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IV.

Ein Ausblick auf das 20. Jahrhundert offenbart die anhaltenden Schwierigkeiten von Armee und Behörden gleichermassen, Form und Funktion der militärischen Landesverteidigung auf der Höhe der jeweiligen Gegenwartsprobleme zu reflektieren und insbesondere aussen- sowie volkswirtschaftlichen Bedingungen, Restriktionen und Potenzialen Rechnung zu tragen. Im Ersten Weltkrieg hatte sich der enge Nexus zwischen wirtschaftlicher und politischer Abhängigkeit das erste Mal mit voller Wucht bemerkbar gemacht. Die damals ersichtlichen Asymmetrien in der Landesverteidigungskonzeption überdauerten das Kriegsende. Im Zweiten Weltkrieg trat dann «der Antagonismus zwischen ‹Landesverteidigung› und ‹Kriegsführung›» klar zutage, womit das Bewusstsein für die Tatsache geschärft wurde, dass «das Überleben [militärisch] nur gesichert werden [konnte], wenn dies auch wirtschaftlich der Fall war».44 Doch auch damals setzte sich die Einsicht, dass eine glaubhafte Dissuasionsstrategie […] «ausschliesslich im Rahmen einer umfassenden sicherheitspolitischen Konzeption denkbar» war, nicht durch.45 Es gab zwar Ansätze zu einer «strategischen Synthese», welche die konfligierenden Ressourcennutzungen und Zielkonflikte auf ein Sicherheitsoptimum hin auszutarieren trachtete.46 Eine weiterführende, auf sicherheitspolitischer und ebenso ökonomischer Expertise basierende Diskussion über eine mehrdimensionale Landesverteidigung wurde indessen nach 1945 durch die historische Mythenbildung um das Réduit national und die vergangenheitspolitische Popularität des «Aktivdienstmodells» wirksam blockiert.47

Dies war deshalb problematisch, weil sich die Schweiz auch nach dem Zweiten Weltkrieg «der Entwicklung in der modernen Kriegsführung keineswegs entziehen» konnte.48 Diese perzipierte man nach 1945 stark unter dem operativ-waffentechnischen Aspekt. Über den Konzeptionenstreit zwischen «Stabilen» und «Mobilen» sowie weitere innere Konflikte hinaus träumte die schweizerische Armeeführung mehrheitlich von Atombomben, die als «moderne Hellebarden» zur Bekämpfung des Feindes im Mittelland eingesetzt werden sollten, von Hunderten von Kampfflugzeugen, die, wenn nötig, mit Atomwaffen in die strategische Tiefe des Ostblocks vordringen, und von hochmechanisierten Einheiten, mit denen feindliche Kräfte im «Kriegstheater» besiegt werden konnten. Der Fokus lag erneut auf militärischen Aspekten – die weiteren Zusammenhänge einer auf verschiedenen Stufen einer Konflikteskalation funktionierenden Landesverteidigung wurden weitgehend ausgeblendet. Dass diese Waffen-Aufrüstungspläne dann nicht verwirklicht werden konnten, war nicht Resultat besserer Einsicht, sondern einer opaken Mischung aus freundeidgenössischen Kompromissen, unternehmerischer Interessenpolitik und äusseren Zwängen geschuldet. Im Einzelnen zu nennen sind: Fehlende Finanzen auf Bundesebene, aussenwirtschaftliche Abhängigkeiten und Präferenzen (unter anderem Kauf von US-amerikanischen Leichtwasserreaktoren), multilaterale Verrechtlichungsprozesse im globalen Massstab (atomare Non-Proliferationsabkommen).49

Die Schweiz brachte sich mit diesen Lernschwierigkeiten, die mit einer Vereindimensionalisierung der Expertise zusammenhängen, «um die sicherheitspolitischen Früchte ihrer spezifischen und richtungsweisenden ‹Kriegserfahrung›» (so Wegmanns Schlussfolgerung).50 Zwar wurden im Verlaufe der 1970er-Jahre aussenwirtschaftspolitische Faktoren etwas stärker berücksichtigt. Doch von der Armeekonzeption 1966 über die Berichte zur Gesamtverteidigung von 1970 und 1973 bis hin zum Zwischenbericht 1979 sowie zum Bericht über die Friedens- und Sicherheitspolitik von 1988 lässt sich sagen, dass sie «um den Preis inhaltlicher Unschärfe und Unverbindlichkeit versuchten […] einen überparteilichen Konsens herzustellen» und dabei «oft als Referenz im innenpolitischen Kampf um Ressourcen» dienten.51

Im 21. Jahrhundert wurden diese Problemstellungen deutlicher freigelegt. In einer konzisen Abhandlung zur «Rohstoffpolitik als Sicherheitspolitik» arbeiteten Henrique Schneider und Hans-Ulrich Bigler die zentrale Bedeutung «weltweiter Rohstoff-Austauschketten» heraus, die einerseits Wohlstandsgewinne ermöglichen und andererseits eine steigende Verletzlichkeit implizieren.52 Die Autoren würdigen die bundesrätlichen Vorschläge zur Energiewende, konstatieren darin jedoch einen «logischen Fehler»: «Versorgungssicherheit wird nicht mittels Importen gewährleistet. Die Frage muss umgekehrt lauten, nämlich: Wie kann man Versorgungssicherheit trotz Importen garantieren?» Die Schweiz als «wirtschaftlich hochgradig vernetztes Land und arm an eigenen Rohstoffen» sei «auf einen freien internationalen Marktzugang generell angewiesen» und deshalb «in besonderem Mass exponiert gegenüber Druck oder Nötigung mit wirtschaftlichen Mitteln».53 Zwar wäre es «strategisch, ordnungs- und sicherheitspolitisch falsch, die Schweizer Aussenpolitik einseitig auf die Rohstoffbedürfnisse der Wirtschaft auszurichten»; daraus folge aber «keineswegs, dass sich die Aussenpolitik nicht dafür einzusetzen hätte».54 Eine solche «in einem weiten Sinne verstandene» Sicherheitspolitik, welche die Abhängigkeitsmatrix der Volkswirtschaft und den Manövrierspielraum international tätiger Unternehmen angemessen berücksichtigt, bleibt jedoch unvermeidlich einem nationalen Paradigma verhaftet; es geht darum, «die Sicherheit eines Staates» zu verknüpfen mit «seiner Fähigkeit, die Lebensqualität seiner Bevölkerung und seine eigene Unabhängigkeit aufrechtzuerhalten».55 Dass die Vorbereitung auf einen Krisen- und Kriegsfall a priori nicht auf einen nationalen Handlungsraum beschränkt bleiben kann, wird durchaus mitgedacht. Doch die weitreichenden Konsequenzen dieser Einsicht bleiben auch hier unterbelichtet.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass im «kurzen 20. Jahrhundert» – also in der Zeit vom Ersten Weltkrieg bis zum Ende des Kalten Krieges – die für die nationale Selbstbehauptung der Schweiz als Kleinstaat im europäischen und internationalen Massstab so wichtige Wirtschaft ein blinder Fleck oder zumindest eine stark ausgeklammerte Dimension der «schweizerischen Erfahrung»56 war. Dies verfestigte in einer longue durée die immer wieder prekären Asymmetrien in der Landesverteidigungskonzeption. Es liegt hier allerdings ein Problem vor, das nicht einfach «lösbar» ist, denn die Aporie einer nationalen Antwort (wie sie im Begriff einer «Landesverteidigung» angelegt ist) auf eine transnationale Problemlage (wie sie in Begriffen wie «Verflechtung», «Abhängigkeit» und «Verletzbarkeit» zum Ausdruck kommen) lässt sich grundsätzlich nicht aufheben.

Anmerkungen

1 Siehe dazu: Herren, Madeleine; Zala, Sacha: Netzwerk Aussenpolitik. Internationale Kongresse und Organisationen als Instrumente schweizerischer Aussenpolitik 1914–1950, Zürich 2002; Herren, Madeleine: Hintertüren zur Macht: Internationalismus und modernisierungsorientierte Aussenpolitik in Belgien, der Schweiz und den USA, 1865–1914, München 2000; Ernst, Andreas; Wigger, Erich (Hg.): Die neue Schweiz? Eine Gesellschaft zwischen Integration und Polarisierung (1910–1939), Zürich 1996.

2 Zu den ausserordentlichen Vollmachten, die später unter dem Begriff «Vollmachtenregime» gefasst wurden, vgl. Schneider, Oliver: «Diktatur der Bürokratie? Das Vollmachtenregime des Bundesrates im Ersten Weltkrieg», in: Rossfeld, Roman; Buomberger, Thomas; Kury, Patrick: 14/18. Die Schweiz und der Grosse Krieg, Baden 2014, S. 48–71; ders.: Die Schweiz im Ausnahmezustand. Expansion und Grenzen von Staatlichkeit im Vollmachtenregime des Ersten Weltkriegs, 1914–1919, Diss. (im Erscheinen), Zürich 2018.

3 Cornaz, Max: Zum Problem der Wirtschaftsneutralität. Die Handelsverträge der Schweiz im ersten Weltkrieg, Zürich 1952, S. 4–6.

4 Cornaz, Wirtschaftsneutralität, S. 8 f.

5 Cornaz, Wirtschaftsneutralität, S. 10. Zu den Schweizer Unternehmen während der Kriegszeit vgl. Rossfeld, Roman; Straumann, Tobias (Hg.): Der vergessene Wirtschaftskrieg. Schweizer Unternehmen im Ersten Weltkrieg, Zürich 2008; zur Aussenwirtschaftspolitik vgl. Ochsenbein, Heinz: Die verlorene Wirtschaftsfreiheit 1914–1918. Methoden ausländischer Wirtschaftskontrollen über die Schweiz, Bern 1971.

6 Zum Wandel der Neutralitätskonzeptionen vor und während des Ersten Weltkrieges vgl. Abbenhuis, Maartje M.: An age of neutrals: great power politics, 1815–1914, Cambridge 2014; Kruizinga, Samuël: «Neutrality», in: Winter, Jay M. (Hg.): Cambridge History of the First World War, Bd. 2 (The State), Cambridge 2014, S. 542–575.

7 Diese nationale Orientierung stabilisiert sich immer nur in transnationalen Austauschprozessen. Dabei ist die Imitation von Vorbildern ebenso wichtig wie das Lernen vom Gegner. Vgl. Aust, Martin; Schönpflug, Daniel (Hg.): Vom Gegner lernen: Feindschaften und Kulturtransfers im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 2007.

8 Böschenstein, Hermann: «Bundesrat und General im Ersten Weltkrieg», Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Nr. 4 (1960), S. 515–532, hier S. 517.

9 Mach, André et al.: Schweizer Wirtschaftseliten 1910–2010, Baden 2017; theoretisch noch immer massgeblich: Kriesi, Hanspeter: Entscheidungsstrukturen und Entscheidungsprozesse in der Schweizer Politik, Frankfurt a. M. 1980; für Teilaspekte interessant: Cassis, Youssef; Debrunner, Fabienne: «Les élites bancaires suisses, 1880–1960», Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 40 (1990), S. 259–273; Tanner, Albert: Arbeitsame Patrioten – wohlanständige Damen. Bürgertum und Bürgerlichkeit in der Schweiz, 1830–1914, Zürich 1995; Gruner, Erich: Politische Führungsgruppen im Bundesstaat, Bern 1973.

10 Tanner, Jakob: Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert, München 2015, S. 184 ff.

11 Hoefliger, Walter:, Die finanzielle Kriegsbereitschaft der schweizerischen Eidgenossenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Schweizerischen Nationalbank, Zürich 1914, S. 16 f.

12 Aust, Schönpflug (Hg.), Vom Gegner lernen.

13 Jaun, Rudolf: Preussen vor Augen. Das schweizerische Offizierskorps im militärischen und gesellschaftlichen Wandel des Fin de siècle, Zürich 1999.

14 Zur Beurteilung der Armee durch General Ulrich Wille vgl. ders.: Bericht an die Bundesversammlung über den Aktivdienst 1914 bis 1918 (= Generalsbericht; 3. unveränderte Auflage 1926).

15 Böschenstein, Bundesrat und General, S. 522.

16 Hier zitiert nach: Böschenstein, Bundesrat und General, S. 519–521. Böschenstein druckt den Brief in seinem Aufsatz integral ab.

17 Böschenstein, Bundesrat und General, S. 520.

18 Schweizerisches Bundesarchiv Bern, Protokolle des Bundesrates (E1005#4), Protokoll der 92. Sitzung des Schweizerischen Bundesrates, 25. Oktober 1912. Vgl. die Zitate weiter unten.

19 Ehrbar, Hans Rudolf: Schweizerische Militärpolitik im Ersten Weltkrieg, Bern 1976, S. 94 f.; zu Hoffmann vgl. die Biographie von Widmer, Paul: Bundesrat Arthur Hoffmann. Aufstieg und Fall, Zürich 2017, welche die der Schweiz zugeneigte Seite des Magistraten hervorhebt.

20 Ochsenbein, Die verlorene Wirtschaftsfreiheit, S. 331.

21 Frey, Julius: «Die finanzielle Kriegsbereitschaft der Schweiz», in: Raschers Jahrbuch, Hg. Konrad Falke, Zürich 1910, S. 143–165, hier S. 143 f.

22 Frey, Kriegsbereitschaft, S. 165.

23 Frey, Kriegsbereitschaft, S. 144.

24 Frey, Kriegsbereitschaft, S. 147 und 151. Einen ähnlich eingeschränkten Fokus nimmt eine weitere Studie aus dem Jahre 1914 ein: Hoefliger, Die finanzielle Kriegsbereitschaft der schweizerischen Eidgenossenschaft.

25 Jöhr, Adolf: Die Volkswirtschaft der Schweiz im Kriegsfall, Zürich 1912, S. 3.

26 Jöhr, Volkswirtschaft der Schweiz, S. 77 f.

27 Jöhr, Volkswirtschaft der Schweiz, S. 235.

28 Jöhr, Volkswirtschaft der Schweiz, S. 237 f.

29 Vgl. dazu: Tanner, Jakob: «Maximum slaughter at minimum expense. Die ökonomische Logik der Kriegsführung und die Rolle der Kriegswirtschaft», in: Thier, Andreas; Schwab, Lea: 1914, Zürich 2018 (im Erscheinen).

30 Traugott Geering: «Von der Exportstruktur der schweizerischen Volkswirtschaft», in: Politisches Jahrbuch der Schweizerischen Eidgenossenschaft 27 (1913), S. 178–203, hier S. 187.

31 Geering, Exportstruktur, S. 191.

32 Geering, Exportstruktur, S. 193.

33 Geering, Exportstruktur, S. 196.

34 Geering, Exportstruktur, S. 196 ff.

35 Ochsenbein, Die verlorene Wirtschaftsfreiheit.

36 Ochsenbein, Die verlorene Wirtschaftsfreiheit, S. 47.

37 Somary, Felix: Erinnerungen aus meinem Leben, Zürich 1959, S. 100.

38 Stenograph. Bulletin der Schweizerischen Bundesversammlung, 1912, S. 334.

39 Bericht des Militärdepartements zur «Brotversorgung der Schweiz» vom 23. Oktober 1912. Im Protokoll der 92. Sitzung des Schweizerischen Bundesrates, 25. Oktober 1912.

40 So befasste sich auch der Vorsteher des Post- und Eisenbahndepartementes, Ludwig Forrer, vor allem mit Logistikfragen und forderte eine Verstärkung der Südrouten. Am 4. Oktober 1912 schrieb er an die Teilnehmer der Konferenz zur Sicherung der Brotversorgung: «Gelänge diese Verkehrsumleitung, so hätte die Schweiz den Vorteil, von mehreren Seiten her mit Getreide versorgt zu werden, was im Kriegsfall von grosser Bedeutung wäre. Den südlichen Routen müsste der Import von russischem und rumänischem Weizen zufallen, während den nördlichen Routen der zeitweise bedeutende Import von amerikanischem Weizen verbleiben würde.» Diplomatische Dokumente der Schweiz, S. 719, https://www.amtsdruckschriften.bar.admin.ch/viewOrigDoc/60002165.pdf?ID=60002165

41 Tanner, Geschichte der Schweiz, S. 134 f.

42 Weber, Florian: Die amerikanische Verheissung. Schweizer Aussenpolitik im Wirtschaftskrieg 1917/18, Zürich 2016.

43 Gautschi, Willi: Der Landesstreik 1918, Zürich 1988 (erstmals 1968; dritte Auflage mit einem Nachwort von Hans-Ulrich Jost), S. 183.

44 Wegmüller, Hans: Brot oder Waffen. Der Konflikt zwischen Volkswirtschaft und Armee in der Schweiz 1939–1945, Zürich 1998, S. 176 und 179.

45 Wegmüller, Brot oder Waffen, S. 15.

46 Tanner, Jakob: Bundeshaushalt, Währung und Kriegswirtschaft. Eine finanzsoziologische Analyse der Schweiz zwischen 1938–1953, Zürich 1986.

47 Wegmüller, Brot oder Waffen, S. 179.

48 Wegmüller, Brot oder Waffen, S. 11.

49 Vgl. dazu: Tanner, Geschichte der Schweiz, S. 319–329.

50 Wegmüller, Brot oder Waffen, S. 179.

51 Mantovani, Mauro: «Sicherheitspolitik», in: Historisches Lexikon der Schweiz, http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D8679.php.

52 Schneider, Henrique; Bigler, Hans-Ulrich: «Rohstoffpolitik als Sicherheitspolitik» in: MILITARY POWER REVUE der Schweizer Armee 2 (2012), S. 36–48, hier S. 37.

53 Schneider, Bigler, Rohstoffpolitik als Sicherheitspolitik, S. 36.

54 Schneider, Bigler, Rohstoffpolitik als Sicherheitspolitik, S. 42.

55 Schneider, Bigler, Rohstoffpolitik als Sicherheitspolitik, S. 48.

56 Wegmann, Brot oder Waffen, S. 11.

Kapitel 2: Operationsplanung und Kampfführung
Rudolf Jaun
Lagebeurteilungen und Operationsabsichten
der Armeeführung 1914–1918

Wer im Aktivdienstbericht 14/18 von General Ulrich Wille und Generalstabschef Theophil Sprecher von Bernegg nach den zentralen Lagebeurteilungen, Operationsabsichten und Truppenaufstellungen der Schweizer Armee sucht, braucht nicht viel Zeit.1 Genau betrachtet gab es gerade einen einzigen Operationsbefehl, der noch während des Bezuges des Mobilmachungsdispositivs erlassen wurde. Das im August 1914 bezogene Grunddispositiv der Schweizer Armee blieb mit Retuschen bis 1918 gültig.

Zwischen 1914 und 1918 gab es aber eine ganze Menge möglicher Lageentwicklungen, die präsumtiv extrapoliert wurden und die zu Eventualplanungen und damit zu variantenreichen Operationsüberlegungen führten.2 Ob diese Eventualplanungen die grundlegenden Änderungen der Kampfführung auf den Kriegsschauplätzen des Ersten Weltkrieges nach dem Scheitern strategisch und taktisch offensiver Kriegführung an der Marne im September 1914 aufnahmen, ist von grösstem Interesse. Wollte die Schweizer Armee einem eingebrochenen Gegner nach wie vor offensiv entgegentreten, wie beispielsweise ihr Oberbefehlshaber beharrlich betonte?

Neben den in den Eventualplanungen angedachten Vorgehensweisen gibt es ein Quellendokument, das in diesem Zusammenhang zu interpretieren ist: den «Säbelrasslerbrief» von General Wille vom 20. Juli 1915 an Bundesrat Arthur Hoffmann in Sachen Import-Export-Kontrolle der Alliierten, der sogenannten Société Suisse de surveillance. Da steht:

«Frankreich und England (müssen) an ihrer grossen Front sich jetzt auch gefasst halten, denn sehr viel deutsche und österreichische Truppen können jetzt aus dem Osten abtransportiert werden. Bei dieser Lage der Dinge wäre es Frankreich wie Italien sehr unangenehm, wenn wir uns nicht anders helfen könnten, als ebenfalls zu den Waffen zu greifen. […] Ich möchte beifügen, dass ich nach wie vor die Erhaltung des Friedens für unsere oberste Aufgabe erachte, aber dass ich, wenn die Erhaltung unserer Selbständigkeit und Unabhängigkeit dies erfordert, den gegenwärtigen Moment für das Eintreten in den Krieg als vorteilhaft erachte.»3

Im Rahmen der Themenstellung dieses Artikels stellen sich folgende Fragen: Weist diese Quellenstelle über die Geistesverfassung und Sympathien von General Wille hinaus auf konkrete militärstrategische und operative Planungen hin? Wollte General Wille wirklich ohne Verletzung des neutralen Territoriums der Schweiz an der Seite der Mittelmächte in den Krieg eintreten? Erhielt der Generalstabschef den Auftrag, Aufmarschplanungen auszuarbeiten und operative Vorgehensweisen zu studieren?

Diese Fragen sollen im Kontext der in diesem Aufsatz behandelten Aspekte angegangen werden: 1. Potenzielle Problemlagen der Operationsplanung. Es geht darum darzustellen, welche Bedrohungslagen grundsätzlich für möglich gehalten wurden. 2. Manifeste Lagebeurteilungen und operative Absichten 1914–1918. Es wird der Frage nachgegangen, welche Lagebeurteilungen vorgenommen wurden und welche operativen Absichten dabei formuliert wurden. 3. Potenzielle Lageentwicklungen und Eventualplanungen 1914–1918. Hier soll der Frage nachgegangen werden, welche Lageentwicklungen für möglich gehalten wurden und welche Planungen entsprechend präsumtiv in Angriff genommen wurden.

Potenzielle Problemlagen der Operationsplanung

Auch wenn dem schweizerischen Generalstab der Schlieffenplan und der Plan XVII nicht näher bekannt waren, so ergab sich insbesondere aus den Gesprächen und Punktationen mit dem deutschen Generalstab aus der Vorkriegszeit, dass die Schweiz als solitäres Angriffsziel ausgeschlossen werden konnte. Vielmehr musste für den Fall eines neuen Krieges zwischen Frankreich und dem Deutschen Reich mit dem Aufmarsch grosser Massenheere in Grenznähe gerechnet werden. In diesem Zusammenhang konnte das schweizerische Territorium potenziell als Raum für Ausweichmanöver und Entlastungsangriffe in Frage kommen. Auch ein Angriff der italienischen Armee, allenfalls mit französischer Unterstützung, musste ins Auge gefasst werden. Das Thema sollte Generalstabschef Sprecher während des ganzen Krieges umtreiben. Von Seiten Österreich-Ungarns war dagegen keine Verletzung schweizerischen Territoriums zu befürchten, da von Sprecher mit dem österreichisch-ungarischen Generalstab in engem Kontakt stand und die Ausarbeitung eines Entwurfes für ein allfälliges gemeinsames Vorgehen bei einem Angriff Italiens auf die Schweiz ins Auge gefasst wurde.4 Ein Vorgehen Österreich-Ungarns alleine gegen die Schweiz machte unter diesen Voraussetzungen keinen Sinn.

Diese Annahmen bildeten die Grundlagen der schweizerischen Mobilmachungs- und Aufmarschplanung. Die schweizerische Milizarmee war nicht in der Lage, unmittelbar von den regionalen Mobilmachungsplätzen direkt in eine aus Varianten gewählte Kampfaufstellung zu marschieren. Die Armee musste sich zuerst als Ganzes in einem Grunddispositiv regiments-, brigade- und heereseinheitsweise versammeln. Erst dann war sie in der Lage, ohne Friktionen in ein Kampfdispositiv aufzumarschieren. Als die Schweizer Armee dann ab 3. August 1914 erstmals in ihrer Geschichte als Ganzes mobilisierte, marschierte sie in ein Dispositiv, das nicht der Oberbefehlshaber, General Wille, sondern Generalstabschef Sprecher ausgearbeitet hatte.5 Die Mobilmachungsaufstellung entsprach dabei den oben beschriebenen Annahmen einer Hauptbedrohung aus Norden und Westen. Die Bedrohung aus Süden wurde demgegenüber als weit geringer erachtet, entsprechend sicherten nur Deckungskräfte die Südschweiz. Grundsätzlich schränkte die Mobilmachungsaufstellung die weiteren Dispositionsmöglichkeiten des Oberbefehlshabers nicht ein.


Die Mobilmachungsaufstellung der Schweizer Armee bei Kriegsbeginn.

Die militärische Strategie der Schweiz ergab sich nun aus einer Anzahl politischer und militärischer Vorentscheide. Auf der Grundlage einer expliziten Neutralitätserklärung bei Kriegsbeginn verfolgte das Armeekommando erstens eine defensive Strategie, welche erst militärisch aktiviert werden sollte, wenn eine fremde Armee auf Schweizer Territorium eingefallen wäre beziehungsweise zugunsten eigener militärischer Zielsetzungen versucht hätte, ihren Hauptgegner über Schweizer Territorium anzugehen. Zweitens gedachte die Schweizer Armeeführung ab Grenze jedem Invasoren entgegenzutreten und diesen mit in Reserve gehaltenen Kräften so lange aufzuhalten, bis dessen Hauptgegner der Schweizer Armee zu Hilfe eilen und zusammen mit dieser den Eindringling zurückwerfen würde. Drittens beabsichtigte die Schweizer Armeeführung dieses strategisch defensive Ziel operativ und taktisch angriffsweise zu verfolgen, um den Gegner möglichst lange hinzuhalten, bis die «fremde Hilfe» eintreffen würde.6 Diese strategischen und operativen Grundlagen wurden nicht plakativ kommuniziert, waren aber in der reichen militärischen Zeitschriftenliteratur des langen 19. Jahrhunderts nachzulesen. Landesverteidigungspläne gab es seit den frühen 1890er-Jahren keine mehr. Der Oberbefehlshaber sollte grundsätzlich frei sein, ab Mobilmachungsdispositiv diese Grundsätze in eigenen Entschlüssen umzusetzen.7

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