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Auf die besondere Bedeutung des Geruchssinns bei dem vertrauten Erkennen von Mutter und neugeborenem Kind wird in Kap. 3.2 noch detailliert eingegangen.

Der Geschmackssinn

Der Geschmackssinn ist, wie wir gesehen haben, eng mit dem Geruchssinn gekoppelt. Er gehört ebenfalls zu den basalen Sinnen und bedient sich so genannter Chemorezeptoren.

Geschmacks-qualitäten

Grundsätzlich können wir vier Geschmacksqualitäten differenzieren: süß, was vorwiegend (wenn auch nicht nur) an der Zungenspitze wahrgenommen wird, während die Geschmacksqualitäten sauer und salzig vor allen Dingen im mittleren und seitlichem Zungenbereich lokalisiert sind. Am Zungengrund und Rachen haben wir Rezeptoren, die vor allem auf bittere Speisen (die oft giftig sind) reagieren und nicht selten den Würgereflex auszulösen imstande sind. Eine mögliche fünfte Geschmacksqualität wird in asiatischen Kulturen als „umami“ bezeichnet und entspricht in etwa dem Geschmack von Glutamat. Es wird bei uns auch als Geschmacksverstärker verwandt und ist ein Neurotransmitter, dessen übermäßiger Genuss zu Kopfschmerzen führen kann. Die vier Hauptgeschmacksqualitäten korrelieren evolutionsbiologisch mit archaischen und basalen Lebensfunktionen:

■Kochsalz (NaCl), das wir als intensiv salzig wahrnehmen, spielt – wie wir in Kap. 1 bereits festgestellt haben – vor allem für die Erregungsleitung im Nervensystem eine lebenswichtige Rolle. Ein „Zuviel“ an Kochsalz ist mit dem Leben nicht zu vereinbaren, und so gibt es einen Grad von versalzener Suppe, den wir bei allen kulturellen und individuellen Unterschieden nicht mehr zu essen in der Lage sind. Umgekehrt kann Salzmangel zu intensivem Salzhunger führen, so dass im Mittelalter das kostbare, weil seltene Salz mitunter zur Handelswährung werden konnte.

■Die Geschmacksqualität süß entspricht, soweit es sich um Naturprodukte handelt, meist energiereichen Nahrungsmitteln wie Honig, Trauben, reifen Äpfeln etc. und unterliegt einer hedonistischen und lustbetonten Bewertung. Diese hängt allerdings auch vom Blutzuckergehalt und damit dem Sättigungsgrad an süßen Stoffen ab: Bei hohem Blutzucker, z. B. am zweiten Weihnachtstag, gelüstet uns weniger nach weiterem Süßgebäck als vielmehr nach Gurken und Gesalzenem.

Für das neugeborene Kind ist die Kombination aus fettigen und süßen Geschmackskomponenten ein höchst lustbetontes und überlebensnotwendiges Phänomen. Muttermilch, die diese Geschmackskomponenten in besonderer Weise aufweist, ist die lebensnotwendige Voraussetzung für das Gedeihen eines Säuglings (jedenfalls bis zur Erfindung adaptierter artifizieller Milchen). Sie verheißt im Erleben des Neugeborenen vermutlich das „Land, darin Milch und Honig fließt“ – ein basales, wenngleich natürlich vorbewusstes Erlebnis, das prägenden Einfluss auf das gesamte weitere emotionale Erleben haben kann.

■Die Geschmacksqualität bitter, vor allem in der Kopplung bitter-sauer vom Nervus vagus weitergeleitet, warnt vor in der Natur vorkommenden gefährlichen oder unbekömmlichen Substanzen, z. B. Pilzen, Nikotin. Diese schmecken, jedenfalls in gefährlichen Konzentrationen, intensiv bitter und lösen Ekel, mitunter Würgereflex oder Erbrechen, also reflektorische Schutzmechanismen aus.

Kulturell können allerdings all diese Geschmacksqualitäten überformt, teilweise auch pervertiert werden. Bis vor 120 Jahren war es beispielsweise für den größten Teil der Weltbevölkerung außerordentlich sinnvoll, möglichst fettig und süß zu essen – es kam häufig zu Hungersnöten und kaum zur Gelegenheit, sich zu „überessen“. Das hat sich seit der Einführung raffinierten Zuckers im Überfluss einer Industriegesellschaft grundlegend geändert: Zivilisationsschäden wie Karies, Übergewicht u. a. Ernährungsschäden sind letztlich darauf zurückzuführen, dass unsere archaischen Geschmackswegweiser in einer Überflussgesellschaft problematisch werden. Ähnliches gilt übrigens auch für den Salzkonsum.

zentraleVerarbeitung

Ähnlich wie beim Geruchssystem sind auch die Geschmackssinneszellen einer ständigen Mauserung unterworfen. Die afferenten, zum Gehirn ziehenden Fasern empfangen Informationen aus mehreren Sinneszellen, manchmal auch aus mehreren Papillen. So kann eine einzige Sinneszelle nicht entscheiden, ob der von ihr empfangene Impuls daher kommt, dass ein Nahrungsbestandteil besonders intensiv salzig ist oder eine Nahrung zwar milde gesalzen, aber überwiegend aus der Geschmacksqualität salzig besteht: Die einzelne Nervenzelle differenziert also nicht zwischen Geschmacksprofil (Qualität) und Geschmacksintensität (Quantität). Erst wenn die Informationen in zentralnervösen Regionen aus vielen Sinnesarealen der Zunge miteinander ver-glichen werden, kann „geschmeckt“ werden, welche Geschmacksqualitäten in welchen Intensitäten vorhanden sind.

Es gibt erste Hinweise, welche biochemischen Prozesse den vier unterschiedlichen Geschmacksqualitäten zugrunde liegen. An den Membranen gibt es mindestens vier unterschiedliche Rezeptoren mit differenzierten Eiweißstrukturen, die in besonderer Weise auf die molekulare Beschaffenheit von Geschmacksträgern reagieren. Die Geschmacksqualität „sauer“ entsteht vor allem bei dem Andocken von Wasserstoffionen, die allen bekannten Säuren zu Eigen sind. Bei der Geschmacksqualität „salzig“ können Salze in wässriger Lösung in ihre beiden Ladungsteile (negative und positive) gespalten werden und an unterschiedlicher Stelle der Membran wirken, was zur Öffnung von Ionenkanälen führt. Auch bei süßen und bitteren Geschmacksstoffen sind es vermutlich spezifische Molekularbestandteile, die passende Rezeptoren aktivieren. Die biochemischen Vorgänge sind allerdings komplizierter, so dass hier auf die Fachliteratur verwiesen wird. Wichtig ist aber, dass es in den letzten Jahrzehnten gelungen ist, intensive „süße Stoffe“ zu synthetisieren, die, obwohl sie reine Energieträger (oder Kalorienträger) sind, bis zu 100fach stärker die Geschmacksqualität „süß“ empfinden lassen.

mimischesProgramm

Angeboren ist dem Menschen nicht nur die Fähigkeit, die o. g. Geschmacksqualitäten voneinander zu unterscheiden und sie emotional zu bewerten, sondern auch mimisch und gesichtsmotorisch darauf zu reagieren. Das so genannte „Ekelgesicht“ veranlasst als angeborenes mimisches Programm nicht nur uns, sondern bereits Neugeborene beim Kosten extrem bitterer Speisen, die Nasen-Lippen-Falte zu verstärken, den Mund zu verziehen, die Zunge nach vorne zu strecken und, bei stärkeren Reizen, den Würgereflex auszulösen. Dieses physiologisch angelegte „mimische Programm“ wird von allen Kulturen kulturell modifiziert und überformt und dient später auch zum nonverbalen Ausdruck von Abscheu: Wer seinem Gegenüber die Zunge herausstreckt, mimisch Ekel symbolisiert oder gar spuckt, darf sich dank der universellen Erfahrung von Ekelgefühlen darauf verlassen, verstanden zu werden, muss aber mit heftigen Aggressionen rechnen.

Schutzfunktion

Die Schutzfunktion von Geschmacks- und Geruchssinn zeigt sich auch in den ersten Schwangerschaftsmonaten: In dieser Phase ist es für Mutter und werdendes Kind weniger wichtig, dass die Mutter möglichst viele Kalorien zu sich nimmt (das ändert sich im letzten Drittel der Schwangerschaftsphase). Hingegen ist es in der vulnerablen Phase der ersten drei Embryonalmonate von ausschlaggebender Bedeutung, dass der junge Embryo möglichst mit keinerlei Gift- und Gefahrenstoffen in Berührung kommt, sollen nicht seine gerade angelegten Organe irreversibel geschädigt werden. Das mütterliche Hormonsystem verändert sich in dieser Zeit dergestalt, dass kleinste Geruchs- und Geschmacksnuancen, die auf verdorbenes Fleisch o. a. Schadstoffe hinweisen könnten, intensive Ekelreaktionen zur Folge haben. Die Veränderung des Geschmacks- und Geruchssensoriums (seine Überempfindlichkeit) ist ebenso wie das Schwangerschaftserbrechen lästig und unangenehm. Sie sind aber offensichtlich ein evolutionärer Schutz, so dass man Mutter und Kind möglicherweise nichts Gutes tut, wenn man ihr Antiemetika o. a. Medikamente gegen dieses „unerwünschte Erleben“ verschreibt.

Auch der Geschmackssinn ist, wie der Geruchssinn, ein basaler Sinn, der uns in den prägenden Phasen der ersten Lebensjahre in besonderer Weise beeinflusst (worauf im nächsten Kapitel eingegangen wird) und auch später kulturell überformt wird: Geschmacksvorlieben, Speisenzubereitung und Essrituale, gemeinsames Essen und Feiern bauen hierauf auf.

intermodaleKoppelung

Wie wir gesehen haben, ist der Geschmackssinn also eng mit dem Geruchssinn verbunden. In der Regel werden aber bei einer Mahlzeit die schon genannten Geschmacks- und Geruchseigenschaften einer Speise mit anderen Sinnesempfindungen verbunden: Tastkörperchen auf der Zunge analysieren die Konsistenz der Speise und lassen uns eine Nahrung fest, zäh oder weich erscheinen. Thermorezeptoren analysieren, ob eine Suppe zu heiß oder zu kalt ist. Schmerzrezeptoren schließlich sprechen auf bestimmte Nahrungsqualitäten an, z. B. Peperoni. Erst die Integration dieser sehr unterschiedlichen Sinnesempfindungen im zentralen Nervensystem führt uns zu dem Eindruck, dass eine Speise „schmeckt“ – oder auch nicht.

Der Tastsinn

Auch wenn wir intuitiv den Tastsinn für eine Einheit halten (wofür es wahrnehmungspsychologische Gründe gibt, s. u.), so handelt es sich doch in Wirklichkeit um einen Komplex sehr unterschiedlicher Empfindungsmodalitäten, denen mindestens 20 unterschiedliche Rezeptoren zugeordnet werden können.


Berühren Sie Ihre Haut zunächst mit einem Wattebausch, dann mit einer spitzen Nadel oder mit einem stumpfen Gegenstand. Was löst eine vibrierende Stimmgabel aus? Bewegen Sie mit einer Bleistiftspitze vorsichtig ein Haar an Ihrem Oberarm. Unterscheiden Sie Schmerz- von Kitzelreiz.

Fassen Sie einen warmen und einen kalten Gegenstand an, vergegenwärtigen Sie sich die momentane Stellung Ihrer Hand und bewegen Sie sie anschließend: Welche Gelenke haben Sie bewegt und woran haben Sie das bemerkt?

An diesen wenigen Beispielen lässt sich aufzeigen, dass unser Tastsinn aus sehr unterschiedlichen Facetten zusammengesetzt ist. Grundsätzlich kann man Sensibilitätsreize von Schmerzempfinden unterscheiden. Beiden liegen nicht nur unterschiedliche Rezeptoren, sondern auch eigene Leitungsbahnen zum Gehirn zugrunde. Die Sensibilität wiederum kann in Oberflächen-, Tiefen- und Eingeweidesensibilität unterschieden werden.

Oberflächen-sensibilität

Die Oberflächensensibilität besteht zum einen in der Fähigkeit, Wärme- und Kältereize voneinander zu unterscheiden. Hierauf sprechen „Thermorezeptoren“ an, die eine relative (keine absolute) Empfindung ermöglichen: Taucht ein Proband zunächst die linke Hand in eiskaltes, die rechte in sehr warmes Wasser und anschließend beide Hände in ein Gefäß mit lauwarmer Flüssigkeit, so wird ihm dies linksseitig als warm, rechtsseitig aber als kalt erscheinen, obwohl er weiß, dass es sich um ein und dieselbe Flüssigkeit handelt. Kälte- und Wärmerezeptoren kommt eine wichtige Warnfunktion zu. Ohne sie bestünde zum einen die Gefahr, sich zu verbrühen oder sich anderweitig durch Wärme Schaden zuzufügen. Andererseits bestünde bei extremer Kälte die Gefahr der Erfrierung, und bei Außerkraftsetzen dieses Warnsystems (z. B. durch Betäubung nach übermäßigem Alkoholkonsum) kann es beispielsweise beim Zusammentreffen von Alkoholkrankheit und Wohnungslosigkeit im Winter zu Erfrierungen kommen.

Der größte Teil unserer Oberflächenrezeptoren gehört aber zur Gruppe der Mechanorezeptoren, wandelt also mechanische Reize in einen bioelektrischen Strom um. Dieser Tastsinn unserer Haut findet sich zunächst in so genannten Proportionalrezeptoren, die auf Druck und Berührung, auf Spannung und Dehnung reagieren, und zwar proportional zu ihrem jeweiligen Reiz. Nicht nur die Qualität des Reizes, sondern auch deren Intensität und Dauer können beurteilt werden. Je nach Dichte der Rezeptoren gelingt es uns mehr oder weniger, zwischen zwei Druckpunkten zu unterscheiden.


An den Fingerkuppen können wir die Berührung mit einer spitzen Nadel in einem Abstand von 2 bis 3 mm voneinander differenzieren. Dagegen muss dieser Abstand zwischen zwei Druckpunkten am Oberarm 5 bis 10 mm betragen, sollen die Reize als getrennt wahrgenommen werden. Nicht nur die unterschiedliche Dichte der Mechanorezeptoren, sondern auch die damit verbundenen Hirnareale, die die Information auswerten, bezeugen eine unterschiedliche Wichtigkeit unseres Tastsinns, je nach Region des Auftretens: Die Mundregion ist ebenso wie die Handinnenflächen, vor allem die Finger, in besonderer Weise taktil versorgt – dem Überleben des Neugeborenen, „Säuglings und Greiflings“, ist dies offensichtlich förderlich. Aber auch Gesichtspartien sowie erogene Zonen sind in besonderer Weise taktil repräsentiert.

Beschleunigungsrezeptoren reagieren auf Vibration, wie Sie bei dem o. g. Stimmgabelversuch feststellen konnten. Dicht unter der Haut einmündende Schwellenrezeptoren wiederum ermöglichen es uns, leichteste Berührungen als Juckreiz oder als Wahrnehmung „des Gekitzeltwerden“ zu registrieren. Sie haben vermutlich Warnfunktionen vor Parasiten und Insekten, sind bei längerer Dauer sehr unangenehm und verlangen „imperativ“ nach einer Reaktion, z. B. dem Kratzen.

Tiefensensibilität

Auch die Tiefensensibilität beruht weitestgehend auf Mechanorezeptoren, insbesondere auf Propriorezeptoren, die etwas über den Zustand unseres Körpers aussagen.


Führen Sie mit geschlossenen Augen Ihren linken Zeigefinger auf die Nasenspitze oder Ihre rechte Ferse zum linken Knie.

Verändern Sie die Haltung der rechten Hand eines Übungspartners, der die Augen dabei geschlossen hat. Fordern Sie ihn auf, die linke Hand bei ebenfalls geschlossenen Augen spiegelsymmetrisch auszurichten. Warum gelingt ihm dies?

Die oben aufgeführten Versuche gelingen dank der Propriorezeptoren unseres Stellungssinns, die mit erstaunlicher Genauigkeit arbeiten. Der jeweilige Spannungszustand von Gelenken, Sehnen und Muskeln wird so genau (in kleinsten Winkelgraden) zur somatosensorischen Großhirnrinde gemeldet, dass dort von Augenblick zu Augenblick eine recht präzise „mentale Landkarte“ unserer jeweiligen Körperposition angefertigt werden kann. Aber nicht nur die Körperhaltung, sondern auch die Körperbewegung verlangt zur genaueren Feinabstimmung eine sehr präzise Tiefenwahrnehmung.


Verändern wir durch Beugung oder Streckung die Stellung unserer Hand oder unserer Schultern, so können wir auch die Geschwindigkeit dieser Veränderung recht präzise abschätzen – vermutlich im zweiten Fall etwas besser, weil hier eine größere Winkelveränderung stattfindet.

Legen wir einem Übungspartner, der die Augen geschlossen hat, zwei gleich große, aber unterschiedlich schwere Objekte in die rechte und linke Hand, so wird er möglicherweise nur mit Mühe feststellen können, welches das schwerere Objekt ist. Fordern wir ihn aber auf, beide Hände nach oben zu bewegen, so gelingt ihm möglicherweise die Differenzierung. Das hängt damit zusammen, dass unser Kraftsinn, eine dritte Funktion der Tiefensensibilität, mit in die Beurteilung einbezogen wird.

Sowohl die Oberflächen- wie die Tiefensensibilität ermöglichen es uns, ein Körperschema aufzubauen, mit Hilfe unserer Sensorik die Welt zu ertasten und insbesondere unsere Feinmotorik darauf abzustimmen. Funktioniert dieser wichtige Sinn nur unzureichend, kann dies negative sensorische, motorische und emo-tionale Folgen haben.


Ein Kind, dessen Kraftsinn noch nicht ausreichend entwickelt ist, kann möglicherweise Gegenstände zerbrechen, weil es inadäquat zudrückt. Schwierigkeiten beim Eingießen einer Tasse Kakao müssen nicht immer motorischer Natur sein: Wenn Stellungs- und Bewegungssinn noch nicht voll entwickelt sind, kann dies ebenfalls zu Koordinationsschwierigkeiten führen.

Schmerz

Unter „viszeraler Sensibilität“ verstehen wir sensorische Empfindungen der Eingeweide (Magen, Darm etc.). Von anderen Rezeptoren und Leitungsbahnen werden ebenfalls viszerale Informationen, nun als Schmerzreiz, zum Großhirn weitergeleitet: Gallen- oder Nierenkoliken sind typische Vertreter solcher mitunter heftigster viszeraler Schmerzzustände. Tiefenschmerz empfinden wir, wenn Bindegewebe, Knochen, Gelenke oder Muskeln (z. B. bei einem Muskelkrampf) involviert sind. Der Oberflächenschmerz schließlich entsteht bei Irritationen oder Verletzung der Haut, z. B. bei einem Nadelstich oder einer Schnittwunde. Der Schmerzsinn ist ein archaischer, für das Überleben notwendiger Sinn: Menschen, die aufgrund eines genetischen Defekts schmerzunempfindlich sind, erreichen selten das 30. Lebensjahr, weil sie nur unzureichend oder gar nicht vor Gefahren gewarnt werden. Der Schmerzreiz wird durch verschiedene Schmerzrezeptoren, die hier aufzuführen den Rahmen des Buches sprengen würden, aufgenommen und über zwei unterschiedliche Leitungsbahnen zum Gehirn weitergeleitet:

■Eine unmittelbare, archaische Leitungsbahn, die als extralemniskale Bahn bezeichnet wird, gelangt über Teile des Stammhirns zu Zwischenhirnstrukturen und vermittelt dort einen dumpfen, sehr unangenehmen und ungenau zu lokalisierenden Schmerz: Mitunter können wir nicht genau angeben, welche Zahnwurzel uns so pochend weh tut. Ähnliches gilt auch für Tiefenkopfschmerz und vergleichbare Phänomene. Die Endstrecke dieser Bahn ist dem Zentrum benachbart, das maßgeblich an der Entstehung von Depressionen beteiligt ist. Deswegen gibt es hier enge Verbindungen zwischen Schmerz und Niedergeschlagenheit. Es sind z. T. ähnliche Hirnareale und Transmitter, die hier eine synergistische Rolle spielen.

■Das zweite Schmerz-Weiterleitungssystem bedient sich des Lemniskus, der so genannten Schleifenbahn, ist entwicklungsgeschichtlich neueren Ursprungs und mündet in der Großhirnrinde. Es ist vor allem für den Oberflächenschmerz zuständig und ermöglicht eine fast punktgenaue Lokalisation.

Bei manchen mechanischen Schmerzreizen kommt es vermutlich zur Aussonderung so genannter Neurokenine, Botenstoffe, die an den Synapsen auch noch nach der akuten Schädigung wirksam bleiben. So ist zu erklären, dass ein Schmerz auch noch lange nach der Schädigung empfunden wird.

Somatosensorik

Alle bisher genannten „Tastsinne“ werden als „somatosensorisches System“ zusammengefasst. Zwar sind auch Augen und Ohren Sinnesorgane und gehören somit zur Sensorik, aber der „Tastsinn“ erfasst die Informationen aus dem und durch den Körper, insbesondere seine Oberfläche. Punkt für Punkt werden in der Großhirnrinde alle somatosensorischen Areale der Peripherie repräsentiert. So gibt es Großhirnrindenzellen, die nur „ansprechen“, wenn der linke große Zeh berührt wird, andere reagieren auf sensible Reize am Unterarm etc. Darüber hinaus werden die peripheren Areale in der Großhirnrinde mehrfach repräsentiert und Reize nach verschiedenen taktilen Reizqualitäten unterschieden. Intensität und Qualität von Vibration, Druck oder Bewegung werden zunächst getrennt und parallel verarbeitet, um später integriert zu werden, so dass wir ein einheitliches Geschehen erleben.


Lege ich mich auf ein Wasserbett, so wird die Wärme, der Druck, die Wellenbewegungen an unterschiedlichen Orten verarbeitet, dennoch aber als ein einheitliches Geschehen interpretiert.

Wie wir gesehen haben, sind die verarbeitenden Areale in der somatosensorischen Hirnrinde unterschiedlich gewichtet: Dicht mit Rezeptoren bestückte und häufig Informationen weitergebende Hautbezirke werden in der Hirnrinde überdurchschnittlich repräsentiert.


Plastizität: Aus Primatenversuchen weiß man, dass bei Ruhigstellung einer Extremität, beispielsweise eines Schimpansenfingers, die hierfür zuständigen Hirnareale „funktionell schrumpfen“: Die Zahl der Hirnzellen bleibt zwar konstant, aber die Synapsen der nun nicht gebrauchten Funktion verkümmern. Stattdessen werden neue Synapsen, beispielsweise für die Verarbeitung von Informationen eines beweglichen benachbarten Fingers, angebahnt. Ein über mehrere Monate „stillgelegter“ (eingegipster) Finger führt also nicht nur zur Veränderung des Muskelsystems (was unmittelbar einsichtig ist), sondern auch zu plastischen Veränderungen im Gehirn. Dieser Vorgang ist übrigens reversibel: Einige Monate nach Reaktivierung des peripheren Organs strukturiert sich auch die Hirnrinde wieder um.

Der Gleichgewichtssinn

Gehen wir zum Abschluss des Kapitels über basale Sinnesfunktionen noch kurz auf die Gleichgewichtssinne unseres Vestibularsys-tems ein. Dieses liegt, gut geschützt vom Felsenbein, dem festesten Knochen unseres Schädels, in den Tiefen unseres Innenohres. Es basiert ebenso wie unser Hörorgan auf der mechanischen Reizung von Sinneshärchen, deren Bewegung eine vorübergehende Veränderung einer Zellmembran auslöst: Wo aber Zellmembranen verändert und Ionenkanäle geöffnet werden, entsteht ein bioelektrischer Strom, der an benachbarte Nervenzellen weitergeleitet, dort verstärkt und dem Gehirn zugeführt werden kann. Im Wesentlichen besteht unser Gleichgewichtssinn aus zwei Systemen: Zum einen aus zwei Makulaorganen, zum anderen aus drei Bogenorganen.

Makulaorgane

An der Basis eines Makulaorgans befinden sich Sinneshärchen, die in eine gallertartige Masse eingelagert sind. Ebenfalls in diese Masse eingelagert sind kalkhaltige Steinchen, so genannte Otolithen. Sie werden bei einer Vor- oder Rückwärtsbewegung des Kopfes entsprechend ausgerichtet, was eine Scherbewegung der Sinneshärchen zur Folge hat. Makulaorgane registrieren also Beschleunigungs- oder Translationsbewegungen, wie sie beispielsweise beim plötzlichen Stoppen eines Autos auftreten, wenn der Kopf nach vorne und zurückbewegt wird. Beide Makulaorgane (genauer gesagt vier, denn sie sind beidseitig angelegt) sind senkrecht zueinander angeordnet. Somit gibt die Verrechnung der im Gehirn ankommenden Informationen ein recht genaues Bild von der Haltung des Kopfes, wenn dieser geneigt wird.

Bogengänge

Nicht nur die Makulaorgane, sondern auch die Bogengänge berücksichtigen die Dreidimensionalität des Raumes durch ihre spezifische Anordnung. Mit Hilfe der Bogenorgane wird eine Drehbeschleunigung (Rotationsbeschleunigung) wahrgenommen. Wird der Kopf gedreht, so kommt es zu einer vorübergehenden Ausrichtung einer Membran, die einen flüssigkeitsgefüllten Raum umschließt. Die unterschiedliche Dichte der sich dies- und jenseits bewegenden Flüssigkeiten führen dazu, dass das hieraus resultierende Trägheitsmoment zur Ausrichtung von Sinneshärchen führt. Diese Ausrichtung wird mit Hilfe von Ihnen bereits bekannter Prinzipien in einen bioelektrischen Strom umgewandelt und weitergeleitet. So kann das Gehirn Rotationen und Drehungen des Kopfes in allen drei möglichen Dimensionen wahrnehmen und registrieren. Es weiß also immer, in welcher aktuellen Lage sich der Kopf befindet und „wo oben und unten ist“.

intermodaleVerknüpfung

Darüber hinaus werden die Informationen aus Makula- und Bogenorganen mit vielfältigen anderen sensorischen Informationen, vor allem den Ihnen bereits bekannten Propriorezeptoren aus Gelenken, Muskeln und Sehnen, verbunden. Darüber hinaus stehen sie in einem ständigen zirkulären Feed-back zu motorischen Zentren, insbesondere dem Kleinhirn. Die zentrale Verarbeitung der Information unserer Propriorezeptoren, insbesondere aus Gelenken, Muskeln und Sehnen, mit den Impulsen unserer motorischen Systeme sowie den Informationen der Gleichgewichtsorgane, ist die Grundlage unserer Steuerung sowie unseres Körpergefühls. Gekoppelt werden diese Informationen auch mit dem visuellen System.


Fixieren wir einen Punkt im Raum und bewegen den Kopf langsam selbständig, so haben wir den Eindruck, dass sich unser Kopf bewegt, das Bild jedoch feststeht. Wenn wir hingegen mit dem Finger den Augapfel seitlich leicht tangieren, so haben wir den Eindruck, dass das visuelle Bild sich bewegt – schließlich vermeldet unser Vestibularorgan ja keinerlei Reizung.

Da es für jedes Lebewesen überlebensnotwendig ist, „im Gleichgewicht“ zu sein und seine Position zu bestimmen, ist die Übereinstimmung aller diesbezüglichen Informationen lustbetont, eine Diskrepanz unlustbetont.


Kinder lieben das Gefühl des Aufgefangenwerdens nach dem „schaurig schönen“ In-die-Luft-geworfen-Werden. Die Balance von Irritation und Beruhigung des Gleichgewichtssystems beim Schaukeln (und beim Achterbahnfahren) werden als lustvoll erlebt. Eine dauernde Diskrepanz von sich veränderndem visuellen Horizont und den wellenbedingten Schwankungen der Schiffsplanken, auf denen ich stehe, führt mitunter zu heftiger Übelkeit und Seekrankheit.

Letztlich dient unser Vestibularsinn nicht nur der Orientierung im Raum, sondern vor allem der zielgerichteten Steuerung unserer Motorik. Wie in Kap. 6 noch näher gezeigt wird, sorgen motorische Zentren in Stamm- und Mittelhirn auf reflexhafter Ebene dafür, dass wir auch in Bewegung nicht aus dem Gleichgewicht geraten und adäquate Stellungen einnehmen. Das Stammhirn bewirkt beispielsweise, dass wir uns entgegen der Schwerkraft aufrichten können. Stellreflexe des Mittelhirns sorgen dafür, dass der Kopf in Normalstellung gebracht werden kann. Stellreflexe haben also die Aufgabe, den Körper in Normalstellung zu bringen, wenn er aus irgendeinem Grund „ins Schleudern geraten“ ist. Während statische Reflexe die Körperstellung im Liegen, Stehen und Sitzen regulieren, sind stato-kinetische Reflexe für die Ordnung des Gleichgewichts bei Bewegung zuständig und sorgen u. a. für eine korrekte Körperstellung bei Sprung oder Lauf.

Fassen wir zusammen: Neben den uns oft deutlich bewussten, im Laufe der Menschheitsentwicklung besonders wichtig gewordenen Fernsinnen des Sehens und Hörens besitzen wir eine Reihe basaler Sinne, die uns auf der einen Seite oft nicht so wichtig erscheinen. Andererseits sind sie bereits bei der Geburt voll angelegt und sehr schnell funktionsfähig und besitzen ganz offensichtlich für unsere primären Erfahrungen eine große Wichtigkeit. Auf die Entwicklung dieser basalen Sinne des Riechens, Schmeckens, Tastens sowie des Gleichgewichtssinns soll im folgenden Kapitel näher eingegangen werden.

3.2Die Entwicklung basaler Wahrnehmungsfunktionen

Alle basalen Sinne, das Riechen und Schmecken ebenso wie der Tast- und Vestibularsinn, werden frühzeitig angelegt und sind, was die Sinnesorgane angeht, bei der Geburt voll ausgebildet. Auch die zentralen Verarbeitungsinstanzen sind weitgehend in der Lage, Informationen dieser basalen Sensorien zu erarbeiten.

Die Entwicklung des Geruchssinns

RiechbahnRiechzellen

Die Riechbahn wird bereits in der frühen Embryonalphase angelegt, so dass bereits in der elften Woche eine Fülle von Riechzellen vorhanden ist. Ihre Funktion nehmen diese jedoch erst einige Monate später auf. Die meisten Riechzellen hat der Mensch kurz nach der Geburt, bereits in der Kindheit nehmen die Riechzellen an Quantität (vermutlich aber auch an Qualität) ab. Eliot (2010) führt dies auf unterschiedliche Faktoren wie z. B. Infektionen, Tabakrauch und Kontakt mit Schad- und Giftstoffen zurück, womit sie den abnehmenden Geruchssinn mit zunehmendem Alter erklärt.

Schon vor der Geburt sind die primären Sinneszellen der Riechbahn vollständig mit Myelinscheiben umgeben – diese Sinnesmodalität ist also wesentlich ausgereifter als andere Sinne. Der Bulbus olfaktorius, bereits zur Mitte der Schwangerschaft ausgereift, ist im letzten Drittel der Schwangerschaft in der Lage, seine Funktion aufzunehmen. Das Neugeborene kommt also mit einem relativ gut ausgeprägten olfaktorischen Sensorium auf die Welt, doch sind der weitere Ausbau und die Stabilisierung der Riechbahn von den Geruchserfahrungen in den ersten Monaten abhängig. Man weiß aus Tierversuchen, dass das Verschließen eines oder beider Nasenlöcher über längere Zeit in der prägenden Phase der ersten Lebensmonate zu einer drastischen Reduzierung der Neuronen in der Riechbahn führen kann.

vorgeburtlicheGeruchserfahrung

Bereits vorgeburtlich können unsere Riech- und Geschmackszellen Funktionen wahrnehmen. Das zeigt die Tatsache, dass bei vielen Gerüchen und Aromen, die die schwangere Frau inhaliert, aber auch bei z. B. scharf gewürzten Speisen der Fetus ab etwa der 28. Schwangerschaftswoche reagiert – u. a. mit Bewegung. Vor allem während des letzten Schwangerschaftsdrittels macht der Geruchssinn rasch Fortschritte und die geruchliche Umgebung eines Fetus beeinflusst diesen, wenn Geruchsmoleküle mittels der flüssigen Umgebung bis zur Nasenschleimhaut und in den Mund geraten.


Tierversuche weisen darauf hin, dass intrauterine „Geruchs- bzw. Geschmackserlebnisse“ vorbewusst im Gedächtnis gespeichert werden: Wenn ein Rattenfetus mit dem Geruch von Apfelsaft und unmittelbar darauf mit Übelkeit verursachenden chemischen Substanzen konfrontiert wurde, zeigte das betreffende Rattenjunge nach der Geburt einen Widerwillen gegen Apfelsaft.

Geruchserfahrungdes Neugeborenen

Ebenfalls aus Tierversuchen wissen wir, dass bei vielen Säugetieren die ersten Gerüche, die das Neugeborene bekommt, Gerüche seiner selbst (und des Fruchtwassers) sowie Gerüche der mütterlichen Brust sind. Auch neugeborene Menschenkinder reagieren auf den Geruch ihres Fruchtwassers, bevorzugen eine mit Fruchtwasser benetzte Brust und lassen sich dadurch beruhigen (vielleicht sollten wir uns nicht immer so beeilen, Neugeborene unmittelbar nach der Entbindung zu waschen).

Geruchskonstanz scheint für das Neugeborene besonders wichtig zu sein. Das gilt auch und insbesondere für den Geruch der wichtigsten Bezugsperson der ersten Lebenswochen und Monate, der Mutter. Neugeborene erkennen sehr bald den typischen Geruch von Frauen, die zum Stillen in der Lage sind (also Mutter und Ammen), und bevorzugen diesen Geruch vor allen anderen Gerüchen. Stellt man sie vor die Wahl, bevorzugen sie den Geruch der sie stillenden leiblichen Mutter vor dem von Ammen. Innerhalb weniger Tage sind sie nicht nur in der Lage, die ihnen angebotene Muttermilch von allen anderen Flüssigkeiten zu unterscheiden und zu bevorzugen. Sie sind auch in der Lage, den typischen Körpergeruch ihrer Mutter – z. B. durch ein lange getragenes Textil – zu erkennen und sich von ihm beruhigen zu lassen. Dieser Aspekt kann beispielsweise auch bei Kindern in Inkubatorpflege genutzt werden.

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