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Lernen von den Malerkollegen und Freunden in Halle (Saale)

Entscheidend für Sitte war aber in diesen frühen Jahren der Einfluss der älteren und jüngeren Maler in Halle (Saale). Auf die Frage, wo er das Malen gelernt habe, antwortete er ohne zu zögern: „Vor allen Dingen von meinen Kollegen Zeitgenossen in Halle und um Halle herum.“32 An anderer Stelle wird er konkreter: „Meine Lehrmeister und Freunde damals, die mich das Malen lehrten, waren Hermann Bachmann, Fritz Rübbert und Kurt Bunge.“33 Tatsächlich griff er ziemlich unvermittelt ab 1949 die Bildsprachen seiner jungen und älteren Malerkollegen in Halle (Saale) auf. Neben dem fast gleichaltrigen Hermann Bachmann (1922–1995), der ein vertrauter Freund wurde, den er später auf seinen Westreisen immer wieder besuchte, spielten Kurt Bunge (1911–1998) und Fritz Rübbert (1915–1975)34 sowie Ulrich Knispel (1911–1978), Jochen Seidel (1924–1971) und der sieben Jahre jüngere Herbert Kitzel (1928–1978) eine wichtige Rolle. Dazu kamen die in der NS-Zeit entlassenen und wieder eingestellten Lehrer Erwin Hahs (1887–1970) und Charles Crodel (1894–1973).35 „Wie viele Nächte habe ich mit den Freunden Bachmann, Rübbert und Seidel durchgemalt! Von ihnen lernte ich eine Menge. Während ich der bessere Zeichner war, hatten sie mir auf dem Gebiet der Malerei viel voraus. Ich begriff, daß Malerei ein eigenständiges Medium ist mit eigener Qualität […].“36 Selbstkritisch räumt er ein: „Meinen eigenen Stil habe ich natürlich erst nach und nach gefunden.“37

In den Katalogen Verfemte Formalisten. Kunst aus Halle (Saale)38 und Im Spannungsfeld der Moderne. Zehn Maler aus Halle39 werden die verblüffenden Parallelen zwischen den Themen und der Bildsprache der genannten Maler zu Sittes Bildern in diesem Zeitraum deutlich, 2021 parallel zur Sitte-Retrospektive im Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale) zu erleben in der Ausstellung und dem Katalog Grenzerfahrungen. Hommage zum Hundertsten in der Kunsthalle “Talstrasse“ in Halle (Saale). Sittes von Paul Klee (1879–1940) und Yves Tanguy (1900–1955) beeinflusste Strandspielerei und Formen auf fünf Ebenen (beide 1949, S. 228, 227) finden ein Echo in Ulrich Knispels Strand (1950, 4). Sehr eindrucksvoll werden diese Bezüge aber auch sichtbar im Vergleich von Hermann Bachmanns Gemälde Krankes Mädchen (1949) mit Willi Sittes Danaë II (1953, S. 255) oder Bachmanns Reste (1954) mit Sittes Unter Trümmern (1955). Ebenso einleuchtend ist ein Vergleich von Herbert Kitzels Artisten (1951, 5) mit Sittes Artistentreffen (1955, 6)

4 Ulrich Knispel: Strand, 1950, Öl auf Sperrholz, 63 × 120 cm, Walburga Knispel, Berlin

Übereinstimmend sind in den Gemälden der locker verbundenen Künstlergruppierung die stark reduzierte Farbigkeit und die düstere, aggressive Stimmung. Mit dem Bild Mörder von Koje S. 269 reagierte Sitte auf die Erschießung nordkoreanischer Gefangener durch die amerikanische Armee.40 Sittes an Seilen hängende Marionetten Die Fremden (1951, S. 245) und Herbert Kitzels Marionette (1954) geben die bedrückende Stimmung der 1950er Jahre wieder. Die Harpyien, die Sittes Werk um 1955/56 bevölkern, können „als Reflex auf Anfeindungen und Formalismus-Schnüffelei“ gelesen werden, „[d]enn dieser mythische Sturmdämon aus weiblichem Oberteil und dem Unterteil eines Vogels samt Krallen ist ein Wesen aus der Unterwelt, das die Seelen der Menschen im Fluge rafft oder Speisen besudelt, ein Symbol der Peinigung und des Bösen. Harpyien als abscheuliche, von Zeus ausgeschickte strafende ‚Jagdhunde‘, maßen sich an, gottgleich zu richten, so in Sittes Bildern Das jüngste Gericht der Harpyien und Besuch der Harpyien, 1955.“41

Zwischen Parteistrafen und politischen Demonstrationsbildern

In seiner Autobiografie klagt Sitte, er sei damals ständigen Kontroversen ausgesetzt gewesen, „die meine Freunde nicht erleben mußten. Sie durften sich als Bürgerliche einiges leisten, ihnen konnte man das nicht verdenken. Wenn ich aber gedanklich und geistig mit ihnen mitzog, wurde mir das verübelt. Ich wurde bestraft, während man die anderen eher streichelte.“42

Es waren aber diese Maler und Freunde, die den Ruf der Saalestadt als vitalen Zentrums moderner Kunst in der DDR Anfang der 1950er Jahre begründet hatten, die zwischen 1948 und 1959 keinen anderen Ausweg für sich sahen, als die Stadt in Richtung Westen zu verlassen, die meisten von ihnen im Jahr 1953, während Sitte auf dem Höhepunkt der Anti-Formalismus-Kampagne 1951 bereits als Parteisekretär und 1952 als angestellte Lehrkraft fest an der heutigen Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle installiert war.43 Davor hatte Sitte 1950 einen Lehrauftrag an der Burg bekommen und war Ulrich Knispel als Leiter der Grundlehre unterstellt worden. „Die Ausbildung an dieser Schule ging auf das Bauhaus zurück, und es gab noch gewisse Kontinuitäten, die gepflegt wurden […]. Für mich wurde die Bibliothek mit den Beständen aus der Bauhauszeit sehr wichtig. Ich habe alle Bauhausbücher gelesen und sie wie ein Schwamm in mich aufgesogen und immer versucht, das Gelesene sofort in meiner eigenen künstlerischen Arbeit umzusetzen.“44

Nach dem Eklat um ein paar Skizzen von Strandgut in Ahrenshoop während einer Studienfahrt der Klasse Ulrich Knispels im Mai 195145 übernahm Sitte die Grundlehre von Knispel, der entlassen wurde und nach West-Berlin ging. „Das ging jedoch nur kurze Zeit gut, denn ich führte das, was Knispel gemacht hat, fort.“46 Eine Abordnung der Staatlichen Kunstkommission kam aus Berlin und überprüfte den Unterricht. „Wir probierten gerade verschiedene Methoden und Materialien aus, die geeignet sind, um Oberflächenstrukturen wiederzugeben und beschäftigten uns mit Dingen wie einer abgenutzten Bürste, einem Fußabtreter, einer toten Ratte oder Haaren. […] Wie Knispel wurde auch mir Formalismus vorgeworfen, und ich wurde vom Unterricht suspendiert“, allerdings nicht entlassen. Sitte blieb „ein Angestellter ohne Portefeuille.“47

5 Herbert Kitzel: Artisten, 1951, Öl auf Pappe, 49 × 92 cm, Privatbesitz Erfurt

Als Autodidakt ohne abgeschlossenes Studium in der auf förmliche akademische Abschlüsse und Studiengänge fixierten DDR hatte sich Sitte in eine zusätzliche Abhängigkeit von den Hochschul- und Parteigremien begeben. „Ich wurde Professor, aber es geriet in Vergessenheit, dass ich eigentlich keine Unterlagen beibringen konnte, etwa ein Studium absolviert zu haben, das hatte ich ja nicht.“48 Auch wenn er wegen seiner antifaschistischen Verdienste als Partisan möglicherweise fehlende Diplome kompensieren konnte, gab sein Status als Autodidakt unter Funktionären und Kollegen Anlass, ihm bei jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit vorzuwerfen, er habe gar keine abgeschlossene akademische Ausbildung und könne nicht einmal richtig zeichnen.49 Ständig musste er sich von Verbandsdelegationen aus der Hauptstadt sagen lassen, dass er „erst mal richtig zeichnen lernen sollte, eh ich diesen Quatsch nach Picasso und den sogenannten Modernismen mache.“50

Sitte berichtet von vier oder fünf Parteistrafen, „meistens erhielt ich die strenge Rüge“51, aber keinen Parteiausschluss. Trotz seiner formalistischen Bilder, die er oft nicht signierte und vor den 1960er Jahren nicht in der Öffentlichkeit zeigte, blieb er in Amt und Würden. Als Schutzbehauptung sprach er immer von seinen künstlerischen Experimenten, die er ja nur betreibe, um endlich zu seinem eigenen Stil zu finden, der ihm dann ermöglichen solle, das würdige Bild der Arbeiterklasse zu schaffen. „Ich signierte meine Arbeiten damals nicht, da sie dem, was mir vorschwebte, noch nicht entsprachen. Es sollte alles viel dramatischer und expressiver sein.“52

6 Willi Sitte: Artistentreffen, 1955, Öl auf Karton, 54 × 51 cm, zuletzt 2009 Galerie Schwind, Leipzig

Auf den Bezirkskunstausstellungen zeigte er ausschließlich und demonstrativ seine politischen Bekenntnisbilder im Stil der Genremalerei des 19. Jahrhunderts, wie z. B. das später übermalte Genrebild Marx liest vor (1953/54, S. 266), für das er im Marx-Jahr 1953 den Kunstpreis der Stadt Halle (Saale) bekam.53 Es zeigt Marx frontal im Zentrum mit aufgeschlagenem Buch, während sich um ihn herum Friedrich Engels und dessen Frau sowie Jenny Marx zum bürgerlichen Familienbild gruppieren. Von seinem Gemälde Karl Liebknecht kommt aus dem Gefängnis 1918 (1952, S. 257), das den Arbeiterführer umringt von seinen Anhängern zeigt, behauptete er später, er habe es vernichtet.54 Es ist jedoch seit 1953 Teil der Sammlungen des Kunstmuseums Moritzburg Halle (Saale).

Auch mit dem Auftrag, den Kalender 1951. Fortschrittliche Kräfte im Kampf für die Einheit Deutschlands zu illustrieren, wollte er Punkte bei der Partei sammeln. Er verwandte neben historischen Dokumenten55 auch eigene Arbeiten, wie eine 1948 entstandene weiß gehöhte Tuschzeichnung, die er jetzt in Farbe umsetzte. Eine Variante zum Öl-Porträt von Marx ist das Bild Marx am Schreibtisch 7 arbeitend inmitten von Büchern mit Lesezeichen. Das vorletzte und letzte Kalenderblatt zeigen die Befreiung Deutschlands durch die Rotarmisten, die die rote Fahne auf dem Reichstag hissen, und Pieck und Grotewohl als Führer der deutschen Arbeiterschaft und Kämpfer für Einheit und Frieden. Sitte legt die farbigen Kalenderbilder leicht abstrahierend flächig wie ein Plakat oder Wandbild an, reduziert also die detaillierte Ausarbeitung der Gesichter. Auf dem Höhepunkt der Kampagne gegen den Formalismus wurde deshalb, trotz der politisch korrekten Inhalte, die gesamte Auflage des Kalenders, der gedruckt zur Auslieferung bereitstand, eingestampft.56

7 Willi Sitte: Marx am Schreibtisch, Kalenderblatt für den Monat März im Kalender 1951. Fortschrittliche Kräfte im Kampf für die Einheit Deutschlands, Buchdruck, Nachlass Willi Sitte

Bekenntnis zum italienischen Realismo – Reise nach Italien

Im gleichen Jahr 1951 fand anlässlich der III. Weltfestspiele der Jugend und Studenten für den Frieden eine von der Deutschen Akademie der Künste am Robert-Koch-Platz ausgerichtete Internationale Kunstausstellung statt. Unter einer Masse belangloser Werke sozialistisch-realistischer Provenienz aus 38 Ländern hingen dort Gemälde von Renato Guttuso (1911–1987), Giuseppe Zigaina (1924–2015), Armando Pizzinato (1910–2004) und Gabriele Mucchi (1899–2001). Die Malerei des italienischen Realismo war dort die einzige moderne und zugleich politische Kunstrichtung.

Vor dem Hintergrund der „Schönfärberei“ der sowjetischen Kunst, einer Malerei in „altakademischer und naturalistischer Manier“57 mit ihren „durch Ideologie überfrachteten Wunschvorstellungen“, welche „die bestehende Realität mit all ihren Widersprüchen“ aus dem Bild ausschloss und zugleich jeden individuellen Gestaltungswillen unterdrückte, überraschte den jungen Ost-Berliner Kunststudenten Ronald Paris (* 1933) an den Bildern der Italiener „eine neue leuchtende Farbkraft, eine unmittelbare Nähe aus dem wirklichen Erleben“. Vor allem in den Werken von Gabriele Mucchi fand er den überzeugenden künstlerischen Ausdruck innerer Wahrhaftigkeit.58

Ronald Paris erinnert sich vor allem an Das Bombardement von Gorla (auch Die Mütter von Gorla genannt) von Mucchi aus dem Jahr 1951, das in Ost-Berlin zu sehen war 8. Es thematisiert einen englisch-amerikanischen Luftangriff am 20. September 1944 auf eine Schule am Stadtrand von Mailand, bei dem 206 Kinder getötet wurden. Mucchi war damals Augenzeuge und half, Verwundete in das nächstgelegene Krankenhaus zu bringen. Das Gemälde zeigt eine Gruppe von Müttern, die ihre Kinder unter den Trümmern suchen.59 Im Sinne von Mucchis Definition eines realistischen Gemäldes als eines „Urteil[s] über die Wirklichkeit, die es darstellt“, das immer dialektisch sei,60 gibt das Gemälde einen tragischen Moment im antifaschistischen Kampf wieder. In den Amerikanern und Engländern sahen die Widerstandskämpfer, die Mucchi zusammen mit seiner Frau, der Bildhauerin Jenny Wiegmann-Mucchi (1895–1969), aktiv unterstützte, einerseits „Vorkämpfer für Freiheit und Demokratie“, ihnen „galten alle unsere Sympathien […] wir billigten sogar ihre Bombenangriffe […] sie waren die […] gerechten Ritter der Apokalypse, die Rächer, die ‚Befreier‘. Andererseits war ihr Kriegsakt in Gorla ebenso unmenschlich wie die Taten der verhaßten Unterdrücker, es war ein grauenvoller, reiner Terrorakt ohne strategischen Nutzen und also nicht zu rechtfertigen.“61

8 Gabriele Mucchi: Das Bombardement von Gorla IV (auch: Die Mütter von Gorla), 1951, Tempera auf Leinwand, 120 × 180 cm, Galerie Poll, Berlin

In dieser aufrichtigen, rücksichtslosen Wahrhaftigkeit sah auch Sitte damals eine entschiedene Gegenposition zu der Verlogenheit des Sozialistischen Realismus, zu dem ihn die Partei erziehen wollte. Möglicherweise angeregt von Gabriele Mucchis Gemälde Der Dammbruch des Po (La rotta del Po) S. 189 von 1951 und von Nachrichten und Zeitungsberichten über diese Naturkatastrophe, die ihm seine italienischen Freunde nach Halle (Saale) schickten, malte Sitte sein Gemälde Hochwasserkatastrophe am Po (2. Fassung, 1953/54, S. 263).62 Die Beschäftigung mit dem Thema weckte bei Sitte Erinnerungen an seine Zeit in Norditalien. Vorbereitet wird das Thema 1952 durch zahlreiche gemalte Studien einzelner Figuren, die unendliche Trauer, Fassungslosigkeit und Erschrecken zum Ausdruck bringen (z. B. Junge mit Krug; Die Verwundete; Auf der Leiter).63 Im Vergleich zu dem Gemälde Mucchis stilisiert Sitte die Figuren sehr viel stärker und baut ihnen eine Bühne für ihre der Not gehorchenden exzentrischen Bewegungen und dramatischen Gesten.

Auf Einladung seiner Freunde und Kameraden aus der Partisanenbewegung besuchte Sitte als Delegierter des Kommunistischen Jugendverbands Italiens, an dessen Kongress er teilnahm, 1955 Venedig und Mailand. Während der Reise pflegte er seine Kontakte mit Angehörigen der Realismo-Bewegung.

In einem Artikel in der Zeitung Freiheit zog er ein Resümee seiner Reise: „Alle Register bildkünstlerischen Gestaltens im Kampf um eine neue Kunst sind gezogen […]. In fairer Auseinandersetzung wird um neue theoretische Erkenntnisse gestritten, wird um das Bild der Zukunft gerungen […]. Gemeinsam gehen sie mit den Theoretikern an die Klärung künstlerischer Probleme […] frei, mutig und gewagt werden Gegenwartsthemen künstlerisch von ihnen gestaltet.“64 Mit diesen Worten appellierte Sitte offensichtlich vor allem an die eigenen Genossen in Halle (Saale).

1957 veröffentlichte er in Heft 1 der Bildenden Kunst, der Zeitschrift des VBKD, seine Gedanken nach einer Italienreise, die mit einer Federzeichnung von Gabriele Mucchi illustriert sind. Er beschwört die Atmosphäre des Experiments, lobt den „heißen und beneidenswerten Meinungsstreit“ in der Zeitschrift Il realismo, die er sich nach Halle (Saale) schicken lässt, und hofft, dass auch die Künstler in der DDR „den Mut zu bildkünstlerischen Experimenten wiederfinden“ werden.65 Die Zeitschrift Il realismo, die ein Doppelheft über Picasso publizierte, hatte Herbert Sandberg (1908–1991) dazu angeregt, in der Bildenden Kunst zwischen September 1955 und Juli 1956 eine kontroverse Picasso-Diskussion zu führen. Der Name Picasso wurde in der DDR zum trojanischen Pferd für die Frage, wie weit eine sozialistische Kunst sich experimenteller Methoden und Formen der Moderne bedienen dürfe.

Sitte bekannte, dass seine akademische Zeichenroutine ihn lange daran gehindert habe, eigene Emotionen in seine Malerei zu übersetzen. Vom italienischen Realismo und vor allem von Gabriele Mucchi, der in Ost-Berlin bis 1962 lehrte, konnte er lernen, „starke Empfindungen und dramatische Situationen ausdrucksvoll darzustellen […]. Wir sind nicht kalte Chronisten einer gleichgültigen Geschichte.“66

Mit hoher Wahrscheinlichkeit ermutigte Sitte die Begegnung mit der Wahrhaftigkeit und bedingungslosen Aufrichtigkeit der italienischen Maler der Realismo-Bewegung mit ihrem politischen Engagement jenseits von Dogmatismus dazu, sein eigenes künstlerisches Vokabular für die Auseinandersetzung mit dem Massaker in Lidice ab 195667 und mit seinen persönlichen Erfahrungen an der Ostfront im Zweiten Weltkrieg zu entwickeln, die ihren Niederschlag in den beiden Stalingrad-Bildern gefunden haben.68 Sein Diptychon mit Predella Memento Stalingrad (1961, S. 359) nahm Fritz Cremer (1906–1993) in seine Ausstellung Junge Künstler – Malerei auf, die am 15. September 1961 – einen Monat nach dem Mauerbau – in der Deutschen Akademie der Künste eröffnet wurde. Cremer sah offensichtlich in dem schon Vierzigjährigen nach den Angriffen auf die Lidice-Bilder immer noch ein Nachwuchstalent, das seinen Weg in die Öffentlichkeit finden sollte. Er zeigte ihn zusammen mit Autodidakten wie Ralf Winkler (alias A. R. Penck, 1939–2017), Peter Graf (* 1937) und Peter Hermann (* 1937) aus Dresden, während Alfred Kurella (1895–1975) dafür gesorgt hatte, dass die jungen Leipziger Künstler nicht teilnehmen durften.

Cremer war als Ständiger Sekretär der Sektion Bildende Kunst der Akademie der Überzeugung, dass die DDR gerade die „sogenannten schwierigeren jungen Künstler“ brauche und „nicht die Musterknaben, die Langweiligen, Wohlgefälligen“.69 Deshalb verschaffte er ihnen gegen massiven Widerstand einen ersten öffentlichen Auftritt. Die Eröffnung löste einen Sturm der Empörung und Kritik mit fingierten Protestbriefen von Werktätigen und einer Pressekampagne aus. Infolge der Ereignisse traten Cremer als Sekretär und im Februar 1962 Otto Nagel als Akademiepräsident zurück.70 Auch die Nichtverlängerung der Professur Mucchis an der Kunsthochschule Weißensee im gleichen Jahr steht im Zusammenhang mit dieser Rollback-Politik nach dem Mauerbau. Im Gegensatz zur ersten Fassung des Themas, Memento Stalingrad von 1961, machte Sitte bei den Überlebenden (1963, S. 363)71 keinen Unterschied mehr zwischen dem General als Kriegsverbrecher und den einfachen Soldaten. Im Tod sind sie alle gleich. Hier wird erstmals seit den späten 1940er Jahren wieder sichtbar, dass die „Sieger der Geschichte“ auch die mitschuldig gewordenen Verlierer waren.

Utopie und Zweifel

Von der Schwarz-Weiß-Zeichnung herkommend, hatte Sitte sich um 1960 bereits einen eigenen sachlich-konstruktiven Stil und eine breite malerische Palette erarbeitet. Seine Bilder zeugen von den „Mühen der Ebenen“, aber mehr noch vom Glauben und der Hoffnung auf das Gelingen des Sozialismus. Seine künstlerische Sprache zeichnet sich aus durch nüchterne Dynamik und verhaltenen Optimismus.72 Seine Akte sind voller Innigkeit, aber auch voller Lebensfreude, der Alltag wird humorvoll und gelassen geschildert mit modischen Accessoires bis zum Petticoat, den liebevoll ausgearbeiteten Rockfalten (z. B. Frauen auf der Straße (Passantinnen), 1961)73 und einem Grammophongerät am Ostseestrand, bedient von kraftvollen, nackten Frauen (Akte mit Plattenspieler, 1962). Solange Sittes Glaube an die Zukunft des Sozialismus seiner Kunst die entsprechende Spannung und Dynamik verlieh, war sie in sich stimmig und begründete im besten Sinne einen neuen Sozialistischen Realismus à la DDR, also eine Kunst, in der die Gesellschaft sich selbst erkennen und sich wiederfinden konnte auf dem Weg zum gar nicht fernen Ziel des Kommunismus, den Nikita Chruschtschow (1894–1971) in seiner Rede auf dem XXII. Parteitag der KPdSU 1961 zum letzten Mal für das Jahr 1980 versprochen hatte. Das Neue Deutschland zitierte am 20. Oktober 1961 diese Parteitagsrede mit konkreter Terminansage auf seiner Titelseite: „Zuerst würde es die Grundnahrungsmittel umsonst geben, dann würde man Miete und Strompreise und schließlich das Geld überhaupt abschaffen. Jeder könnte sich dann im Laden aus der Überfülle des Angebots soviel mitnehmen, wie er brauchte. […] Der Unterschied zwischen körperlicher und geistiger Arbeit würde verschwinden. Die Arbeit sei dann nur noch Lebens- und Glückserfüllung.“74

Die Petrolchemie sollte dafür den Werktätigen als Vorgeschmack schon einmal die entsprechenden Konsumgüter liefern. Für die neue Schönheit des Alltags standen die aus dem schwarzen Öl produzierten Kleider und Nylonstrümpfe, das legendäre bügelfreie Hemd aus Kunstfaserprodukten, die Waren des täglichen Gebrauchs aus „Plaste und Elaste“75, das Plastespielzeug, Badezimmereinrichtungen, sogar Möbel.76 Die Petrolchemie gehörte neben dem Werkzeugmaschinenbau und der Optik zu den Bereichen der DDR-Ökonomie, von denen sich die Verantwortlichen vor allem Devisen aus dem Export in den Westen versprachen. Das sowjetische Erdöl aus der „Freundschaft“-Pipeline sollte mit den aus Erdöl generierten veredelten Produkten bezahlt werden. In der Petrolchemie sah man die neue Leitindustrie, sie stand für Fortschritt und Moderne. Mit der ersten großen petrolchemischen Anlage in der DDR, Leuna II, war der Glaube an die neue Chemieindustrie als zentralen Hebel zur Verwirklichung des Kommunismus verbunden, der in der Bildpropaganda von Willi Sittes Leuna 1969 (1968, S. 411)77 und dem Chemiearbeiter am Schaltpult (1968, S. 413) unmittelbar zum Ausdruck kommen sollte.

Walter Ulbricht (1893–1973) förderte jetzt statt Apparatschiks Technokraten und installierte im Januar 1963 Erich Apel (1917–1965)78 als Architekten der neuen dezentralisierten Wirtschaftsstruktur, in der die Betriebe auch Gewinne erzielen durften, und als Leiter der Staatlichen Plankommission. Apel konnte sich dank seiner sechsjährigen Tätigkeit als Raketenbauer in der Sowjetunion auf die unumgängliche Unterstützung Chruschtschows und der sowjetischen Führung stützen. Das im Juni 1963 vom Präsidium des Ministerrates eingeführte Neue Ökonomische System der Planung und Leitung (NÖSPL) sollte für größere Selbstständigkeit und Wettbewerbsfähigkeit sorgen nach dem Motto, so viel Plan wie möglich, so viel Markt, d. h. Gewinn wie notwendig. Mit der wieder geschaffenen Aussicht auf einen „Gewinn“ sollten die Betriebe zu Rationalisierungen, die Arbeiter zu höheren Leistungen motiviert werden. Die Verkürzung der Arbeitszeit, die Erhöhung des Grundurlaubs und die Einführung der Fünf-Tage-Woche mit dem langen Wochenende eröffneten neue Perspektiven für das durch den FDGB und die FDJ organisierte und gelenkte Freizeitverhalten der Werktätigen, wie es auf Sittes Polyptychon Unsere Jugend (1962, S. 401) zur Anschauung kommt.79 Um die Jugend für die wissenschaftlich-technische Revolution zu gewinnen, sollte zunächst einmal die Jugendarbeit aktiviert werden. An seinem Stellvertreter und Verantwortlichen für Jugendfragen, Erich Honecker (1912–1994), vorbei bildete Ulbricht daher eine nur ihm persönlich verantwortliche Jugendkommission beim Politbüro. Am 17. September 1963 verabschiedete das Politbüro das Kommuniqué Der Jugend Vertrauen und Verantwortung. „Die Zeitungen wurden lesbarer […] der Ton der Reden jugendfrisch, wie ein in dieser Zeit entstandenes Wort lautete, mancher alte Politiker zog sich wieder das Blauhemd an. Ulbricht posierte beim Volleyball am Netz: Jeder Mann an jedem Ort, einmal in der Woche Sport! […] Die FDJ stellte sich vor die Lyrik- und Singebewegung, […] die Poetenseminare folgten […]. Neue Fragen wurden gestellt […] auch mit Hilfe des neugeschaffenen Jugendsenders DT 64 […].“80

Auf dieser jugendbewegten Welle durchdringen sich Formen und Inhalte von Sittes Kunst dieser Zeit harmonisch, vergleichbar mit den Romanen von Christa Wolf (Der geteilte Himmel, 1963), Brigitte Reimann (Ankunft im Alltag, 1961, Franziska Linkerhand, 1974) und Erik Neutsch (Spur der Steine, 1964). Sitte gelang in den 1960er Jahren eine moderne sozialistische Kunst, die den akademischen Naturalismus sowjetischer Tradition der 1930er Jahre weit hinter sich gelassen hatte. Wie kein zweiter Künstler der DDR kam er dem nahe, was sich aufgeklärte Intellektuelle des Landes in der Nachfolge von Bertolt Brecht (1898–1956) erhofften, einer Kunst, die den Aufbau des Sozialismus ungeschönt und sachlich begleitete. Sein Stil erinnert nicht zufällig an den modernen Urbanismus der sowjetischen Künstlergruppe OST, der sogenannten Staffeleimaler (Stankovisten), allen voran Alexander Deineka (1899–1969)81 und Juri Pimenow (1903–1977), die während der Neuen Ökonomischen Politik (NÖP) in den 1920er Jahren, vergleichbar mit der Neuen Sachlichkeit in der Weimarer Republik, den Alltag und das Erscheinungsbild einer modernen Industriegesellschaft begleiteten.

Sitte gestaltet den sozialistischen Alltag auf dem Weg zum „Reich der Freiheit“ haptisch, sinnlich und sehr irdisch. Sein Paradies kennt keine Dogmatik und Esoterik, es ist ganz von dieser Welt. Seine Menschen bersten vor Lebenslust und Tatendrang. Sie bauen auf und sie lieben sich heftig und deftig. Sie genießen die Sauna nach der Arbeit. Sittes Panoramen menschlicher Leidenschaft frönen einem ungebremsten Vitalismus. Aber dieses Paradies ist ständig bedroht. Die Vertreibung aus dem Paradies, die Gefährdung der Utopie ist eine stets gegenwärtige Realität. Auf die Strandszene mit Sonnenfinsternis (1974/75, S. 467) fällt von oben ein orangefarbener Keil zwischen die sich genussvoll ergehenden Leiber und teilt das Gemälde durch den Blitz eines Deus ex machina.82 Der Mond hat sich vor die Leben spendende Sonne geschoben. Bedrohungen durch den Menschen, die Atombombe, den Krieg, den Kapitalismus und Imperialismus sind es, welche die lebensfrohe Idylle überschatten und in apokalyptischen Altären, wie Höllensturz in Vietnam (1966/67, S. 366 f), Son-My (1970)83, Jeder Mensch hat ein Recht auf Leben und Freiheit (1973)84 beschworen werden.

Parallel zu Sittes ab 1965 an Fahrt aufnehmender Karriere85 schwand jedoch sein Vertrauen auf den Erfolg des Staatsunternehmens DDR. Die Gründe waren politischer und ökonomischer Art: Der Widerstand der konservativen Parteifunktionäre in Politbüro und ZK gegen das von Ulbricht mit Hilfe pragmatischer Technokraten konzipierte Neue ökonomische System bekam Aufwind durch Chruschtschows Sturz Ende 1963 und die darauffolgende Ausrichtung der sowjetischen Politik auf den militärisch-industriellen Komplex im Donezbecken. Am 14. Oktober 1964 beschloss sein Nachfolger Leonid Breschnew (1906–1982) überraschend einen Politikwechsel, der statt Reformen einer militärischen Aufrüstung den Vorzug gab als Reaktion auf die expandierende militärische Intervention der USA in Vietnam. Damit veränderten sich schlagartig die bisherigen terms of trade für die DDR: Die Sowjetunion als Rohstofflieferantin verteuerte schrittweise bis in die 1980er Jahre die Erdölpreise, während die DDR ihre hochwertigen Fertigprodukte in Zukunft zu Dumpingpreisen zu liefern hatte. Für Sitte war das eine riesengroße Enttäuschung, wie er im Rückblick seiner Autobiografie erklärt: „Ein Großforschungszentrum war geplant, aus dem allerdings nie etwas geworden ist. Die Planungen gingen davon aus, die ganze Produktion von Braunkohle auf Öl umzustellen. Erdölleitungen wurden gelegt und entsprechende Umrüstungen vorgenommen. Mit modernsten Methoden und Mitteln sollte auf der Basis von Erdöl eine neue Produktionsphase eingeläutet werden. […] Die Einrichtungen wurden mit großem Kostenaufwand geschaffen, doch nie in Betrieb genommen, da die Sowjetunion ihre Zusagen zurücknahm und das Erdöl gegen Valuta in den Westen verkaufte. […] Für die DDR bedeutete das, mit hohen Kosten alle Anlagen wieder umzurüsten und mit der klassischen Braunkohle und der veralteten Technik weiterzumachen, von der enormen Belastung der Umwelt ganz zu schweigen. Meine Konzeption für ‚Leuna 1969‘ war von den Hoffnungen, die an die Umstellung auf Erdöl geknüpft waren, und der Vorstellung, daß wir die Zukunft voll im Griff hätten, beflügelt.“86

Sittes mit barockem Pathos gemaltes Triumphbild des endgültigen Sieges der in der DDR entfesselten sozialistischen Produktivkräfte über den Kapitalismus musste Utopie bleiben. Die Widersprüche der Wirtschaftsreformen blieben ihm nicht verborgen, der „oft in Leuna“ war, wo man ihm „die Pläne für das Großforschungszentrum gezeigt“ hat.87 In dieser Situation versuchte die SED von dem ökonomischen Rückschlag und dem Ende der Wirtschaftsreformen abzulenken durch eine Umfunktionierung des Wirtschaftsplenums im Dezember 1965 zu dem berüchtigten Kahlschlag-Plenum (15.–18. Dezember 1965), auf dem die Aufmerksamkeit der Bevölkerung auf die angebliche Verrohung der Jugend, auf unsozialistische Dichter, wie Wolf Biermann (* 1936), und angeblich gesellschaftlich negative Filme gelenkt wurde.88

Christa Wolf (1929–2011) erinnert sich an diese Versammlung: „Wir hatten ganz deutlich das Gefühl, daß die Kunst ‚diskussion‘ als Ersatz für die Auseinandersetzung mit den Problemen, die sich in der ökonomischen und gesellschaftlich-politischen Realität der DDR angehäuft hatten, dienen mußte, daß wir als Sündenböcke herhalten sollten.“89 Für sie markierte dieses Dezember-Plenum 1965 die entscheidende Zäsur in ihrem Verhältnis zur DDR. „Danach war nichts mehr zu beschönigen und keine Illusion mehr möglich.“90

Diese Konsequenz zog Willi Sitte, trotz seiner Enttäuschung über das Scheitern der Reformpolitik, gerade nicht. Er ließ sich auch nicht durch die auf das 11. Plenum folgenden Ereignisse, wie den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten 1968 in Prag und 1976 die Ausbürgerung Wolf Biermanns, mit dem Sitte bis 1965 befreundet war, in seiner Parteitreue beirren. In einem Artikel des Neuen Deutschland rechtfertigte er jetzt den Entzug von Biermanns Staatsbürgerschaft, wie ihn das NS-Regime gegen Künstler, Intellektuelle und Juden vollstreckt hatte.91 Sitte konnte oder wollte die Dimensionen einer „totalitären Diktatur“, welche die SED von der stalinistisch geprägten Sowjetunion übernommen hatte, nicht erkennen.92 Václav Havels (1936–2011) Analyse des totalitären Systems, Versuch, in der Wahrheit zu leben (1978), hatte, außer in Kreisen der politischen Dissidenz, in der DDR keine Breitenwirkung.93

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9783865024831
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