Читать книгу: «Der Ruf des Kojoten», страница 5

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Das Hinaufklettern an der langen, senkrechten Leiter zum Heuboden machte mir nichts aus. Ich mochte den Geruch des getrockneten Grases und den Staub der aufstieg, wenn ich mit der Gabel hineinstach und es auseinanderzuschütteln begann. Dann versprühte es noch mehr seines einzigartigen Geruchs, den ich tief in mir aufsog.

‚Eigentlich‘, dachte ich an diesem regnerischen Vormittag, als ich wieder dort oben stand und meiner Arbeit nachging, ‚wäre ich nicht hier, wenn alles anders gekommen wäre, aber so… Manche Wendungen im Leben haben vielleicht doch ihren Sinn.‘

Einen langen Moment dachte ich darüber nach, dann musste ich mich korrigieren. Nein, nicht die Wendungen waren es gewesen, sondern meine eigenen Entscheidungen. Ich hatte für mich gewählt, was in meinem Leben Priorität hatte – das Schreiben und meine Freiheit. Ich konnte zu viel Nähe zu Menschen noch nie ertragen, ich brauchte schon immer meinen Freiraum wie die Luft zum Atmen.

‚Wahrscheinlich bin ich auch ein Einzelgänger oder zumindest bin ich einer geworden‘, dachte ich und musste lächeln. Die Vorstellung störte mich nicht. Menschenaufläufe in Diskotheken oder Bars waren mir von jeher zuwider gewesen. Als Teenager hatte ich eine Zeit lang versucht, mich zu ändern, mich meinen Mitschülerinnen anzupassen und Spaß daran zu finden, mir die Nächte in vollen Kneipen um die Ohren zu schlagen, bei Alkohol, Zigaretten und lauter Musik, bei unsinnigem Geplänkel und der schier unerträglichen Müdigkeit, die mich spätestens um Mitternacht überfiel. Eine Weile hatte ich das mitgemacht und geglaubt, mich selbst so stark verändern zu können, dass mir diese Art des menschlichen Zusammenseins eines Tages gefallen könnte. Aber schon bald war es mir auf die Nerven gegangen und ich hatte aufgehört, mich wie die anderen zu benehmen oder so sein zu wollen wie sie. Es ging nicht, ganz einfach. Ich war einfach anders als der Großteil meiner Mitmenschen, dass es mir schlicht unmöglich war, mich ihnen anzupassen und daran auch noch Gefallen zu finden. Die einzige Befriedigung, die ich wirklich fand, bestand darin, alleine mit einem Pferd im Gelände zu reiten oder mit einem der Hunde aus dem Tierheim Gassi zu gehen – auch alleine. Da konnte ich meine Batterien wieder laden, mich erholen und nachdenken. Es war nicht, dass ich dann nicht auch gerne mit meinen Arbeitskollegen gescherzt und gelacht hätte oder mit ihnen mittags auf einen Kaffee gegangen wäre – das war etwas anderes. Aber abendelang sinnlos in Diskotheken herumhängen? Nein, danke, davon hatte ich mich schon vor Vollendung meines achtzehnten Lebensjahres verabschiedet. Das war eine andere Welt, in die ich nicht hineingehörte. Meine Welt war die meiner Fantasie, die meiner Romane. Sie hatten immer oberste Priorität. Arbeit zu haben war nötig, um Geld zu verdienen und zu überleben, mehr nicht. Jede freie Minute galt meinen Passionen und der Rest war eben notwendiges Übel.

Irgendwann ging unten die eine Seite des großen, quietschenden Scheunentors auf und eine Gestalt in langem Regenmantel betrat das Gebäude. Sie schüttelte sich und die Tropfen spritzten nach allen Seiten.

„Hey!“, rief Tom nach oben und befreite sich von dem nassen Umhang und dem Hut. „Wenn du fertig bist, kannst du mir helfen, die Pferde von der Koppel rein treiben! Es wird ziemlich matschig draußen und es ist besser, wir holen sie!“

Ich beugte mich über den Rand des Zwischenbodens, auf dem das Heu lagerte, um hinabzusehen. Dieser reichte bis etwa zur Mitte der Scheune, bevor er abrupt endete. „Ich bin gleich fertig!“

Tom verzog den Mund. „Ich komm rauf und helf’ dir, dann geht’s schneller.“

„Nein!“ Mein wütender Aufschrei ließ ihn an der untersten Sprosse der Leiter innehalten. „Ich kann das sehr gut alleine und ich sagte, ich bin gleich fertig!“

Eine Sekunde starrte er mich mit einer Mischung aus Ungläubigkeit und Erstaunen an. „Was?!“

„Ich sagte“, wiederholte ich, jedes Wort betonend, „dass ich keine Hilfe brauche! Ich bin vielleicht eine Frau, aber ich bin kein Schwächling! Ich kann das sehr gut alleine!“

Das typische, leicht spöttische Lächeln bildete sich auf seinem regenfeuchten, gutaussehenden Gesicht.

„Dass du keine richtige Frau bist im Sinne, was man normalerweise darunter versteht, habe ich inzwischen begriffen. Tut mir leid, wenn ich so offen bin.“

„Lieber geradeheraus, als auf einer Schleimspur durch’s Leben schlittern.“ Ich warf eine Gabel Heu neben ihm hinab auf den Boden der Scheune.

„Na ja, nimm’s mir nicht übel! Du entsprichst nicht ganz meiner Vorstellung von dem, was eine Frau normalerweise ausmacht!“

„Das ist mir nicht entgangen!“ Mein Zorn wuchs und wuchs und ich wusste nicht, wann ich die Kontrolle darüber verlieren würde. „Aber vielleicht ist das auch ganz gut! Sonst müsste ich noch befürchten, in dein Beuteschema zu passen und darauf lege ich nun wirklich gar keinen Wert!“

Ein leises, tiefes Lachen drang aus seiner Kehle. „Mach’ nicht den Fehler und beurteil’ mich danach, dass hier ständig irgendwelche Reitschülerinnen versuchen, sich an mich ranzuschmeißen!“

„Ja, natürlich! Ihr armen, armen Männer, die ihr euch nicht mehr retten könnt vor Verehrerinnen, die ihr eigentlich überhaupt nicht wollt und auch gar nicht brauchen könnt in eurem Leben!“

Wieder lachte er auf seine eigene, ironische Art. „Das habe ich nicht gesagt!“

„Nicht nötig! Ich konnte dich jetzt lange genug beobachten!“

Für einen Moment schien ich ihn um eine Antwort verlegen gemacht zu haben, denn er starrte ein paar Sekunden lang nur regungslos zu mir hinauf.

„Sieh an, sieh an! Ein bisschen widerspenstig da oben, was?“

„Ich und widerspenstig?!“ Ich stieß einen gespielt empörten Schrei aus. „Der einzige, der sich hier nicht zu benehmen weiß, bist du!“

„Ich gebe ja zu“, lenkte er sachlich ein, „dass ich manchmal etwas schwierig sein kann, aber das liegt nicht an dir! Das sind halt meine Launen.“

„Oh, wie bedauerlich! Die Frau, die dich eines Tages als Ehemann ertragen muss, tut mir jetzt schon leid!“

Er konnte sich ein weiteres, amüsiertes Lachen nicht verkneifen. „Woher willst du beurteilen, dass ich als Ehemann nichts tauge?“

„Neunzig Prozent aller Männer taugen nicht zum Ehemann, aber die Frauen reden es sich ein, weil sie nicht alleine alt und runzelig werden wollen und dann lassen sie sich von ihnen alles gefallen! Darum ist es besser als Frau allein zu bleiben und unter keinen Umständen jemals zu heiraten!“ Ich machte eine kurze Pause, ehe ich hinzufügte: „Und ja, ich spreche aus leidiger Erfahrung!“

Während ich redete, hatte er sich mit der Hüfte gegen die Leiter gelehnt und die Arme vor seiner kräftigen Brust verschränkt. Mit einem teils belustigten, teils ungläubigen Ausdruck schaute er mir zu, während ich Gabel für Gabel vom Heuboden hinab beförderte.

„Ach, komm schon! Die meisten Frauen bleiben ja doch irgendwann bei einem hängen, vor allem die, die zuerst am lautesten schreien!“

„Keine Sorge! Ich bin aus dem Alter raus, in dem man sich noch darüber Illusionen macht, dass das Leben wie ein Heimatfilm verläuft! Von mir gibt’s keine Kinder, weil ich keine will und ich werde auch nie einen auf brave Ehefrau machen, die daheim hinterm Herd steht!“

Ein Grinsen zuckte um seine Mundwinkel. „Das sagst du bloß, bis du den richtigen Mann triffst und dann geht alles ganz schnell!“

„Blödsinn!“, schrie ich, kurz davor, die Geduld zu verlieren. Er schaffte es tatsächlich, mein Temperament zu entzünden. „Ich kann immerhin behaupten, es probiert zu haben! Taugt nichts für mich!“

„Dann war’s eben nicht der richtige Mann!“

Ich beugte mich wieder über den Rand des Heubodens und warf ihm einen wütenden Blick zu. „Dito. Dasselbe kann ich ja in deinem Fall nur zurückgeben! Bei dir scheint’s auch des öfteren ein Griff ins Klo gewesen zu sein!“

Er hob die Hände, als müsste er sich verteidigen. „Schon gut! Bring mich nicht gleich um, aber Verzeihung, wenn ich das so sage – ihr Frauen seid euch alle irgendwie ähnlich. Ihr wollt alle eines Tages eine Familie mit Kindern und einem braven Mann, egal, wie ihr in jungen Jahren unterwegs seid. Die wenigsten ziehen die andere Möglichkeit rigoros durch.“

„Aha! Und du glaubst, ich wäre auch bloß eine von denen oder wie?!“

„Um ehrlich zu sein: Ja, das denke ich. Ich glaube nicht, dass du durchhalten wirst, wenn dir ein entsprechender Mann begegnet.“

„Na, du musst es ja wissen! Du schmeißt die Frauen, die sich so gerne an deiner starken Brust anlehnen möchten, ja gleich hochkant vom Hof!“

Er zog ein fragendes Gesicht, bevor er begriff. „Ah, verstehe, ja, ich erinnere mich. Was zu viel ist, ist zu viel, du verstehst?“

„Nein, aber erspar’ mir die Details! Und wenn du die Pferde möglichst bald reinholen willst, solltest du mich jetzt einfach in Ruhe weiterarbeiten lassen!“

„Ich komm jetzt rauf“, entschied er kurzerhand und setzte seinen rechten Stiefel auf die unterste Sprosse der Leiter, als eine Ladung Heu ihn unter sich begrub. Für einen langen Moment herrschte absolute Stille. Nur der Regen trommelte auf das Dach und erfüllte das Innere des großen, alten Gebäudes.

Langsam, fast bedächtig schüttelte Tom das Heu von seinen Schultern und zupfte die Halme aus seinem schwarzen Haar. Schließlich hob er den Kopf. Oben, am Rand der Leiter lehnte ich auf dem Stiel der Gabel und schaute abwartend zu ihm hinunter.

„Wie ungeschickt von mir…“

Ohne ihn weiter zu beachten, fuhr ich fort, das aufgeschüttelte Heu hinab in die Scheune zu werfen, mich nicht darum scherend, ob er noch immer dort stand oder nicht. Nach einer Weile hörte ich ihn leise fluchen und das Scheunentor quietschen. Jetzt trieb er seine Pferde vermutlich alleine ein. Nun, konnte er sich im Regen wenigstens ein bisschen abkühlen.

Ich schmunzelte. Ein klarer Sieg für mich. Niemals würde ich sein fassungsloses Gesicht vergessen, das unter dem Heuberg zum Vorschein gekommen war. Das hier war meine eigene, persönliche kleine Rache gewesen und ich schwor mir, dass er mich nie wieder so von oben herab behandeln würde, wie in der Vergangenheit. Ich besaß auch einen gehörigen Batzen Sarkasmus und wenn er meinte, er müsste die Herausforderung annehmen – bitte, ich war bereit.

1967 – 69

Byron McCullough lenkte seinen kräftigen, temperamentvollen Schimmel den vertrauten Weg entlang. Es war derselbe Weg, den er schon hunderte male zuvor geritten war und der ihn hinauf zu den östlichen Weiden brachte, wo er die Herde Jungpferde weiter zur nächsten Koppel treiben musste. Über ihm zog ein Adler seine Bahnen, hin und wieder einen Schrei ausstoßend. Der Tag war noch jung; er war vor allen anderen aufgestanden. Die Sonne blinzelte soeben erst hinter den Hügeln im Osten hervor und tauchte die Ebene in sanfte Brauntöne. Er kannte das alles sein Leben lang und nahm es deshalb auch kaum noch wahr. Es war eben so, ein Teil dessen, was zu seinem Alltag gehörte.

Seine Gedanken kreisten noch immer um den Brief in seiner Tasche und dessen Inhalt. Es war das, worauf er einerseits gehofft hatte und vor dem es ihm andererseits graute. Schön, er hätte bereits bei der Musterung ahnen können, dass sie ihn nicht ablehnen würden, jedenfalls nicht in solchen Zeiten. Da spielte es auch keine Rolle, dass er sich als Jugendlicher bei einem Sturz vom Pferd einmal das Becken gebrochen hatte. Er konnte noch ablehnen, anstatt sich zu verpflichten. Er fühlte sich hin und her gerissen zwischen seinem Wunsch nach Freiheit und dem Bestreben, den Erwartungen gerecht zu werden, die in ihn gesetzt wurden.

Äußerlich war Byron im Laufe seiner Entwicklung seinem Vater immer ähnlicher geworden: Dieselben, kastanienbraunen Haare und braunen Augen mit dem breiten, auf den ersten Blick nicht sonderlich attraktiven Zügen. Die gleiche hochgewachsene, muskulöse Statur mit den enormen Oberarmen und innerlich erfüllt mit dem ständigen Verlangen, über andere zu bestimmen. Ansonsten jedoch hatten sie nicht viel gemein, im Gegenteil. Die unendliche Liebe Harolds zu dieser Ranch und dem unerbittlichen, einsamen Land blieben Byron ein ewiges Rätsel. Schön, die Ranch befand sich nun in der vierten Generation in Familienbesitz, immer vom Vater an den ältesten Sohn vererbt und seine Bestimmung war es, der nächste in dieser Reihe zu sein.

Der junge Mann seufzte tief. Er war nun siebenundzwanzig Jahre alt und manchmal überkam in das geradezu panische Gefühl, dass sein Leben an ihm vorüberzog, ohne dass er es jemals wirklich genossen hatte oder auch nur verspürt, was es bedeutete, glücklich zu sein. Genau, wie seine verstorbene Mutter Fey vor vielen Jahren, fand er die Befriedigung nur im geschriebenen Wort, in Büchern und Zeitungen und damit in der Gewissheit, dass diese Welt noch mehr zu bieten hatte als ein Fleckchen Erde im Westen dieses unüberschaubar riesigen Landes. Er war schon immer getrieben von dem unstillbaren Verlangen, danach zu greifen, alles daran zu setzen, dass es ein „Mehr“ wurde. Ein Mehr an allem, nicht nur an materiellem Besitz, in erster Linie an Selbstbestätigung und dem Bewusstsein, dass er Größeres für sich schaffen konnte als lediglich der Erbe einer einfachen Rinderranch zu sein. Die Vorstellung bekam mit jedem Mal, da er sich dies vor Augen führte, einen bittereren Nachgeschmack.

Sein Schimmel scheute vor einem Vogel, der aus einem Gestrüpp flog und sprang mit einem mächtigen Satz zur Seite. Im letzten Moment gelang es Byron, sich am Sattelhorn festzuklammern, um nicht im hohen Bogen herabzustürzen. Er stieß einen leisen Fluch aus und griff in die Zügel. Der Wallach schnaubte und rammte seine Beine in den Boden. Byron richtete sich auf und drückte seinen schmutzigen Stetson tiefer ins Gesicht. Es war eben ein Tag, wie so viele andere davor und doch war er es nicht.

Die grelle Sonne stand hoch am Himmel, ließ den Sand im Innenhof beinahe weiß erscheinen; das Zwitschern der Vögel drang durch die offenen Fenster zum Wohnraum hinein. Das Pendel der schweren, alten Standuhr schwang tickend hin und her und brachte Charlotte dazu, alle paar Minuten auf das Ziffernblatt zu sehen – schon gleich halb fünf Uhr nachmittags! Entsetzlich! Draußen herrschte das herrlichste Wetter und sie saß nutzlos hier im Haus herum und weshalb?

„Kuck doch nicht immer, wann du endlich gehen kannst“, bemerkte Sarah schließlich gereizt, als ihre Schwester schon wieder nach der Uhr schielte und setzte den nächsten Stich, um den Knopf an Stacys Hemd anzunähen. „Deine Ballettstunde läuft dir schon nicht davon!“

„Ach, du hast doch keine Ahnung!“ Genervt verzog Charlotte das Gesicht zu einer bösen Grimasse und schüttelte den Kopf so heftig, dass ihr Pferdeschwanz rechts und links gegen ihre Ohren schlug. „Es ist jedesmal dasselbe, seitdem Tante Harriet ins Altersheim gezogen ist! Ständig müssen wir ran und den Haushalt schmeißen!“

Rügend verzog Sarah die Lippen. „Tante Harriet hat sich seit Mutters Tod um uns gekümmert und alles für uns getan! Sie hat ein gutes Recht, sich einen schönen Lebensabend zu gönnen, jetzt, wo wir erwachsen sind! Außerdem kann sie sich kaum noch selbst versorgen, das weißt du. Wie sollte sie uns da eine Hilfe sein?“

„Ja, ja, ich weiß“, versuchte ihre Zwillingsschwester beinahe verzweifelt vor lauter Ungeduld, den Haussegen zu wahren. „Es ist doch bloß, dass ich es hasse, zu spät zu kommen! Und nachdem der Wagen ja mal wieder nicht da ist, muss ich das Fahrrad nehmen!“

„Das kann dir nicht schaden!“ Es war nicht so böse gemeint, wie es klang, doch Charlottes hellbraune Augen blitzten zornig auf.

„Du bist ja nur neidisch!“, rief sie aufgebracht. „Weil du zum Tanzen überhaupt kein Talent hast! Darum hast du nach ein paar Stunden auch schon aufgegeben!“

Sarah seufzte und schüttelte den Kopf. „So ein Blödsinn! Früher habe ich für die Schule lernen müssen und jetzt habe ich einen Job! Außerdem gehe ich lieber reiten als ins Ballett!“

„Sicher“, kommentierte ihre Schwester ungerührt. „Ich erinnere mich noch sehr lebhaft daran, dass du jahrelang von nichts anderem gesprochen hast als davon, Mannequin zu werden oder sowas!“

„Mach’ dich nicht lächerlich!“ Sarah biss sich auf die Lippen und stach sich mit der Nadel in den Finger. „Dazu bin ich überhaupt nicht hübsch genug.“

„Nein, du nicht!“, erwiderte Charlotte giftig und fuhr fort, das Loch in der Hose ihres ältesten Bruders zu stopfen. Oh, wie sie sie hasste, diese lästigen Hausarbeiten!

Die beiden 19jährigen Zwillingsschwestern schwiegen für eine lange Weile. Sie wollten sich nicht zanken und doch geschah es in den letzten Monaten beinahe täglich, dass sie aneinandergerieten. Es schien wie eine Art Zwang – beide mussten der jeweils anderen beweisen, dass sie recht hatte.

Nach Beendigung ihrer Schullaufbahn hatte für beide das Arbeitsleben begonnen. Charlotte fand eine Anstellung in einer Modeboutique, was ihr recht gut gefiel. Ihre natürlich-elegante Art, ihr hübsches, zartes Gesicht mit den vielen, kleinen Sommersprossen und der unwiderstehliche Charme, mit dem sie jede Kundin einzuwickeln vermochte, machten sie für den Laden mittlerweile fast unentbehrlich. Es war nicht das, was sie sich für ihr Leben erträumt hatte, aber immer noch besser als die meisten anderen Optionen, die ihr nach der Highschool offengestanden hatten.

Sarah hingegen hatte keine allzu großen Wahlmöglichkeiten gehabt. Ihre Noten waren trotz aller Bemühungen nicht die besten gewesen und zudem besaß sie weder das hübsche Gesicht, noch die Ausstrahlung ihrer Schwester. Obwohl sie Zwillinge waren, so entwickelten sich im Laufe ihres Heranwachsens doch unterschiedliche Eigenschaften sehr prägnant aus; sie waren eben zweieiige Zwillinge und das nicht nur äußerlich. Für Sarah war schließlich eine Stelle im Büro in einem der Supermärkte übriggeblieben. Sie half bei der Buchhaltung und dem Schriftverkehr und brachte dem Chef den Kaffee, wenn er danach plärrte, war sozusagen Mädchen für alles.

„Ach, ich hab’ die Nase voll!“ Charlotte schleuderte die Hose beiseite. Sie musste sich nun wirklich beeilen, wenn sie noch halbwegs pünktlich zu ihrer Ballettstunde kommen wollte. Sie rannte hinüber zur Garderobe, wo bereits ihr Turnbeutel mit den Schuhen und ihrer Kleidung lag.

Sarah warf einen kurzen Blick über ihre Schulter zurück. Es hatte keinen Sinn, sich deswegen schon wieder zu streiten, sie wusste es. Ihr Vater stand in solchen Fragen immer und ohne Ausnahme hinter Charlotte. Irgendetwas bewog ihn zu glauben, sie habe ein großes Talent fürs Ballett und das Tanzen – im Gegensatz zu seiner anderen Tochter, die eigentlich gar nichts richtig konnte. Sarah verdrängte den Gedanken schnell und widmete sich wieder Stacys Hemd. Dann würde eben sie die Näharbeiten erledigen, damit ihre Brüder und ihr Vater wieder ordentlich herumlaufen konnten.

„Wenn Pa zurückkommt und nach mir fragt, kannst du ihm ja sagen, dass ich nicht länger warten konnte!“ Charlotte stürmte hinaus, die Haustür flog mit einem Knall ins Schloss. Lange blickte Sarah ihr nach, ihr Kopf fühlte sich leer und müde an. Sie seufzte tief. Ach ja, das waren noch schöne Zeiten gewesen, als Tante Harriet sich um alles gekümmert, ihnen die Mutter ersetzt hatte! Wenn wenigstens Charlotte nicht ständig motzen und dann abhauen würde, wenn sie keine Lust hatte, sich um etwas zu kümmern! Aber nein, Charlotte konnte es sich ja erlauben, Charlotte durfte alles, was sie wollte!

„Ich dachte, du wolltest noch mit der Stute ausreiten?“ Sarah zuckte erschrocken zusammen. Es war Stacy. Sie hatte ihn nicht kommen bemerkt. Er stand in der jetzt wieder offenen Haustür und klopfte seinen hellbraunen, verstaubten Hut an den ledernen Überziehhosen ab. „Onkel Jon will auch mit.“

„Oh, Stace!“ Entrüstet legte Sarah ihre Näharbeit beiseite und schob ihren Bruder zurück, über die Türschwelle, auf die überdachte Veranda. „Ich habe erst heute Morgen frisch den Boden gewischt und jetzt liegt wieder alles voller Dreck und Sand!“

Entschuldigend verzog ihr Bruder sein hübsches Gesicht. „Das mit dem Sand lässt sich so schlecht vermeiden! Er klebt nunmal überall!“

„Das sagt Pa auch immer und ich habe dann die Arbeit damit!“

Stacy seufzte. „Ich finde, du hast für heute genug geschuftet. Du hast jetzt schon zwei Tage nicht mehr reiten können, weil ständig irgendetwas wichtiger gewesen ist!“

Sarah zögerte einen Moment. Sie ging in Gedanken all die Dinge durch, die im Haus noch auf Erledigung warteten. Wenn sie ehrlich gegenüber sich selbst war, konnte sie es sich gar nicht erlauben, auch nur eine Minute an ihr Pferd zu verschwenden.

„Na, komm schon! Vater ist rüber zu Charlie Hickman und du weißt ja – das kann dauern, wenn die beiden zusammenhocken! Und Byron muss schon wieder irgendwas brennend Wichtiges in der Stadt erledigen!“ Stacy gab ihr einen Knuff gegen die Schulter. „Onkel Jon wartet!“

„Na, schön, von mir aus!“ Sie gab nach. Ihr Bruder beobachtete, wie Sarah zur Garderobe rannte, ihren Stetson vom Haken riss und ihm dann hinterher lief als er herumwirbelte und ihr voraus in den Innenhof und von dort zum Pferdestall rannte.

Durch die nur angelehnte Tür ihres kleinen Schlafzimmers am Ende des Flurs konnte Sarah hören, wie Byron und Stacy sich im Erdgeschoß wieder einmal zofften. Es war beinahe wie bei ihr und Charlotte – auch ihre Brüder schienen nicht recht etwas mit dem anderen anfangen zu können, jedenfalls nicht mehr, seitdem sie erwachsen geworden waren. Früher war ihr das nie so sehr ins Bewusstsein gedrungen, aber in den letzten Monaten erschien es ihr beinahe unerträglich, dass die beiden sich ständig stritten. Sarah drehte sich auf dem Bett herum und zog den großen, schweren Bildband vom Nachttisch, den sie sich am Vortag in der Stadt gekauft hatte. Er zeigte Pferde aus aller Welt und sie genoss den Anblick der fremdartigen Kulturen und all der Rassen, von denen sie nie zuvor gehört hatte.

Die Stimmen wurden lauter. Es war Samstagabend und die beiden wollten vermutlich nach Quincy zum Tanzen fahren, wie jeden Samstagabend. Es schien das wichtigste Ereignis der ganzen Woche in der Stadt zu sein, denn dann füllten sich die Kneipen und Saloons mit jungen Leuten, den Heiratswilligen und auch denen, die nur ein wenig Abwechslung zum harten, rauen Alltag suchten.

Sarah richtete sich auf. Sie lauschte auf die Worte ihrer Brüder im unteren Stockwerk und auf einmal mischte sich auch ihr Vater ein, der die beiden zurechtwies, sich jetzt endlich zusammenzureißen und die Klappe zu halten, insbesondere Stacy. Nicht Byron, der gab ihm niemals Anlass zur Sorge. Byron besaß einen umsichtigen, ruhigen Charakter, der sich nicht leicht provozieren ließ und vernünftig genug war, mit dem Alkohol aufzuhören, bevor er sich seines Namens nicht mehr erinnerte. Stacy hingegen vergaß bisweilen nicht nur seine Manieren, sondern auch sein Selbstbewusstsein überstieg einige Grenzen, die er besser eingehalten hätte. Obwohl weder sein Vater herausragend gutaussehend, noch seine Mutter außergewöhnlich schön gewesen war, besaßen seine Gesichtszüge eine solche Vollkommenheit, dass es selbst seine eigene Familie immer wieder erstaunte. Sein braungebranntes Gesicht zu den hellblonden, kurzen Haaren wirkte bisweilen so unglaublich makellos wie das einer Puppe, wie eine Erscheinung im Traum. Er schien die Verkörperung des Märchenprinzen zu sein, der das Mädchen, das er liebte, vor dem bösen Drachen rettete. Die Nase war gerade, an der Spitze leicht gen Himmel zeigend und seine großen, hellblauen Augen besaßen eine faszinierende Eindringlichkeit. Wenn er lächelte und seine weißen, geraden Zähne zeigte, lagen ihm die Mädchen in Quincy haufenweise zu Füßen und dessen war er sich durchaus in vollem Ausmaß bewusst. Stacy genoss die Bewunderung des weiblichen Geschlechts und er kannte seine Wirkung auf sämtliche Mädchen der Umgebung, wenn er seinen Charme hinter der bisweilen unnahbaren, schwer zu fassenden Fassade zum Vorschein kommen ließ. Die meisten drangen eh nicht bis unter seine Oberfläche durch. Sie waren bereits von seinem Äußeren so geblendet, dass er gar keine große Mühe mehr aufbringen musste.

„Und wehe, ich höre wieder irgendwelche Beschwerden!“, sagte Harold mit strenger Miene und richtete seine mächtige Gestalt auf. Sein jüngerer Sohn verzog das Gesicht. Er wirkte genervt und gab sich nicht erst die Mühe, dies vor seinem Vater zu verheimlichen.

„Es wird doch wohl noch erlaubt sein, dass ich einmal die Woche ein bisschen Spaß habe! Einmal in sieben Tagen!“ Sein Gesicht zeigte keine Veränderung, bis auf die Wangenknochen, die hervortraten, weil er die Zähne fest aufeinanderbiss. Das tat er jedesmal, wenn er sich kaum noch zusammenreißen konnte. „Ich arbeite schließlich hart genug hier auf der Ranch!“

„Deshalb musst du dich trotzdem nicht benehmen, wie der hinterletzte Dorftrottel“, warf sein älterer Bruder ruhig ein und bedachte ihn mit einem herablassenden Blick. „Oder denkst du, es ist für mich besonders angenehm, wenn ich ständig irgendwelche Geschichten zu hören kriege, wie du dich wieder mal aufgeführt hast?!“

„Dann hör’ halt einfach nicht hin!“ Stacy baute sich vor ihm auf, warf den Kopf zurück. Zwei braune Augen fixierten ihn gelassen und beinahe abfällig.

„Wenn du dich heute wieder aufführst und irgendwelche Schlägereien oder sonst was anfängst“, Harolds Stimme klang beinahe drohend, „dann werde ich alles in die Wege leiten, damit du zukünftig deinen Lebensunterhalt woanders als hier auf der Ranch verdingen kannst!“

Die Worte wirkten wie ein Hammerschlag. Schweigend starrte Stacy seinen Vater an. Ja, er wusste, dass sein Vater eigentlich damit gerechnet hatte, dass sein jüngerer Sohn irgendwann die Ranch verlassen und sich woanders etwas Eigenes aufbauen würde. Aber er war noch immer hier, auch mit sechsundzwanzig und hoffte darauf, dass sich sein Traum erfüllen würde und er eines Tages doch die Ranch seiner Vorfahren erben würde. Was genau ihn, trotz aller Ausweglosigkeit, an diesem Wunsch festhalten ließ, konnte er nicht sagen. Er wusste nur, dass er niemals bereit sein würde, dieses Land hinter sich zu lassen, ohne zumindest dafür gekämpft zu haben.

„Komm jetzt.“ Byron boxte ihm den Ellenbogen in die Seite und riss ihn damit aus den Überlegungen. „Wir sind schon spät dran und wir wollen deine ganzen Verehrerinnen doch nicht warten lassen!“

„Sehr witzig“, brachte Stacy zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Er hielt dem mahnenden Blick seines Vaters stand, bis er zur Haustür hinaus war. Dann atmete er mehrere male tief durch, um sich zu beruhigen und die Stufen in den Innenhof hinabzuspurten, wo bereits der alte Ford Pickup parkte.

Sarah hörte, wie der Motor ansprang. Ein paar Fehlzündungen hallten durch die Nacht und plötzlich fand sie es ungerecht, dass sie immer alleine zurückblieb, während der Rest ihrer Geschwister sich in irgendwelchen Bars und Kneipen vergnügte. Aber es half ja nichts, es lud sie ja nie ein Mann ein und alleine fortgehen war nichts für sie, da fühlte sie sich viel zu unsicher dafür. Sarah seufzte tief und blätterte eine weitere Seite ihres Buches um.

Charlotte, ja, die wurde an manchen Abenden gleich von zwei, drei jungen Männern abgeholt, aber sie? Ein tiefer Schmerz bohrte sich in Sarahs Herz. Sie war nicht unbedingt hässlich, eben gewöhnlich, nicht hübscher als die meisten anderen Mädchen und genau das war vermutlich das Problem. Dazu noch ihre Schüchternheit und Zurückhaltung – das kam bei den jungen Männern nicht an. So hatte erst zweimal einer sie darum gebeten, mit ihr ins Kino zu gehen – und das mit neunzehn Jahren, die sie nun alt war! Das war nun wirklich mehr als peinlich! Sarah vergrub ihr Gesicht in den Kissen. Sie hatte so viele Träume und Ideen für ihr Leben gehabt und auf merkwürdige Weise schienen alle bereits in unerreichbare Ferne gerückt zu sein. Designerin hatte ihr als Berufsziel vorgeschwebt oder Model – den Laufsteg entlang schreiten, mit schlanken, langen Beinen und einem zarten Gesicht – alles Eigenschaften, die sie nicht besaß. Sie war klein und kräftig und ihr Gesicht beinahe so rund wie der Vollmond.

Der kühle Nachtwind trug das leise, entfernte Heulen eines Kojoten an ihr Ohr. Sie wusste, dass er in dem schmalen Tal, das der Fluss am südlichen Ende kreuzte, nach einem Weibchen schrie. Diese für fremde Ohren scheußlichen, schaurigen Töne aus dem Rachen eines in der Gegend beinahe ausgerotteten Raubtieres. Als ihr Urgroßvater, Hiram McCullough, die Ranch vor mehr als hundert Jahren an dieser Stelle gegründet hatte, war das Tal voll gewesen mit Kojoten. Darum hatte er ihm den Namen „Coyote Canyon“ gegeben und seine Ranch danach benannt. Ihr Brandzeichen, das alle Tiere auf die Hinterflanke gebrannt bekamen, zeigte ein umgedrehtes C neben einem korrekten, am Bogen sich überschneidend. Jeder konnte anhand dieses Symbols identifizieren, woher ein Kalb oder ein Pferd stammte. Es hing auch aus Holz über dem Eingang zur großen, alten Scheune und auf dem Torbogen, der am Ende der Hofeinfahrt den Weg überspannte.

Wieder heulte der Kojote mehrere male hintereinander, doch Sarah fand, es hörte sich schön, durchdringend, herzergreifend an. Es war der Gesang ihrer Heimat, dieser Ranch und dieses Landes, das ihr so unbeschreiblich viel bedeutete. Wenn jemand sie fragte, woher sie stammte, gab sie immer dieselbe, stolze und leidenschaftliche Antwort: „Meinem Vater gehört die Coyote Canyon Ranch in der Nähe von Quincy!“

Der Name war weit über die Grenzen der Stadt hinaus ein Begriff, nicht nur wegen ihrer Rinder, vor allem aufgrund der hervorragenden Pferdezucht. Harold McCullough hatte sich vor vier Jahren zwei ungewöhnliche Stuten geleistet, als er einen entfernten Verwandten in Kentucky besucht hatte: American Saddlebred Horses. Es seien die schönsten Pferde, die er je gesehen habe, so Harold zu seiner Begründung, als er mit den beiden Tieren auf der Ranch angekommen war. Es störte ihn auch nicht im Mindesten, dass sie nur bedingt oder gar nicht für die Rancharbeit geeignet waren mit ihren langen Beinen, den wohlproportionierten, edlen Körpern und den wachen, feinen Köpfen. Sie besaßen nicht die Geduld, einer Rinderherde über viele Stunden zu folgen. Sie wollten laufen, ihre Schönheit und Ausdauer unter Beweis stellen. Plantagenpferde, als was sie ursprünglich gezüchtet worden waren, weil die Rasse in den Südstaaten ins Leben gerufen worden war, um die reichen Baumwollpflanzer noch zu Zeiten der Sklaverei elegant und mit viel Aufsehen von einem Ort zum anderen zu tragen. Im Laufe der Jahrzehnte waren ein Zuchtbuch gegründet worden und das Stammbuch der besten Hengste streng reglimentiert, um die Charaktereigenschaften und den Körperbau dieser Pferde immer weiter zu verbessern und zu verfeinern und an der Optik eines American Saddlebred Horses blieben die meisten anderen außer Konkurrenz.

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9783754170106
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