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1952 – 53

Als Byron McCullough an diesem Morgen seine Augen aufschlug, spürte er sofort die klirrende Kälte, die sich im Schlafzimmer festgesetzt hatte und er wusste instinktiv: Es hatte über Nacht geschneit. Er blinzelte, rieb sich die verschlafenen Lider und gähnte, während er sich langsam aufrichtete. Heute war erster Advent und somit Sonntag, was wiederum bedeutete, es war keine Schule. Der zwölfjährige Junge gähnte noch einmal, seine dunklen Augen wanderten hinüber zum Nachtkästchen und zu dem unaufhörlich tickenden Wecker. Er zeigte bereits kurz nach halb acht Uhr; er erschrak. Du liebe Güte! Er hatte ihn nicht klingeln gehört und verschlafen! Ruckartig warf der Junge die Bettdecke zurück und sprang hinüber zum Fenster. Wieso hatte ihre Mutter sie denn nicht geweckt? Sie mussten doch pünktlich zur Kirche fertig sein, sonst tobte Vater wieder!

In dem anderen Bett, am Ende des Zimmers, das er sich mit seinem ein Jahr jüngeren Bruder teilte, rührte sich noch nichts. Byron rannte hinüber, schüttelte ihn durch das Federbett hindurch energisch an der Schulter.

„Mensch, Stace! Wach auf! Wir haben verschlafen!“

Lediglich ein unwilliges Grunzen war die Antwort. Der andere Junge zerrte an der Decke und zog sie sich über die Ohren. Byron verzog das Gesicht. Typisch, sein kleiner Bruder eben! Er wollte sich jedoch den Ärger gerne ersparen, wenn sie wieder einmal nicht rechtzeitig zur Abfahrt bereit, in ihrem besten Sonntagsstaat in der Tür standen, wenn ihr Vater mit dem alten Lieferwagen vorfuhr.

Eilig zog Byron sein kariertes Hemd und seine Bluejeans über und zögerte noch einen Moment, ehe er in die Cowboystiefel schlüpfte. Er wusste, dass seine Mutter es nur ungern sah, wenn er in diesem Aufzug am Sonntag umherlief. Nein, vielleicht gab es noch etwas draußen zu tun, Holz holen oder die Hühner füttern und dabei konnte er sich nun wirklich nicht erlauben, seine beste Kleidung zu ruinieren. Flink knotete er sich das rote Halstuch um und lief den Flur entlang und die Treppenstufen hinab in den Wohnraum des Ranchhauses, in dem er geboren und aufgewachsen war.

„Mom? Pa?“ Auf der untersten Stufe blieb der Junge stehen, niemand antwortete. Er trat zwei Schritte nach vorn, wo zu seiner Linken die Tür zum Arbeitszimmer seines Vaters nur anlehnte. Er stieß sie vollends auf, doch auch hier war alles still und leer.

„Pa? Mutter?“ Seine Eltern mussten doch irgendwo stecken! „Sarah? Charlie?“ Doch auch seine beiden kleinen Schwestern gaben keine Antwort. Vielleicht schliefen sie noch.

Byron begann zu laufen – in die Küche neben dem großen Wohnraum, der die gesamte Westseite des Erdgeschoßes einnahm. Nein, niemand schien hier zu sein. Irgendetwas musste passiert sein! Sie hatten ihn und Stacy nicht geweckt und einfach alleine zurückgelassen!

Hastig rannte der Junge hinaus, unter den Vorbau der Veranda. Der Schnee, der sich vor ihm auftürmte, reichte ihm bis zu den Oberschenkeln und als er die beiden Stufen hinabtreten wollte, versank er fast vollständig darin. Solche Massen erlebten sie hier in der Gegend nur selten. Er ließ seinen Blick noch einmal gründlich über die mächtige Scheune, den Pferdestall, das kleine Bunkhouse – die Unterkunft der Cowboys – und die Koppeln gleiten. Fußstapfen führten vom Wohnhaus bis hinüber zum Pferdestall. Byron seufzte. Ihm war sehr unwohl zumute.

Mit einem Mal erklang das Wiehern eines Pferdes. Byron riss die Augen auf, er kannte diese Art von Wiehern – nur ein Hengst gab es von sich, so tief und laut. Jetzt siegte die Neugier über die Besorgnis. Schnell folgte der Junge dem Trampelpfad durch den Schnee, vorbei an der großen, alten Scheune, um zum Pferdestall zu gelangen. Womöglich war dem Hengst heute Nacht etwas zugestoßen, sodass seine ganze Familie sich jetzt um ihn kümmern musste!

Als Byron durch das angelehnte, doppelflüglige Tor in den hellen, kurzen Stall eintrat, bemerkte er zu allererst den großen, feurigen Rapphengst seines Vaters, der mitten in der Gasse, zwischen den Verschlägen, an einem der Stützpfosten des Daches angebunden stand. Hinter dem Jungen, aus einer der Pferdeboxen, erklang plötzlich das Rascheln von Stroh und Schritte. Byron fuhr herum.

„Na, auch schon wach!“ Lachend wandte sein Vater sich ihm zu, einen Hammer in der Hand und jetzt konnte Byron auch den Grund für die morgendliche Unruhe entdecken: Black Pearl musste über Nacht einige Bretter seines Verschlags weggetreten und sich dabei verletzt haben, denn in diesem Augenblick kam seine Mutter aus der Sattelkammer, den Verbandskasten in der Hand.

„Wo ist deine Jacke? Willst du dir den Tod holen?“, herrschte sie ihn mit strenger Miene an.

„Oh!“, machte Byron verlegen. „Hab’ ich ganz vergessen!“

„Dann sieh zu, dass du wieder ins Haus kommst“, befahl Fey McCullough streng und beugte sich mit vielsagendem Blick über die klaffende Wunde an der Flanke des schwarz-blau glänzenden, edlen Pferdes. „Und auf dem Weg dorthin kannst du gleich Jon Bescheid geben, dass er herkommen und deinem Vater zur Hand gehen soll!“

Byron nickte ergeben. Die lauten Hammerschläge hinderten ihn daran, etwas zu erwidern. Sein Vater fuhr fort, die zerborstenen Bretter notdürftig zu flicken.

„Das muss vorerst genügen. Morgen soll einer der Männer es anständig reparieren.“ Harold McCullough runzelte die Stirn, als er seinen Erstgeborenen noch immer wie hypnotisiert dastehen und glotzen sah. „Was ist, Junge? Hast du nicht gehört, was deine Mutter gesagt hat?“

„Ja, doch, schon“, beeilte Byron sich einzuwerfen und trat zwei Schritte zurück. Er kannte die schnelle Hand seines Vaters nur zu gut. „Soll ich die anderen wecken?“

„Nein“, entschied Fey auf ihre bestimmte, eigensinnige Art und schüttelte den Kopf. Ihr dunkelblondes, langes Haar fiel über die Schultern nach vorn; sie streifte es genervt zurück. Entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit, niemals ungekämmt am Frühstückstisch zu erscheinen, schien sie heute noch keine Zeit dazu gefunden zu haben.

„Nein?“, wiederholte Byron, ein wenig ungläubig.

„Nein!“, sagte seine Mutter noch einmal, diesmal ungeduldig. „Wir gehen heute nicht zur Kirche! Ich wüsste auch gar nicht, wie wir dort hinkommen sollten! Bei diesem Schnee kommen wir mit dem alten Klapperwagen gar nicht durch!“

„Oh ja, gut!“ Byron konnte nicht verhindern, grinsen zu müssen. Keine Kirche! Wie herrlich! Und das bei diesem Neuschnee! Da wusste er viel Besseres mit seiner freien Zeit anzufangen, die ohnehin recht knapp bemessen war, als in der Kirche zu sitzen und sich langweilige Predigten anzuhören!

„Ich hole Onkel Jon!“

Mit einem Ruck warf er sich auf dem Absatz herum und verschwand zum Stalltor hinaus.

„Dieser Junge! Aus dem wird noch ein prächtiger Rancher!“ Harold McCullough lächelte zufrieden.

„Meinst du?“, erwiderte seine Frau und es klang beinahe sarkastisch. Ein wenig erstaunt hob er die Brauen, doch sie widmete sich bereits wieder der Wunde des Hengstes, um sie zu reinigen und zu desinfizieren.

Harold McCullough war ein hochgewachsener, kräftiger Mann mit kastanienbraunem Haar und einem wettergegerbten Gesicht, wie es nur jemand besaß, der sein Leben lang draußen, in der freien Natur gearbeitet hatte. Den dichten Schnurrbart trug er meist zu lang, sodass dieser im Takt seiner Worte wippte, wenn er sprach. Harold wirkte auf seine Mitmenschen für gewöhnlich sehr selbstbewusst und unnachgiebig, beinahe hart und dieser äußere Eindruck täuschte nicht. Er gehörte zu den stolzen, schwer arbeitenden Ranchern, die in ihrer Jugend dem rauhen Klima von Wyoming getrotzt hatten. In Kalifornien erging es ihm heute wesentlich besser und es gab für ihn nichts Wichtigeres und Schöneres, als über Kälber, Pferde und die zu erwartenden Ernten bei einem guten Glas Whiskey zu philosophieren. Häufig geschah dies in Gesellschaft der Nachbarrancher oder im Rahmen von Versammlungen des Viehzüchterverbandes in Reno.

Der genaue Gegensatz zu ihm war seine Frau. Fey McCullough reichte ihrem Mann gerade bis zu den Achselhöhlen und besaß einen dünnen, beinahe mageren Körper. Ihr sanftes, hübsches Gesicht verbarg die Härte, die ihrem Charakter entsprach und der nur selten und in der Regel dann, wenn ihr etwas nicht recht war, aus ihr herausbrach. Dafür jedoch wurden diese Ausbrüche von all ihren Mitmenschen umso mehr gefürchtet.

Währenddessen stapfte Byron durch den hohen Schnee hinüber zum Bunkhouse. Seine Faust donnerte gegen die Eingangstür der Unterkunft. „Onkel Jon! Onkel Jon!“

Es vergingen einige Sekunden und allmählich merkte er, dass es doch sehr kalt geworden war über Nacht. Er bibberte, aber er hatte einen Auftrag von seiner Mutter erhalten und den würde er auch ausführen. Er klopfte noch einmal und endlich wurde die Türe von innen aufgezogen. Dahinter erschien ein schlanker, großer Mann mit graumelierten Haaren, das Hemd noch offen und mit schläfrigem Blick.

„Gott, Junge, was soll dieser Lärm schon in aller Herrgottsfrüh?!“ Der Vormann der Coyote Canyon Ranch kratzte sich den Dreitagebart.

„Du sollst sofort kommen! Black Pearl hat heute Nacht seinen Verschlag zusammengehauen und sich dabei verletzt!“

„Ah?“, war die einzige Antwort. Schließlich nickte der Mann und legte seine Hand auf den Kopf des Jungen. „Und du, geh wieder rein, bevor du dir eine Lungenentzündung holst! Ich bin schon auf dem Weg!“

Byron wandte sich dankbar um. Er war froh, wieder ins warme Haus zurückgehen zu können. Eigentlich war Jonathan Sanfors nicht sein Onkel, aber sie alle nannten ihn so. Er arbeitete bereits seit vielen Jahren für ihren Vater und sie wussten nicht, wie es ohne ihn auf der Ranch wäre. Schon von Beginn an hatten sie ihn als eine Art Onkel betrachtet, den es nicht gab in ihrem Leben. Fey besaß keine Geschwister mehr und die Brüder von Harold waren in alle Winde zerstreut. Byron konnte sich kaum an eine Begegnung mit einem von ihnen erinnern. Für ihn, wie für seine Geschwister, war Jon der Ersatz für Großvater, Onkel und all die anderen Verwandten, die sie nicht kannten.

Als Byron das Haus betrat, fand er im Wohnraum seine drei jüngeren Geschwister versammelt. Die vierjährigen Zwillinge weinten und schrien und Stacy tat sein Möglichstes, sie zu beruhigen.

„Na, endlich!“, fuhr er seinen älteren Bruder zornig an, als dieser wieder in der Tür erschien. „Ich dachte schon, ihr seid alle verschollen!“

Byrons Blick verfinsterte sich. „Du wirst es ja wohl noch hinbekommen, zwei kleine Mädchen zum Schweigen zu bringen!“

„Dann mach’ es doch selber!“, rief Stacy aufgebracht und sprang vom Sofa auf, wohin er seine beiden kleinen Schwestern gesetzt hatte. „Ich geh’ mir was anziehen!“

„Klar, hau’ ruhig ab und überlass’ mir mal wieder die ganze Arbeit!“

„Du bist doch eh der Klugscheißer in der Familie!“, schrie Stacy zurück und rannte die Treppe hinauf, so schnell er konnte. Manchmal, da konnte es Byron richtig fertigbringen, dass er ihn hasste.

Den Vormittag verbrachten die Kinder draußen, im Schnee und waren kaum dazu zu bewegen, wenigstens zum Mittagessen hereinzukommen. Wie jeden Tag brachte Fey auch zu Jon und den anderen beiden Männern, die für sie arbeiteten – Bruce und Craig – etwas davon hinüber zum Bunkhouse. Morgen würden die beiden für drei Monate fortgehen. Im Winter über brauchten sie keine zusätzlichen Arbeitskräfte und die Cowboys fuhren entweder nach Hause, um sich dort während dieser Zeit etwas Geld dazuzuverdienen oder sie gingen gleich irgendwo in die nahegelegenen Städte und suchten sich dort übergangsweise Arbeit. Nur Jon blieb. Er hatte keine Familie mehr irgendwo in diesem Land. Er war allein und seine einzige Familie, die er besaß, waren Harold und Fey und deren vier Kinder.

Fey wusste das und deshalb lud sie ihn seit vielen Jahren schon ein, das Weihnachtsfest mit ihnen zu verbringen, seit dem Tag, an dem Harold ihn aus der Stadt mitgebracht und ihn als ihren neuen Vormann vorgestellt hatte. Das war gleich nach dem völlig unerwarteten Unfalltod von Mike gewesen, der die Position vorher innegehabt hatte. Er war an einem sonnigen Frühjahrsmorgen hinausgeritten, um ein paar verschwundene Rinder zu suchen und nicht wiedergekommen. Irgendwann war Harold ihm gefolgt, weil er anfing, sich Sorgen zu machen. Er hatte ihn nur wenige Meilen von der Ranch entfernt gefunden – mit gebrochenem Genick. Sein Pferd stand ruhig, nur ein paar Meter daneben und graste. Mike war ein hervorragender Reiter gewesen und niemand konnte sich erklären, wie er so unglücklich hatte vom Pferd fallen können, dass er dabei genau auf dem umgestürzten Baumstamm gelandet war. Und so kam Jon zwei Wochen später auf die Ranch.

Nach dem Mittagessen stürmten die beiden Jungs wieder hinaus in den Schnee. Die Zwillinge ließ Fey lieber nicht mehr in die Nässe und Kälte. Sie waren mit ihren vier Jahren noch klein und zart und sie wollte nicht riskieren, dass sie sich erkälteten.

Am Nachmittag musste sie Byron und Stacy trennen, die sich in der Wolle hatten. Nun, das war nichts Neues, die beiden stritten sich wegen jeder Kleinigkeit. Eigentlich hatte Fey geglaubt, wenn zwei Brüder nur knapp elf Monate hintereinander geboren wurden, müssten sie glänzend miteinander auskommen. Das war jedoch im Bezug auf ihre Söhne so gar nicht der Fall. Die beiden gerieten aneinander, wann immer sie konnten. Manchmal glaubte Fey, es würde ihnen regelrecht Freude bereiten, auf dem jeweils anderen herumzuhacken und eine Auseinandersetzung zu provozieren. Auch im Pausenhof der Schule waren sie schon einmal so heftig miteinander in Streit geraten, dass es fast in einer Schlägerei geendet hätte und mehrere Lehrer sie trennen mussten.

Meistens vertrugen sich Byron und Stacy bald wieder, doch der Friede währte leider in der Regel nur kurz. Ab und an hegte Fey zwar den Verdacht, dass Byron nicht unbedingt das Unschuldslamm war, das er immer gerne vorgab zu sein. Doch bisher hatte sie noch keine Gelegenheit gehabt, ihn dabei zu ertappen, dass er seinen jüngeren Bruder in irgendeiner Form herausforderte.

Die Tischlampe im großen Wohnraum brannte als einziges Licht. Der festlich geschmückte Weihnachtsbaum stand in der Ecke und verbreitete eine warme, gemütliche Atmosphäre. Feys Platz unter dem Fenster, in dem kleinen, gelben Sessel hatte einige Meter in Richtung der Türe zum Arbeitszimmer verschoben werden müssen, weil die Zweige der prächtigen Tanne zu weit in den Raum hineinragten. Obwohl es noch nicht spät am Abend war, konnte Fey sich nicht mehr auf ihre Stickarbeit konzentrieren. Gedankenverloren starrte sie in das Zimmer hinein, die Umrisse der Möbel verschwammen vor ihren Augen. Als sie damals, vor beinahe vierzehn Jahren hierher auf die Ranch bekommen war, als die junge Frau an der Seite Harold McColloughs, hatte sie nur so gestrotzt vor wild-romantischen Träumen. Sie hatte noch nicht geahnt, dass sie einen Patriarchen geheiratet hatte und ihr Leben von nun an in der Einsamkeit dieser trostlosen Prärie stattfinden würde. Geboren und aufgewachsen im Kreis ihrer Familie in einer Kleinstadt, hatte sie sich eher vorgestellt, wie auf einer Art Südstaatenplantage zu landen, anstatt in diesem mehr schlecht als recht eingerichteten Holzgebäude, das sich mit dem Titel Wohnhaus schmückte.

Zu Anfang war sie schüchtern gewesen, beinahe verängstigt ob all der rauen Burschen, die sie plötzlich umgaben. Die Cowboys und auch ihr Mann waren keine hochgebildeten Plantagenbesitzer, die eine Schule im Osten besucht hatten, wie sie es in „Vom Winde verweht“ gelesen hatte. Sie waren einfache, harte Arbeiter mit eigenem Wortschatz, den sie erst lernen musste und nicht wenige von ihnen konnten weder lesen, noch schreiben. Das brauchten sie auch nicht. Die Hauptsache war, sie konnten Pferde gut zureiten und die Rinder „lesen“, wie sie es nannten, wenn sie deren nächste Reaktion schon im Vorfeld erahnten. Feys Aufgaben bestanden aus der Zubereitung der Mahlzeiten für die Männer und dass sie sich um das Kleinvieh kümmerte, was so am Hof zu finden war, die Hühner und Ziegen und die Hunde, wenn diese nicht gerade mit draußen bei den Rinderherden waren. Oft blieb sie alleine zurück und da sie das Schießen erst mühsam lernen musste, fürchtete sie sich häufig vor Pumas, die im Frühjahr und Herbst aus den Bergen herabkamen und auch einmal versuchten, sich eins der Pferde aus der Umzäunung zu holen. Manchmal weinte sie dann vor Verzweiflung, weil sie niemanden hatte, der ihr zur Hilfe kommen konnte und das einzige, was sie beherrschte war, das Gewehr in die Luft abzufeuern und zu hoffen, dass es genügte, um die Raubtiere von den Zäunen fernzuhalten. Erst im Laufe der darauffolgenden Jahre begann Fey, sich selbst beizubringen, wie man eine Waffe handhabte und ihr blieb genügend Zeit, die Blechdosen von den Baumstümpfen hinter dem Haus zu schießen, während sie alleine auf der Ranch ihr Dasein fristete.

Harold sah es nicht gern, wenn er es mitbekam. Er wollte keine Frau, die sich wie ein Mann benahm. Außerdem war er es gewohnt, dass jeder seinen Kommandos Folge leisteten. Fey allerdings fand irgendwann zwischen ihrer Trostlosigkeit und dem Frust den Mut, sich zu wehren und zu protestieren, wenn ihr etwas nicht passte. Sie merkte bald, dass es Harold nicht gefiel, wenn sie widersprach, doch da sie im weiten Umkreis für einige Jahre die einzige Frau blieb, konnte sie sich durchaus erlauben, ihre Ernüchterung über das plötzliche Erwachen in dieser langweiligen, schnöden Umgebung an ihm auszulassen. Irgendwann fügte er sich und nahm ihre Wutanfälle nur noch gelassen hin. Ihm blieb auch nicht viel anderes übrig, wollte er nicht versuchen, sich irgendwo eine andere Frau zu suchen, die bereit war, dieses eintönige, von Schmutz und Witterungseinflüssen bestimmte Leben mit ihm zu teilen. Viele Rancher in der Gegend suchten vergeblich Jahre nach einer geeigneten Frau und wenn sie dann eine fanden, war sie selten eine außergewöhnliche Schönheit. Von daher durfte Harold sich nicht beschweren. Fey entwickelte im Laufe ihrer Ehe zwar einen ordentlichen Starrsinn, war aber recht hübsch anzusehen und ihre zarte, weibliche Figur entsprach ganz seinem Geschmack. Dass seine Frau womöglich unglücklich sein könnte mit ihrem Leben, mit dem täglichen Trott auf der Ranch, der Ausweglosigkeit, jemals mehr zu erreichen als das, was sie hatten – diese Idee kam Harold nicht in den Sinn. Für ihn gab es nichts Schöneres und Größeres als die Ranch seiner Ahnen fortzuführen und deshalb war ihm der Gedanke völlig fremd, jemand könnte diese Ansicht nicht teilen.

Fey seufzte tief und verbittert. Morgen war Silvesterabend und danach begann das neue Jahr 1953. Zwölf neue, jungfräuliche Monate von denen sie noch nicht recht abzuschätzen wagte, worauf sie hoffen durfte.

‚Vielleicht’, dachte Fey, ‚hilft es ja, wenn ich viel zur Kirche gehe und viel bete. Vielleicht bleibt mir dann noch genügend Zeit...’

Heute Morgen war sie mit Jon in die Stadt gefahren, unter dem Vorwand, sich im Damenmodengeschäft ein bisschen die neuesten Kleider und Mäntel anzusehen. In Wirklichkeit jedoch war sie bei Doktor Milford gewesen. Sie hatte es schon lange geahnt. Es war ein merkwürdiges, bedrückendes Gefühl nun die Bestätigung von einem Mediziner bekommen zu haben. Das Jahr, das auf sie alle wartete, würde nicht leicht werden, aber Fey war fest entschlossen, die wahren Tatsachen vor ihrer Familie und ihren wenigen Freunden zu verbergen und niemandem Kummer zu bereiten. Insbesondere nicht Harold oder den Kindern, die sie so dringend brauchten. Sie wusste, dass sie gebraucht wurde und das war vielleicht das einzige, was sie immer davon abgehalten hatte, nicht irgendwann verzweifelt die Flucht zu ergreifen oder ihrem Leben einfach ein Ende zu bereiten.

‚Nur – was passiert, wenn ich nicht lange genug durchhalte, bis die Mädchen größer sind? Wenn all die Gebete nichts nützen und Doktor Milford rechtbehält?’

Fey schloss die Augen und lehnte ihren Kopf zurück. Ihr Mann – sie hörte ihn in seinem Arbeitszimmer rumoren, die Papiere in Ordnung bringen, wie er es immer nannte. Die Kinder schliefen längst und Fey fühlte sich auch schrecklich müde. Sie beschloss, es wäre vermutlich das Beste, ins Bett zu gehen – ganz gleich, ob sich Harold darüber wunderte. Sie brauchte jetzt einfach mehr Schlaf. Mit einer langsamen, fast schwerfälligen Bewegung legte sie ihre Stickarbeit auf den kleinen Beistelltisch und knipste die Lampe aus. Im Haus war es still, bis auf das Rascheln von Papier aus dem Arbeitszimmer und das bisweilige Husten von Harold. Sie schlich auf Zehenspitzen zur Garderobe und als sie dort ihren Mantel am Haken entdeckte, hob sie ihn kurzentschlossen herunter. Irgendetwas zog sie noch hinaus, in die klare, frische Winterluft, den sternklaren Himmel betrachten und für ein paar Minuten vergessen.

Sie trat hinaus auf die Veranda und lehnte sich schwer gegen einen der Pfosten, die das Vordach stützten. Aus den Stallfenstern fiel Licht auf den Schnee. Jon arbeitete noch. Eines der Pferde hatte sich beim Toben auf der Koppel verletzt und die Wunde musste versorgt werden. Es war immer dasselbe. Jedesmal, wenn sie glaubte, jetzt hätten sie die schlimmste Zeit überstanden, passierte wieder etwas Unerwartetes das sie zurückwarf. In der Vergangenheit waren es missratene Ernten, Rinderseuchen oder Pferdediebstahl gewesen, der nie aufgeklärt wurde. Aber im Augenblick kämpften sie gegen ein ganz anderes Problem, für das es vermutlich keine Lösung geben würde.

Die Stille, die sie umgab, jagte Fey einen Schauer über den Rücken. Sie machte sie verrückt und sie sehnte sich plötzlich schrecklich nach ihren Kindern. Hastig betrat sie das Haus wieder durch die vordere Tür. Harold hatte nichts davon bemerkt, dass seine Frau nach draußen gegangen war und sie beabsichtigte nicht, es ihn wissen zu lassen. Mühsam zog Fey sich am Geländer die Treppe ins Obergeschoß hinauf. Sie brauchte keine Lampe, sie kannte jede Stufe, jede Holzbohle im Schlaf. Sie stellte sich vor, dass es ähnlich sein musste, wenn sie eines Tages sterben würde – dass sie eine Treppe hinaufging und oben warteten ihre Eltern, um ihr die Hand entgegenzustrecken und ihr das restliche Stück hinaufzuhelfen. Vielleicht war diese Krankheit auch ihre Strafe, weil sie so unzufrieden mit ihrem Leben und ihrer Entscheidung war. Hätte sie die Wahl gehabt, Fey wäre längst von hier fort gewesen, irgendwo zurück in einer Stadt und hätte sich eine Stellung gesucht, ganz gleich als was. Nur weg von dieser Ranch und der Knochenarbeit und dem Wissen, dass es bis zum Ende so weitergehen würde.

Der letzte Januartag begann mit Sonnenschein und sehr viel Schnee, der überall um die Gebäude der Ranch und auf den Koppeln glitzerte und funkelte. Die Welt um sie herum wirkte wie eine Märchenlandschaft, ganz rein und klar. In Wirklichkeit jedoch war sie für Fey wie ein Gefängnis, denn mit dem vielen Schnee kamen sie kaum hier heraus; vielleicht morgen, wenn sie Einkäufe erledigen musste.

Besorgt legte sich Jons Stirn in tiefe Falten. Er beobachtete Fey nun schon eine ganze Weile bei ihren Vorbereitungen für das Festtagsessen in der Küche, ohne dass sie ihn bemerkte. Vielleicht bildete er es sich nur ein, doch seit dem Tod ihrer Mutter vergangenes Frühjahr, war sie irgendwie stiller und verschlossen geworden. Sie schien oft gedankenverloren in die Gegend zu starren, ohne etwas davon wahrzunehmen, was um sie herum geschah. Harold schien von den Veränderungen an seiner Frau nichts zu bemerken, für Jon jedoch waren sie nicht zu übersehen. Jetzt, als Fey sich von dem schmalen Tisch neben der Hintertür umdrehte, fiel ihr Blick auf den alten Vormann und Freund. Er war beinahe so lange hier, wie sie selbst. Sie lächelte sanft.

„Probleme?“

„Ich wollte nachsehen, wie weit du mit dem Essen bist.“

„Es ginge schneller, wenn nicht alle zehn Minuten jemand käme und verkündete, er habe Hunger!“

Jon seufzte ungeduldig. Er war schlecht im unsinnige Reden halten. „Wie geht es dir, Fey?“ Er wusste, dass sie ihm nicht ehrlich antworten würde, aber auf irgendeine Art musste er versuchen, an sie heranzukommen. „Ich meine, wie fühlst du dich wirklich?“

„Gut“, antwortete Fey prompt und nickte heftig, doch ihre blauen Augen blieben trüb und ausdruckslos, ohne Licht. „Es geht mir sehr gut.“

Jonathan erwiderte nichts. Es war eine Lüge und er wusste es, doch er wusste auch, dass er kein Recht besaß, sie mit weiteren Fragen zu drangsalieren. Er war nur der Vormann, der sich als Freund der Familie fühlte, nichts weiter. Langsam wandte er sich ab und verließ das Wohnhaus über die Veranda.

Am nächsten Tag waren die Schneemassen vom Winterdienst so weit von den Straßen geschoben worden, dass ein Versuch gewagt werden konnte, mit dem Lieferwagen in die Stadt zu fahren. Jon übernahm die Aufgabe, eine neue Ladung benötigter Lebensmittel zu holen. Die Straßen der Stadt waren schmutzig und nass, weil der Schnee dort bereits taute oder von den Reifen der Räder platt gedrückt wurde. Die Fahrt war ein kleines Abenteuer gewesen und mehrmals wäre er fast steckengeblieben, weil die Nebenstrecken nicht gut geräumt waren. Ächzend kletterte Jonathan aus dem alten Lieferwagen. Sein Kreuz machte ihm heute wieder einmal besonders schwer zu schaffen, das war dieses merkwürdige Wetter, die Kälte und der Schnee. Er fluchte leise.

„Ah! Schön, Sie wieder einmal zu sehen, Jon!“, erklang in derselben Sekunde eine Stimme hinter ihm, die ihn erschrocken zusammenzucken ließ.

Der Vormann wirbelte herum. Vor ihm stand Doktor Frederik Milford, der Allgemeinarzt, der in Quincy seine Praxis betrieb. Der einzige Mediziner in einem weiten Umkreis, der aufgrund dessen immer auf dem Sprung zu seinen Patienten war und auch jetzt in Eile zu sein schien. Auf dem sich lichtenden braunen Haar trug er einen schicken Hut, der ihn mit seiner runden Brille wie einen Oststaatler wirken ließ. Die tiefliegenden, dunklen Augen hinter den dünnen Gläsern wirkten müde und erschöpft, beinahe ausgemergelt.

„Wie geht es Ihnen?“ Aufrichtig erfreut schüttelte Doktor Milford dem anderen Mann die Hand. „Und vor allem: Wie geht es Mrs. McCullough?“

„Oh, danke der Nachfrage! Wie Sie sehen, lebe und gedeihe ich prächtiger denn je!“ Eigentlich konnte auch Jon keine Zeit für ein Schwätzchen erübrigen, aber wie lange hatte er den Arzt nun schon nicht gesehen? Viel zu lange jedenfalls! Da musste eben selbst die Ranch einmal warten. „Ehrlich gesagt, um Fey mache ich mir ein wenig Sorgen. Vielleicht könnten Sie ja, wenn der Schnee es zulässt, im Laufe der Woche mal rein zufällig bei uns vorbeischauen? Sie verstehen schon.“

Der Ausdruck auf Doktor Milfords Gesicht wechselte von Erstaunen zu Ungläubigkeit. „Ja, aber…“ Seine Brauen zuckten. „Sie war doch erst vor einigen Wochen bei mir!“

„Wie?!“ Verdutzt blieb Jon der Mund offenstehen. Seine Gedanken überschlugen sich, er wagte kaum zu atmen. Also, doch! Sein Instinkt hatte ihn auch diesmal nicht getäuscht!

„Aber ja, natürlich!“ Unangenehm berührt trat Doktor Milford auf der Stelle. Er war Arzt, er hatte ein Schweigegelübde abgelegt, auch, wenn er es in diesem Fall unmöglich einhalten konnte. Das hier war eine Ausnahme, es war seine moralische Pflicht, dieses Gelübde zu brechen und die Wahrheit auszusprechen, selbst, wenn genau dies von seiner Patientin offensichtlich vermieden worden war.

„Haben Sie etwas Zeit, Jon? Dann würde ich Sie bitten, kurz mit mir in meine Praxis zu kommen.“

Den ausgetrampelten Pfad zwischen den Schneehäufen zum Wohnhaus war er wohl noch nie in dieser Geschwindigkeit entlang gestürmt. Er war völlig außer sich, als er oben die Haustür aufriss und in den Wohnraum stürzte.

„Fey!“

Das Haus war ruhig. Er wusste, dass Harold hinausgeritten war, zu den Winterquartieren der Jungpferde, um dort nach dem Rechten zu sehen und dass die beiden Jungs auf der Nachbarranch mit dem dortigen Sohn verabredet waren. Aber die Zwillinge mussten hier sein und damit auch Fey irgendwo in der Nähe.

Jon rannte mit langen Schritten in die Küche, in der sicheren Annahme, Fey dort vorzufinden. Er täuschte sich, dort herrschte gähnende Leere und kein Anzeichen, dass seit dem Frühstück jemand hier gewesen war. Ohne lange zu überlegen, eilte er ins Obergeschoß hinauf. Er hatte hier nichts zu suchen und er war auch noch nie hier oben gewesen, doch das hier war eine Situation der besonderen Art.

„Fey?“

Die Tür zu ihrem Schlafzimmer war nur angelehnt, ungeduldig trommelte er mit der Hand dagegen – sie schwang lautlos auf. Die Vorhänge waren zugezogen, sodass ein dämmriges Licht den großen Raum beherrschte. Es dauerte eine Sekunde, ehe Jon die Umrisse der Möbel erkennen konnte und dann entdeckte er sie: Sie lag auf dem Bett, angekleidet und friedlich schlafend. Erleichtert trat er zu ihr, mit einer Hand schüttelte er die Frau seines Arbeitgebers sacht an der Schulter. Ihre eingefallenen, ohnehin schon schmalen Gesichtszüge wirkten erschreckend blass, als seien sie nicht von einem lebenden, sondern von einem toten Menschen und das, obwohl sie gerade einmal fünfunddreißig Jahre alt war. Der Gedanke erschreckte Jon so sehr, dass ein Schauer über seinen Rücken jagte.

„Fey? Bitte, wach auf!“ Er schüttelte sie kräftiger und endlich erhielt er eine Reaktion.

Sie regte sich und öffnete verwundert die Augen. Sie schien nicht zu wissen, wo sie sich befand. „Was…Jon! Wie kommst du…“

„Entschuldige, Fey!“ Zuvorkommend half er ihr, sich aufzusetzen. „Ich hab’ überall nach dir gesucht. Aber das spielt jetzt keine Rolle, erzähl mir lieber endlich die Wahrheit, wenn du schon deinem Mann gegenüber offenbar nicht ehrlich bist! Ich habe Doktor Milford in der Stadt getroffen!“

Feys Atem ging schwer und unregelmäßig. Es dauerte einige Minuten, ehe sich ihr Zustand besserte. „Dann weißt du es also“, brachte sie endlich zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. Sie hielt sich die Hände vor den Bauch.

„Oh, Fey! Wenn…wenn dir etwas passiert wäre!“ Es klang schärfer und vorwurfsvoller als er beabsichtigt hatte.

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