet wird. Von jetzt ab entsprechen die Vorgänge denen, die bereits in Kap. 1 hinsichtlich der Erregungsweiterleitung von Nervenzelle zu Nervenzelle erläutert wurden.

Jeder Sinnesreiz, so können wir festhalten, wird also in die „Einheitssprache des zentralen Nervensystems“, nämlich bio-elektrische Signale, übersetzt. Über komplexe, verzweigte und weiterverarbeitende Kanäle des Nervensystems gelangen die Informationen schließlich zu sehr unterschiedlichen Regionen der Großhirnrinde, wo sie eine simultane Erregung parallel geschalteter Hirnareale zur Folge haben. Unterschiedlichste Hirnareale „erkennen“ also (d. h. sie reagieren durch bioelektrische Ladung), dass die von ihnen verarbeitete Information vom Auge, vom Ohr oder einem anderen Sinnesorgan kommt und einer bestimmten Intensität bzw. Modalität entspricht. Das „Erkennen“ darf man sich aber nicht so vorstellen, als ob im Großhirn eine Art „Homunkulus“ säße, ein Analogon des von uns als bewusst erlebten Ichs. Vielmehr ist es so, dass die Integration der unterschiedlichsten sensorischen Informationen durch eine simultane Erregung sehr verschiedener und hochdifferenzierter Hirnareale ein Zustandsbild ergeben, das vom Menschen, dem Träger seines Gehirns, als bewusste und ich-syntone Wahrnehmung empfunden wird.

basale Sinne

Basale Sinne wie das Vestibulärsystem, viele unserer taktilen Sinne sowie das Geschmacks- und Geruchssystem sind nicht nur bei der Geburt vorhanden, sondern sie funktionieren bereits bei der Geburt oder im ersten Lebensjahr ausgesprochen gut. Die verarbeitenden zentralen Instanzen zur Auswertung dieser Sinne sind nämlich schon recht gut ausgereift: Ein Neugeborenes ist nicht nur in der Lage, Muttermilch zu erschmecken, die zentralen Instanzen bewerten den Geschmack von Muttermilch auch instinktiv als positiv – anders wäre ein Überleben des Säuglings kaum möglich.

Wie in diesem Kapitel gezeigt werden soll, reifen basale Sinne zwar im Laufe des Menschenlebens weiter aus, doch stehen ihnen bereits bei der Geburt sehr differenzierte Wahrnehmungs- und Verarbeitungsmöglichkeiten des Gehirns zur Verfügung. Außerdem prägen diese basalen Sinnesfunktionen des Schmeckens, Tas-tens und des Gleichgewichtssinns in erheblichem Maße die frühkindliche Emotionalität und damit basale Teile unserer Persönlichkeit. Und schließlich spielen auch und gerade bei sinnesbehinderten Menschen (z. B. schwer hörgeschädigten oder blinden Menschen) die basalen Sinne des Riechens, Schmeckens oder Tastens wie bei allen anderen Menschen auch eine eminent wichtige Rolle. Auch bei schwer mehrfachbehinderten, autistischen oder schwer geistig behinderten Menschen gelingt oft eine Kommunikation unter Nutzung basaler Sinnesqualitäten. Aus diesem Grund soll in diesem Kapitel auf die „basalen Sinnesfunktionen“ etwas näher eingegangen werden.

Der Geruchssinn

Funktionen

Der Geruchssinn, ein Nah- und Fernsinn, hat zum einen Bedeutung für unsere Orientierung, zum anderen für die Nahrungsauswahl (und damit das Schmecken), für wichtige vegetative Funktionen, unser emotionales Erleben sowie eine Reihe von sozialen Verhaltensweisen. Zwar ist unser Geruchssinn, vergleicht man ihn mit dem anderer Lebewesen wie etwa den Hunden, relativ unterrepräsentiert: Den 120 Millionen Sinneszellen der Hundenase stehen lediglich 30 Millionen menschliche Riechzellen gegenüber – dennoch ist der Geruchssinn für uns von elementarer Bedeutung, was sich auch in Redewendungen wie „Den kann ich nicht riechen“ oder „Zwischen uns stimmt die Chemie“ wiederfindet.

Geruchsrezeptoren

Düfte und Gerüche entstehen, wenn Partikel von der Luft mitgeweht und in wässriger Lösung der Nasenschleimhaut an die Rezeptoren der Riechzellen gelangen, um dort „anzudocken“. Diese Rezeptoren befinden sich an haarähnlichen „Zilien“, die durch das Siebbein hindurch in die obere Nasenmuschel und ihre Riechschleimhaut ragen. Das Andocken geruchsspezifischer Moleküle ändert vorübergehend Membraneigenschaften, so dass sich Ionenkanäle öffnen können und ein ioneninduziertes, bio-elektrisches Potenzial entsteht. Von den Sinneszellen, die bipolar sind, also einen aufnehmenden dendritischen Teil haben und einen weiterleitenden abführenden Spross aufweisen, werden die Informationen im sog. Riechkolben (bulbus olfactorius) an nachgeschaltete Nervenzellen weitergeleitet. An solchen Schaltstellen laufen Informationen von jeweils etwa 1000 peripheren Sinneszellen zusammen. Während die Sinneszellen alle 14 Tage „erneuert werden“, sind die nachgeschalteten Nervenzellen, so genannte Mitralzellen des Riechkolbens, bleibend. Sie führen, als Nervus olfaktorius gebündelt, zum basalen Riechhirn, einer entwicklungsgeschichtlich archaischen Hirnsubstanz, die stammesgeschichtlich alt ist und dem Limbischen System zugerechnet wird.

Geruchsbewertung

Vom Riechhirn werden wichtige Leitungsbahnen über das Limbische System und den Hypothalamus zur Steuerung von vegetativen und hormonellen Funktionen weitergeleitet: Zum einen werden Gerüche hedonistisch bewertet und grundsätzlich in wohlriechend und nicht wohlriechend (Duft oder Gestank) eingeteilt. Gerüche werden in aller Regel nicht wertneutral, sondern wertend konnotiert. Ekelreaktionen mit damit verbundener Mimik oder Lust auf angenehm riechende Nahrung sind die mehr oder weniger unmittelbare Folge. Aber auch das Vegetativum sowie das Hormonsystem können reagieren: Mitunter läuft uns bei Wohlgerüchen das Wasser im Munde zusammen oder wir „schütteln uns mit Grausen“. Andererseits wird die Information auch via Thalamus (Vorzimmer des Bewusstseins) in Teile der präfrontalen Großhirnrinde weitergeleitet und dort mehr oder weniger bewusst wahrgenommen.


Bitte beschreiben Sie zunächst das Aussehen einer Geranie. Beschreiben Sie anschließend den Duft einer Geranie: Im zweiten Fall stehen Ihnen wesentlich weniger bewusste und sprachfähige Ausdrucksmodi zur Verfügung.

Wir sind zwar in der Lage, sowohl die Sinnesmodalität des Sehens wie auch die des Riechens bewusst wahrzunehmen und Gesehenes wie Gerochenes zu beschreiben. Im Gegensatz zum Sehen stehen uns hierfür aber nur verhältnismäßig wenige und rudimentäre Großhirnareale zur Verfügung. Die Beschreibung geruchlicher Informationen bleibt somit im Vergleich zu entsprechenden visuellen Verarbeitungen spärlich.

Geruchsqualitäten

Bis zu 10.000 Geruchsqualitäten können Menschen differenzieren. Dabei sind diese vermutlich nicht speziellen Rezeptortypen oder Sinneszellen zugeordnet, sondern werden durch komplexe Erregungsmuster vieler Sinneszellen repräsentiert. (Neuere Forschungsergebnisse legen allerdings nahe, dass es rund 350 unterschiedliche Rezeptortypen in der Nasenschleimhaut gibt, die die Grundlage differenzierter Geruchsempfindung bilden.) In die prinzipielle Unterscheidbarkeit von 10.000 unterschiedlichen Duftkomponenten und der damit verbundenen Flut olfaktorischer Informationen versuchen wir Ordnung zu bringen, indem wir mehr oder weniger sieben Primärgerüche unterscheiden, die von den meisten Menschen als solche wahrgenommen werden.


So könnten Sie sich die folgenden Substanzen in fester oder flüssiger Form (auf Watte geträufelt) besorgen und z. B. mittels kleiner Plastik-Filmdosen eine „Geruchsorgel“ der sieben Primärgerüche herstellen: Rosenextrakt oder Geraniol riecht blumig, ätherisch riecht Fleckenwasser, als kampferartig wird Arnika-Wurzelöl empfunden, stechend ist Essiggeruch, schweißig empfinden wir ein verschwitztes Textil und die darin enthaltene Buttersäure, faulig riecht Schwefelwasserstoff (Stinkbombe), und moschusartige Gerüche finden wir in manchen Parfums.

Geruch und Geschmack

Wie eingangs schon erwähnt, hat der Geruchssinn auch für den Menschen noch immer elementare Bedeutung. Zum einen ist er eng mit dem Geschmackssinn verbunden: Wie weiter unten noch beschrieben wird, können wir durch den eigentlichen Geschmackssinn unserer Zunge nur vier Geschmacksqualitäten (süß, sauer, bitter und salzig) unterscheiden. Dass wir natürlich viel mehr Geschmacksnuancen (genauer: Aromen) wahrnehmen, verdanken wir der Kopplung mit dem Geruchssinn. Durch die hintere Gaumen- und Nasen-Rachen-Region, einer Art Kamin, ziehen Geschmacks- und Duftmoleküle in die obere Nasenmuschel und werden, wie bereits beschrieben, olfaktorisch bearbeitet. So sind wir in der Lage, das Aroma eines guten Weines oder eines raffiniert gewürzten Gerichtes zu genießen. Die Kopplung von Geschmacks- und Geruchssinn erfüllt eine wichtige biologische Funktion: Verdorbenes Fleisch wird z. B. als übel riechend empfunden und daher nicht mehr gegessen, was evolutionsbiologisch dem Überleben förderlich war. Gerüche duftenden Gebäcks oder gebratenen Fleisches machen Appetit und verleiten uns zum Essen.

Geruch und Emotion

Die bereits beschriebene enge Verbindung zwischen Riechhirn, Limbischem System und Hypothalamus führt aber auch zu einer Kopplung von Geruchserleben, emotionalem Erleben, vegetativen Funktionen und basalem Sozialverhalten (z. B. im Bereich der Sexualität). Gleichzeitig hat auch das Geruchssystem mitunter Kommunikationsfunktionen. Vor allem unser Gedächtnis speichert nachdrücklich geruchliche Informationen, die über das Limbische System als wichtig erkannt worden sind. Erinnern Sie sich an den ersten Zahnarztbesuch? Das Parfüm Ihrer ersten Liebe?

Hier kommt die Kopplung von Riechen und Limbischem System, das ja nicht nur für die Emotionalität, sondern auch für Lern- und Gedächtnisvorgänge zuständig ist, zum Ausdruck. Schon in der frühen Kindheit werden für uns emotional wichtige Erlebnisse im Gedächtnis festgehalten und können durch partielle Sinnesfunktionen basalen Charakters, beispielsweise Schlüsselgerüche, wieder aktiviert werden. Dies kann auch bei verwirrten oder schwer geistig behinderten Menschen genutzt werden: Ähnlich wie die Musik können auch Geruchs- und Geschmackswahrnehmungen längst vergessen geglaubte Episoden ins Gedächtnis zurückrufen. Weihnachtserlebnisse in der Kindheit werden manchmal durch Gerüche von Zimtgebäck ins Gedächtnis gerufen.

Geruch und Sexualität

Auch für das Sozial- sowie Sexualverhalten hat das Geruchs-erleben eine gewisse Bedeutung. Im Tierreich ist dies unmittelbar einsichtig: Katzen und Hunde erkennen Mitglieder ihrer Art, z. T. sogar Rangpositionen eines Tieres am Geruch. Auch die Alarm- und Markierungsfunktion von Duftstoffen (z. B. bei Skunks) ist bekannt, und schließlich können Pherhormone u. a. Sexual-Duftstoffe das Paarungsverhalten der meisten Tierarten gravierend beeinflussen.

Nun sind wir Menschen nicht außerhalb der Ordnung natürlicher Lebewesen – auch wir reagieren in sozialer und sexueller Hinsicht auf Gerüche. Dies zu untersuchen ist allerdings schwierig, weil persönliche Erfahrung, Tradition und kulturelle Tabus die noch zu erörternden Phänomene überlagern können. Auch bei Menschen entwickelten sich besondere Duftdrüsen, die vor allem in den Achselhöhlen, im Genital- und Analbereich, aber auch an den Vorhöfen der Brustwarzen und an den Haaren zu finden sind. Solche (apokrinen) Duftdrüsen finden sich oft in der Nähe von mitunter gekräuseltem Haar, z. B. an Axilla und Genitalregion. Dies führt zu einer Oberflächenvergrößerung, so dass sich das Duftsekret, vor allem bei Erregung, entfalten kann. Man weiß aus Versuchen, dass Männer im Schlaf durch weibliche Sexualstoffe (Kopuline) beeinflusst werden können; und Frauen nehmen zur Zeit der Ovulation das männliche Androsteron zumindest nicht als unangenehm, eventuell als angenehm wahr. Bei der Partnersuche spielen unbewusste Geruchsvorlieben eine mitunter entscheidende Rolle.

Menschen, die in der frühen Kindheit permanent miteinander zusammen waren (Geschwister oder zusammenlebende Spielkameraden), haben ihren charakteristischen Duft verinnerlicht. Deshalb werden sie, wie Untersuchungen zeigen, als Erwachsene in der Regel kein erotisches Interesse aneinander haben. Auch hier ist die Kopplung von Geruchssinn prägenden Gedächtnis-spuren im Sinne einer Inzestprävention aufschlussreich. Um die große Bedeutung von Duftstoffen im erotischen Bereich weiß auch die Parfumindustrie.

3 064,16 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
651 стр. 36 иллюстраций
ISBN:
9783846358351
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают