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Willi Sitte und das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg

Es blieb aber nicht beim sezierenden Blick auf Werke und Personalstile. Der Bilderstreit beleuchtete ebenso die persönlichen Haltungsmodelle und Lebensformen der Künstler – Umstände, die anderswo kaum an die Öffentlichkeit gelangen. Hier waren es vor allem die Haltung zur SED und die Frage nach einer möglichen Kollaboration mit dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS), die im Fokus des Interesses standen. In vielen DDR-Städten kursierten in den Kunstszenen privat erstellte Listen Inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit. Das dadurch nun sichtbare Maß von Denunziation führte anfangs zu eruptiven Täter-Opfer-Konstellationen, auch zu Fehlverdächtigungen, bis in den 2000er Jahren eine Vielzahl wissenschaftlicher Arbeiten entstand, die sich in abschließender Gründlichkeit, leider aber oft monokausal diesem Thema zuwandten.21 Einen angemessenen Weg beschritt dabei der hallesche Kunsthistoriker und Wegbegleiter Willi Sittes, Wolfgang Hütt (1925–2019), der in jahrelanger Hinwendung zum überlieferten Aktenmaterial des MfS die Verstrickungen von Kunst und Macht im Bezirk Halle (Saale) akribisch untersuchte.22 Die erhobenen Tatbestände wurden einerseits als Belege für eine erwiesene „Staatsnähe“ oder „Staatsferne“ der Künstler genommen, andererseits beeinflussten diese Diskussionen die künstlerische Wertschätzung und veränderte das Wissen um privates Geschehen den Blick auf die Bildwelten. Insofern verwundert es nicht, dass gerade Willi Sitte, dessen „konstitutive Widersprüchlichkeit“ als Maler und Funktionär auch zum Thema dieser Retrospektive beigetragen hat, zu einem exemplarischen Fall des Bilderstreites werden konnte.

Im Konflikt um eine seit Mitte der 1990er Jahre im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg vorbereitete, dann vom Museum verschobene und schließlich durch den Künstler abgesagte Ausstellung stand vor allem die Karriere des „Staatskünstlers“ Willi Sitte im Vordergrund. Wie bereits in der heftigen Debatte um die Einbeziehung von Bernhard Heisig in die künstlerische Gestaltung des Reichstagsgebäudes 1997/9823 ging es dabei um die Frage, wie das Agieren der Großkünstler in der DDR – insbesondere ihr enges Verhältnis zur SED sowie die aktive Übernahme politischer Ämter und Funktionen – hinsichtlich ihrer Akzeptanz im öffentlichen Kunstbetrieb des wiedervereinigten Deutschlands zu bewerten sei. In exemplarischer (und in einer für den gesamten deutsch-deutschen Bilderstreit wohl auch einzigartigen) Schärfe wurde dabei die Biografie Willi Sittes zum Gegenstand einer mitunter hitzig geführten Auseinandersetzung über die Verstrickung des Künstlers in die Machtstrukturen des untergegangenen Staats.24

Vordergründig ging es bei dem Streit um Willi Sitte um eine vom Oberkonservator Claus Pese (* 1947) im renommierten Deutschen Kunstarchiv des Germanischen Nationalmuseums vorbereitete Willi-Sitte-Ausstellung. Diese sollte in der Reihe „Werke und Dokumente“ gezeigt werden. Ihr Zustandekommen war Vertragsgegenstand bei der Überlassung des archivarischen Vorlasses des Künstlers, des Fonds Willi Sitte (der heute seinen schriftlichen Nachlass bildet), an das Archiv des Hauses gewesen und dem Künstler für das Jahr seines 80. Geburtstags, 2001, formlos zugesagt worden. Der Verwaltungsrat des Museums verschob jedoch das Projekt und mahnte zunächst eine Klärung der gegen Willi Sitte in verschiedenen Publikationen erhobenen Vorwürfe an. Angesichts dieser Entscheidung sagte der brüskierte Künstler eine Ausstellung mit seinen Werken endgültig ab. Im Juni 2001 fand schließlich die vom Verwaltungsrat angeregte Tagung zur Person des Künstlers und Funktionärs statt. Das Symposium selbst konnte in sachlicher Atmosphäre durch die Analyse des Einzelfalls sowie die Kontextualisierung der Handlungsspielräume des Künstlerfunktionärs zur Erhellung der Rolle von Willi Sitte beitragen.25 Im Anschluss sorgte 2003 die Tagung „Bilderstreit“ auf Schloss Neuhardenberg für eine erste Entschärfung des Konfliktes.26

9 Blick in das Gemäldedepot des Staatlichen Museums Meiningen mit Willi Sittes Landsauna (1986/87), 2010, Foto: Andreas Kämper

Der eingangs erwähnte Dresdner Bilderstreit 2017/18 kann gewissermaßen als das Satyrspiel in der langlebigen Tragödie des Umgangs mit der ostdeutschen Kunst verstanden werden. Hier wurde verdeutlicht, dass der seit der Wiedervereinigung schwelende Bilderstreit um die Akzeptanz jener Kunst aus dem Osten im wiedervereinigten Deutschland eben nicht nur Schmähungen und bittere Kränkungen erzeugt hatte; in seinem Prozess war es ebenso zu einer unter Schmerzen erlangten Diagnose gekommen, nämlich der, dass jene beiden oft als verfeindet und unvereinbar dargestellten deutschen Kunstentwicklungen in Ost und West integrative Teile einer gemeinsamen, noch zu entwerfenden Kunstgeschichte sind. Es wird aber viel davon abhängen, ob die überfällige Neubewertung der ostdeutschen Kunst im Prozess eines notwendigen Dialogs auf Augenhöhe unter dem Label eines untergegangenen Staats oder aus der Perspektive auf eine produktive Kunstlandschaft erfolgt.27

1 — Gerhard Charles Rump: Arbeiterhelden am Maschendrahtzaun, in: Die Welt, 11.01.2000.

2 — Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale): Wege der Moderne. Kunst in der SBZ/DDR, Faltblatt zur Sammlungspräsentation, Halle (Saale) 2021.

3 — Zit. n. Dorit Litt: Im Sog der Moderne. Hallesche Malerei zwischen 1945 und 1949, in: Im Spannungsfeld der Moderne. Zehn Maler aus Halle, hrsg. v. Dorit Litt und Katja Schneider, Ausst.-Kat. Stiftung Moritzburg, Halle (Saale) 2004, S. 15–23, hier S. 15.

4 — Pointierte Beispiele dafür finden sich im Beitrag des Verfassers in dieser Publikation S. 129 sowie von Thomas Bauer-Friedrich S. 481.

5 — Vgl. Siegfried Gohr: Die DDR-Kunst war nur ein Nebenkriegsschauplatz. Gegenrede an die Kritiker der Berliner Ausstellung „60 Jahre, 60 Werke“, in: Die Welt, 02.06.2009.

6 — Werkstattgespräch mit Georg Baselitz, geführt von Axel Hecht und Alfred Welti, in: art. Das Kunstmagazin 12 (1990) H. 6, S. 54–72.

7 — Die Bestandspräsentation fand unter dem Titel Ostdeutsche Malerei und Skulptur vom 15.06.2018 bis 06.01.2019 im Dresdner Albertinum statt. Vgl. zur Einordnung Paul Kaiser: Tunnelblick aus der Sackgasse. Nach dem Dresdner Bilderstreit ändert das Albertinum seinen Kurs im Umgang mit Kunst aus der DDR. Ein Rundgang, in: Sächsische Zeitung, 16./17.06.2018.

8 — Ebd.

9 — Karl-Siegbert Rehberg/Paul Kaiser (Hrsg.): Bilderstreit und Gesellschaftsumbruch. Die Debatten um die Kunst aus der DDR im Prozess der deutschen Wiedervereinigung, Kassel/Berlin 2013, S. 17.

10 — Anja Tack: Riss im Bild. Kunst und Künstler aus der DDR und die deutsche Vereinigung, Göttingen 2021, S. 375.

11 — Beispielhaft dafür war die vom Dresdner Institut für Kulturstudien vom 03. bis 05.04.2019 in Dresden veranstaltete Tagung „Kolonie Ost? Aspekte von ‚Kolonialisierung‘ in Ostdeutschland seit 1990“.

12 — Hier sind vor allem die Aktivitäten von Prof. Dr. Sigrid Hofer (Philipps-Universität Marburg) und Prof. Dr. Frank Zöllner (Universität Leipzig) zu nennen.

13 — Eine der wenigen Ausnahmen war das vom BMBF finanzierte Verbundvorhaben „Bildatlas: Kunst in der DDR“ (2009–12), an dem die Technische Universität Dresden, die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, das Kunstarchiv Beeskow sowie das Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam beteiligt waren (vgl. auch die Webdomain www.bildatlas-ddr-kunst.de).

14 — So verwaltet die 1990 neu gegründete Leuna-Werke GmbH 650 Kunstwerke, die sich seit 1998 im Eigentum des Landes Sachsen-Anhalt befinden, und die Wismut GmbH in Chemnitz übernahm aus dem Bestand der einstigen SDAG Wismut 4 200 Kunstwerke.

15 — Wolfgang Engler: Die ostdeutsche Moderne. Aufbruch und Abbruch eines partizipatorischen Gesellschaftsprojektes, in: Karl-Siegbert Rehberg/Wolfgang Holler/Paul Kaiser (Hrsg.): Abschied von Ikarus. Bildwelten in der DDR – neu gesehen, Ausst.-Kat. Klassik Stiftung Weimar, Weimar 2012, S. 29–40, hier S. 37.

16 — Vgl. Achim Preiß: Offiziell/Inoffiziell – Die Kunst der DDR, in: Aufstieg und Fall der Moderne, Ausst.-Kat. Kunstsammlungen zu Weimar und Weimar 1999 – Kulturstadt Europas GmbH, Teil III, hrsg. v. Rolf Bothe und Thomas Föhl, Weimar 1999, S. 450–473.

17 — Vgl. Kunstsammlungen zu Weimar (Hrsg.): Der Weimarer Bilderstreit. Szenen einer Ausstellung. Eine Dokumentation, Weimar 2000.

18 — Siegfried Gohr zit. n. Christoph Hein: Die Freiheit, die ich meine. Ausgegrenzt zu werden, ist der Kunst förderlich – und dem Rückgrat. Ein Offener Brief an die Bundesregierung, in: der Freitag 20 (2009) H. 19, 06.05.2009, S. 13.

19 — Vgl. Thomas Flierl (Hrsg.): List und Schicksal der Ost-Moderne. Hermann Henselmann zum 100. Geburtstag, Berlin 2008; Mark Escherich (Hrsg.): Denkmal Ost-Moderne. Aneignung und Erhaltung des baulichen Erbes der Nachkriegsmoderne, Berlin 2012 und bezogen auf die Situation der Wandbilder Martin Maleschka: Baubezogene Kunst DDR. Kunst im öffentlichen Raum 1950 bis 1990, Berlin 2019.

20 — Vgl. Paul Kaiser/Karl-Siegbert Rehberg (Hrsg.): Enge und Vielfalt. Auftragskunst und Kunstförderung in der DDR, Hamburg 1999.

21 — Vgl. Hannelore Offner/Klaus Schroeder (Hrsg.): Eingegrenzt – Ausgegrenzt. Bildende Kunst und Parteiherrschaft in der DDR 1961–1989, Berlin 2000.

22 — Wolfgang Hütt: Gefördert. Überwacht. Reformdruck bildender Künstler der DDR. Das Beispiel Halle, Dößel 2004.

23 — Hier kam es am 10. und 12.02.1998 zu zwei Offenen Briefen, deren Unterzeichner entweder apodiktisch gegen oder für eine Aufnahme von Gemälden von Bernhard Heisig in den Bundestag auftraten.

24 — Vgl. hierzu den Beitrag des Verfassers in dieser Publikation S. 129.

25 — Vgl. Tagungsband Nürnberg 2001 sowie den Beitrag von Thomas Bauer-Friedrich in dieser Publikation S. 481.

26 — Die Tagung wurde von der Stiftung Schloss Neuhardenberg vom 01. bis 03.08.2003 gemeinsam mit dem SFB 537 „Institutionalität und Geschichtlichkeit“ an der TU Dresden veranstaltet und führte Kunsthistoriker aus West und Ost erstmals zu diesem Thema zusammen.

27 — Vgl. Paul Kaiser: „1989“ und die ostdeutsche Kunst, in: Point of No Return. Wende und Umbruch in der ostdeutschen Kunst, Ausst.-Kat. Museum der bildenden Künste, Leipzig, Leipzig 2019, S. 12–37.


1 Willi Sitte vor seinem Gemälde Leuna 1969 in der Ausstellung Architektur und bildende Kunst 1969 in Berlin anlässlich des 20-jährigen Jubiläums der Gründung der DDR

Für die Kunst, aber nie gegen die Partei
Der Künstler Willi Sitte im Konflikt mit sich und seiner Kunst

Eckhart J. Gillen

Um Willi Sitte als Künstler zu begreifen, muss sein ständiger Konflikt mit sich und seiner Kunst in den Blick genommen werden, war er doch lebenslang ein verunsicherter Autodidakt in einem System, das dem Künstler ständig etwas abfordert, ohne ihm sagen zu können, wie er malen soll. Niemand, weder die Funktionäre, noch die Kulturpolitiker oder gar die Künstler, wusste, wie man im Arbeiter- und Bauernstaat konkret malen sollte. Das hatte für einen Autodidakten wie Willi Sitte, dem das solide akademische Fundament, die Lehrer als prägende Vorbilder, die kontinuierliche Entwicklung eines künstlerischen Konzepts fehlten, natürlich fatale Folgen. So blieb sein Lebenswerk von sprunghaften Stilwechseln und Auflösungserscheinungen gekennzeichnet und fand nie zu einer organischen Entfaltung seiner Inhalte und Formen.

Für die Rezeption seines Œuvres kam erschwerend hinzu, dass Sitte die meisten seiner Bilder aus den 1950er Jahren unter Ausschluss der Öffentlichkeit malte und viele davon erst 10 bis 20 Jahre später ausstellte, u. a. in der Retrospektive der Staatlichen Kunsthalle Berlin 1982. War bis in die 1980er Jahre in der DDR der sozialistische Sitte zu sehen mit Bildern überwiegend erst ab 1960, zeigten beispielsweise Ausstellungen wie Sitte vor Sitte 2011 in der Sammlung Hurrle, Durbach,1 2018 in der Kunsthalle Rostock2 und seit 2006 immer wieder in der Willi-Sitte-Galerie in Merseburg wiederum nur einen anderen Teilaspekt, den aus der Nachwende-Perspektive „unbekannten“ Sitte, der keine Rückschlüsse auf seine weitere Entwicklung erlaubte. So konnte ein Gesamtbild von Sittes künstlerischer Welt bisher nicht sichtbar werden.

Der Sozialistische Realismus und die Frage: Wie sollen wir malen?

Eine Schlüsselszene im Sommer 1953 in Leipzig beleuchtet schlaglichtartig Sittes Dilemma, seine ständige Suche nach einer Antwort auf die Frage: „Wie sollen wir malen?“ Der Volksaufstand am 17. Juni 1953, der, trotz der schnell ausgegebenen Losung, es handele sich um einen aus dem Westen gesteuerten faschistischen Putsch, tiefgreifende Irritationen auf allen Funktionärsebenen ausgelöst hatte, führte auch in der Leipziger Bezirksleitung des Künstlerverbandes zu Panik und Irritation. In der Tagesordnung der Sitzung vom 3. Juli 1953 tauchten der 17. Juni und der Neue Kurs zwar mit keinem Wort auf, im Protokoll heißt es aber: „Kollege Warnecke teilt mit, daß einige Kollegen ihn im Büro fragten, wie sie nach dem neuen Kurs der Regierung jetzt malen sollen.“ Die Antwort: „Nach den Äußerungen des Kollegen Münze sollen wir den Begriff sozialistischer Realismus nicht mehr popularisieren. Eine konkrete Anleitung ist jedoch nicht gegeben worden.“3

Die Bemerkung ist symptomatisch für die wellenartig an- und abschwellenden Debatten um den Sozialistischen Realismus seit der von dem sowjetischen Kulturoffizier und Germanisten Alexander Dymschitz (1910–1975) im November 1948 begonnenen Kampagne gegen „die formalistische Richtung in der deutschen Malerei“.4 Diese Frage blieb unbeantwortet, weil es eine politische Frage war, die von den jeweiligen Kurswechseln der Parteipolitik zwischen Tauwetter und Repression abhing, und keine ästhetische Frage. Der Sozialistische Realismus ist also kein Stil, sondern eine politische, d. h. parteiliche Einstellung des Künstlers zur Wirklichkeit, die ihm von der Partei vorgegeben wird und deren kollektive Weisheit unfehlbar ist. Ministerpräsident Otto Grotewohl (1894–1964) erklärte in einer Rede 1951 über Die Kunst im Kampf für Deutschlands Zukunft: „Literatur und bildende Künste sind der Politik untergeordnet. […] Die Idee in der Kunst muß der Marschrichtung des politischen Kampfes folgen. Denn nur auf der Ebene der Politik können die Bedürfnisse der Werktätigen richtig erkannt und erfüllt werden.“5

Mit seiner Zeichenkunst hatte Sitte sich einen exakten Abbildrealismus erarbeitet. Aber die Verabsolutierung des Details gilt als Naturalismus, denn das bloße Faktum ist erst der Rohstoff für den Künstler. Im Gegensatz zum „objektivistischen“, den bloßen Tatsachen verhafteten „bürgerlichen“ Naturalismus soll der Sozialistische Realismus die Realität, auch die historische, aus einer sozialistischen Perspektive widerspiegeln. Was aus der Fülle der Erscheinungen wesentlich und „typisch“ ist, entscheidet in letzter Instanz die Partei. Daher sieht das geschulte Auge des Zensors sofort die richtige oder falsche politische Einstellung des Künstlers zur Wirklichkeit. Der Künstler ist aufgefordert, durch das Studium der marxistisch-leninistischen Weltanschauung zu lernen, immer das jeweils Richtige und Typische zu sehen und zu erkennen. Dafür gab es Kurse in Parteihochschulen, die sogenannte „Rotlichtbestrahlung“, von der Willi Sitte allerdings verschont blieb.6

Sozialistischer Realismus ist eine inszenierte Wirklichkeit, ein Wunschbild, eine ins Hier und Heute projizierte Sicht der Vergangenheit (z. B. von der Märzaktion 1921 im Leuna-Werk, S. 409) oder eine Antizipation der Zukunft (Leuna 1969, S. 411). Da die Kriterien des Sozialistischen Realismus, die Maxim Gorki (1868–1936) in seiner Rede auf dem Ersten Allunionskongress der Sowjetschriftsteller (17.–19. August 1934) in Moskau entwickelte – Primat der Politik über die Kunst und die Realität, parteiliche Definition der Wahrheit, Optimismus, Perspektive und Volksverbundenheit – außerkünstlerische sind, konnte die Doktrin später ohne weiteres von der Literatur auf die bildende Kunst, Musik, Architektur und den Film übertragen werden. Es geht um ein politischtheologisches, nicht um ein künstlerisches Projekt. Willi Sitte konnte sich dabei nie sicher sein, ob er beim Abbilden der Wirklichkeit auch das – aus Sicht der Partei – für die zukünftige Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft Typische, nämlich die richtige politische Linie getroffen hatte. Wollte Sitte in der DDR als Maler Erfolg haben, musste er sich also dem unerforschlichen Willen der Partei bedingungslos unterwerfen. Diese Ausrichtung der malerischen Praxis auf eine äußere objektive Instanz blieb für ihn eine Herausforderung, der er sich lange zu entziehen suchte, letztendlich aber unter Anleitung führender Genossen wie Horst Sindermann (1915–1990) unterwarf. Einerseits beteuerte Sitte: „Ich selber bin nie – um auf meine Realismus-Version zu kommen – davon ausgegangen, wie die Welt zu sein habe, sondern wie sie ist.“ Andererseits „wollte ich mit der Abbildung von Realität auch eine Utopie vermitteln.“7

Ein zeichnender Autodidakt und Akademiker liebt das Grau in Grau der Moderne

Für die mit dem Streit um den Formalismus verbundenen Auseinandersetzungen in den 1950er und 1960er Jahren war Sittes unfreiwilliger Status als Autodidakt ein folgenreiches Handicap. Das war ihm immer bewusst und wurde von ihm auch in jedem Interview reflektiert: „Ich bin von Grund auf Autodidakt gewesen. Ich hatte niemand. Ich hatte keine richtigen Professoren, die mir das hätten beibringen können.“8 Als Ausgleich führte er immer wieder seine eigentlichen Lehrmeister, die Reproduktionen von Werken Dürers, Raffaels, Schnorrs von Carolsfeld, Rethels und des aus Sittes Geburtsort Kratzau stammenden Nazareners Joseph von Führich in den Knackfuß-Monografien an.

Seine faktische Nichtausbildung als Künstler begann mit dem Training zum Musterzeichner für die nordböhmische Textilindustrie.9 Ein Textilfabrikant schickte den begabten 18-Jährigen 1940 an die Hermann-Göring-Meisterschule für Malerei in Kronenburg/Eifel, die von 1936 bis 1945 von Werner Peiner (1897–1984) geleitet wurde. Sitte fand hier ein streng hierarchisch aufgebautes Werkstattverhältnis vor 2. Die Studenten wurden in Lehrlinge, Gesellen und Meister eingeteilt. Der „führende Meister“ Peiner entwickelte die künstlerischen Konzepte, die von den Lehrlingen und Gesellen auszuführen waren.10 Eine Erziehung zu individueller Kreativität oder intellektueller Unabhängigkeit fand unter diesen Umständen nicht statt. Als „Spezialist für Figur und Faltenwurf“ zeichnete Sitte die Kartons nach Skizzen von Peiner, die in die Originalgröße übersetzt werden mussten. „Unterricht gab es kaum, es war auch niemand da, der uns das Malen hätte beibringen können. Das nannte sich Hochschule, aber wir wurden nur ausgebeutet und haben nichts gelernt.“11 Nebenbei entstanden 1940 Zeichnungen im Duktus der Donauschule nach Altdorfer, wie z. B. Kronenburg (Unterburg) in Sepia und Feder auf grundiertem Papier S. 161. Trotz der drohenden Rekrutierung zur Wehrmacht, vor der ihn die Schule einstweilen bewahrte, beteiligte sich Sitte an einem Protestschreiben gegen die fehlenden Ausbildungsmöglichkeiten an der Schule. Daraufhin wurde er nach einem Jahr Aufenthalt zum Wehrdienst eingezogen und musste am Russlandfeldzug teilnehmen. Er wurde verwundet, war lange Zeit zur Genesung in Lazaretten oder zuhause in Kratzau, wurde 1944 nach Italien versetzt, desertierte im April 1945 und schloss sich einer Gruppe italienischer Partisanen an. Aus der Enge seiner Herkunft, die für ihn zunächst nur das Zeichnen von Kartons für die Textilindustrie vorsah, wurde er durch den Krieg herauskatapultiert und landete in einer fernen, ihm fremden Welt in Montecchio-Maggiore bei Vicenza in der norditalienischen Po-Ebene. Es haben sich einige arkadische Landschaftszeichnungen von der Stradella S. Bastiano – Villa Valmarana und dem Privatpark des Grafen Valmarana (beide 1945) im Stil des 18. Jahrhunderts erhalten.12 Von einer seiner Gastfamilien in Montecchio-Maggiore, den Giuliaris, zeichnete er im Stil der Frühromantiker, etwa eines Carl Philipp Fohr (1795–1818), mit einem Silberstift die hauchfeinen Porträts von Sandro Poli und Margharita Giuliari 3 und die kleine Tochter Paola Poli in strenger Profilansicht.13

2 Arbeit am Karton für den Gobelin Belagerung der Marienburg von Werner Peiner, Hermann-Göring-Meisterschule für Malerei, Kronenburg/Eifel

3 Willi Sitte: Porträt Margharita Giuliari, 1945, Silberstift auf grundiertem Papier, Maße unbekannt, Privatsammlung. Ab Mitte April 1945 lebte Sitte zunächst bei der Familie von Giuseppe Muraro, dem Präsidenten des örtlichen Comitato Liberazione Nationale, nach Ende des Krieges im Haus von Giovanni Giuliari, dem Bürgermeister von Montecchio-Maggiore.

Nach seinem Aufenthalt in Mailand kümmerte sich Sitte 1946 um die Aussiedlung seiner Eltern aus Kratzau in die Sowjetische Besatzungszone und landete nach einem Zwischenaufenthalt in Heiligenstadt, wo er der SED beitrat, schließlich in Halle (Saale).14 In Dresden hatte ihm der Rektor der Kunstakademie, Hans Grundig (1901–1958), nach Sichtung seiner Zeichnungen erklärt: „Du kannst alles, was soll ich Dir noch beibringen?“15

Nach diesen Kriegsjahren „merkte ich, daß die Mittel, die mir zur Verfügung standen, einfach nicht ausreichten, um auszudrücken, was wir erlebt hatten und worum es mir ging.“16 In schneller Folge ließ er die alten Meister, die Romantiker und Spätromantiker wie Alfred Rethel (1816–1859) hinter sich und wandte sich den Symbolisten der Jahrhundertwende Max Klinger (1857–1920), dann Käthe Kollwitz (1867–1945) zu mit Blättern wie Die Blinden S. 197, Das Lied vom Sturmvogel,17 Kapitalismus S. 211, alle 1948. Die Kollwitz „verhalf mir als hervorragende Zeichnerin, aber auch durch ihr engagiert gelebtes Leben zu einem ersten Schritt in eine neue Richtung.“18 Sein erstes großformatiges Gemälde Zug ins Leben S. 207 stand noch ganz im Bann des Symbolismus von Max Klinger.19

In einer ganzen Serie von Gouachen, Tusche- und Federzeichnungen machte er sich seine dunklen „Nachkriegsgedanken“ über seine Zeitgenossen S. 215–219, 222.20 Sie zeigen Menschen, deren Gesichter hinter Masken verborgen sind. Ihre Maskeraden erinnern an Karl Hofers (1878–1955) düstere Gemälde wie Totentanz (1946) oder Höllenfahrt (1947).

Hofer, seit Juli 1945 Direktor der Hochschule für Bildende Künste in Berlin-Charlottenburg, war, entsprechend der Bündnispolitik der Kommunisten, als Vertreter der bürgerlichen Intelligenz, Vizepräsident des Kulturbunds und mit Oskar Nerlinger (1893–1969) von 1947 bis 1949 Herausgeber der Zeitschrift bildende kunst. Sie war die Vorgängerin der späteren Verbandszeitschrift, die ab 1953 erschien. Im Streit um das Primat von Kunst oder Politik vertrat Hofer gegen Nerlinger entschlossen die Eigengesetzlichkeit der Kunst und wehrte sich gegen ihren Missbrauch als Propaganda. „Wir standen natürlich auf der Seite Hofers, der die künstlerische Bedeutung vor die politische stellte, denn Halle war eine starke Bastion des sogenannten Formalismus.“21 In der Saalestadt zeigte die Galerie Henning im August 1948 und im Mai 1949 Malerei und Grafik von Hofer in Einzelausstellungen mit Katalog. Bereits in der Jahresausstellung 1 Jahr Galerie Henning (Mai/Juni 1948) ist Hofer u. a. mit den Gemälden Mann am Fenster und Masken vertreten. Bei Eduard Henning (1908–1962) waren auch die Expressionisten der Dresdner Brücke zu sehen. Die Galerie Henning wurde zum zentralen Anlaufpunkt für den Austausch der Künstler untereinander und prägte die Kunstszene von Halle (Saale).

Die Begegnung mit dem Expressionismus und vor allem mit Picasso (1881–1973), von dem Henning seit November 1950 bis Oktober 1961 immer wieder Grafik zeigte, „führte zu einem Erdrutsch in meinen Kunstvorstellungen, zu einem großen Bruch. Ich versuchte, alles zu vergessen, was ich mir an akademischem Vokabular angeeignet hatte […].“22

Immer wieder betonte Sitte in Interviews, dass er von der Zeichnung herkomme.23 In Halle (Saale) waren z. B. von Pablo Picasso bei Henning ausschließlich Grafiken zu sehen. Seine Gemälde und die von Georges Braque (1882–1963), Fernand Léger (1881–1955) sowie Max Ernst (1891–1976) kannte Sitte nur von schwarz-weißen Reproduktionen in Katalogen, die er sich in der Buchhandlung Herder in West-Berlin besorgt hatte.24 Daher hatte er „keine Ahnung, wie sie farbig aussahen. So kam die sogenannte graue Periode in meinem frühen Werk zustande. […] Ich nahm an, daß die Bilder von Max Ernst und Picasso ziemlich grau sein müßten.

Um so verblüffter war ich – und teilweise enttäuscht – als ich sie dann im Original sah.“25 Die Grau-Malerei war Anfang der 1950er Jahre ein Kennzeichen der Halleschen Schule, so wie Ende der 1950er Jahre die Berliner Schule Schwarz zu ihrer Lieblingsfarbe erkor. Sicher spielte dabei auch der Widerstand gegen den staatlich verordneten Optimismus eine Rolle. „Da ich von dem Umgang mit Farbe keine Ahnung hatte, kam mir die Grau-in-Grau-Malerei, die damals in Halle fast Mode war, sehr entgegen. Mich interessierte vor allem die Lösung formaler Probleme, und so habe ich nur grau-in-grau gemalt, mal mit Ocker und mal ein bißchen Braun, mal wärmer oder kälter, aber doch alles in Grauwerten, wie es die Formalisten in Halle alle machten.“26

Umso überraschender entstand, inmitten der grauen Bilder, eine Reihe von kleinformatigen Bildern in leuchtenden Farben mit tiefschwarzen Konturen, wie Ziegelputzmaschine, Mädchen mit Liegestuhl27 oder die beiden Bilder Gruß zum Weltjugendtreffen S. 237, nach Sittes Begegnung mit den Originalen von Léger-Gemälden in West-Berlin 1950.28 Sie gehörten zu den ersten Ölbildern, die Sitte „mit den neu erworbenen Mitteln malte.”29 Allerdings wirken die wattigen Arme und Beine wie angenähte Fremdkörper im Vergleich zu Légers konstruktiver Präzision und Modellierung der Figuren.

Bei Picasso imponierte Sitte vor allem, dass er auch die akademische Zeichenkunst beherrschte. „Das war für mich eigentlich der Einstieg. Das kann ich doch auch. So habe ich auf dieser Strecke das für mich, mit meinen eigenen Erlebnissen und Erfahrungen, ähnlich nachvollzogen wie Picasso es gemacht hat. Deswegen gibt es eine geistige Verwandtschaft für mich. Ich bin mit ihm eine Strecke gegangen und bin ihm sehr dankbar gewesen.“30 Dazu kam, „daß Picasso 1948 an dem ‚Weltkongreß der Intellektuellen für den Frieden‘ in Breslau teilgenommen hatte und sich als Künstler mit seinem neuartigen Vokabular in die Politik einmischte“ und dass er, zusammen mit Léger, Mitglied der kommunistischen Partei Frankreichs war.31

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9783865024831
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