Читать книгу: «Am Rande des Sturms: Das Schweizer Militär im Ersten Weltkrieg / En marche de la tempête : les forces armées suisse pendant la Première Guerre mondiale», страница 8

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Manifeste Lagebeurteilungen und operative Absichten 1914–1918

Wie gestalteten sich nun die Lagebeurteilung und der Aufmarsch-Entschluss der Armeeführung im August 1914?

Wie der Abbildung 2 zu entnehmen ist, befahl das Armeekommando dem Heer noch während des Marsches in die Mobilmachungsaufstellung eine Schwergewichtsbildung beziehungsweise einen Aufmarsch im Nordwesten der Schweiz.

Generalstabschef von Sprecher hat das im Aktivdienstbericht so umschrieben:

«Schon wenige Tage nach der Durchführung des ersten Aufmarsches veranlassten die im Oberelsass vor sich gehenden Kämpfe zwischen der nach Mülhausen vorgedrungenen französischen Gruppe und der deutschen 7. Armee (Erste Schlacht bei Mülhausen) das Armeekommando zu einer weiteren Bereitstellung mobiler starker Heeresteile im mittleren Aaretal, um zu raschen Operationen an irgend einem Teile der Jurafront bereit zu sein. Es wurden daher die 1. und die Masse der 6. Division herangezogen und unter dem Kommando des 2. Armeekorps eine neue Heeresgruppe bereitgestellt, während [deren ursprüngliche, d. Autor] Aufgabe dem neu aufgestellten Armeekorps-Kommando 3 überwiesen wurde.»8

Es wurden also – nach Sprecher – zwei starke Heeresgruppen gebildet: Das 1. Armeekorps hatte die Aufgabe, einen Gegner grenznah abzufangen und zu verzögern. Das 2. Armeekorps hatte die Aufgabe, wenn möglich zusammen mit dem Feind des Feindes den Eindringling zu stoppen und abzukämpfen und sich dabei an die Befestigungen Murten und Hauenstein anzulehnen. Dies war die operative Absicht. Das weit schwächere 3. Armeekorps hatte dagegen die Sicherung der Südgrenze vom Genfersee bis zum Piz Buin zu übernehmen. Diese Armeeaufstellung wurde insgesamt einen ganzen Monat aufrechterhalten. Ab 29. August 1914 begann sodann ein in der Gesamtstärke wechselnder Ablösungsturnus bis Ende des Aktivdienstes, wobei später gleichzeitig nie mehr als rund zwei bis drei Divisionen Dienst leisteten. Die Lagebeurteilungen im weiteren Zeitraum von 1914 bis1918 änderten nichts mehr an diesem Grunddispositiv, es wurden nur Retuschen und Anpassungen vorgenommen.9 Es gab also keine weitere Generalmobilmachung mehr, keinen grundsätzlich neuen Armeeaufmarsch und auch keine grundsätzlich neue operative Absicht.

Aber es war nicht so, dass die Armeeführung zwischen dem August 1914 und dem November 1918 sich nichts mehr ausdachte und nicht auf sich anbahnende neue Lagen reagierte und keine Eventualplanungen unternahm.


Der Armeeaufmarsch gemäss «Konzentrationsbefehl» vom 12. August 1914.

Lageentwicklungen und Eventualplanungen 1915–1918

Im Januar 1915 wurde die Kavallerie-Division des 1. Armeekorps aufgelöst und die Verbände entlassen. Auch die Stäbe der Armeekorps 1 und 2 wurden nach Hause geschickt. Offenbar erwartete das Armeekommando aus Westen keine unmittelbare Bedrohung. Diese Situation gab nun Anlass zu allerhand Gedankenspielen. Im Juli hielt Generalstabschef Sprecher nach dem Kriegseintritt Italiens und den «Erfolge[n] der Zentralmächte an der Ostfront in zwei bis drei Monaten eine Offensive an der West- und Südfront» für möglich.10 Hinsichtlich der Bedrohung im Süden sah er die «nationalen Begehrlichkeiten dieses skrupellosen Staates Italien» für besonders gefährlich an und schlug eine Kräfteverschiebung an die West- und Südgrenze vor, um eine allfällige Gebirgsfront gegenüber Italien auf alle Fälle halten zu können.11 Dabei supponierte er ein Engagement der Deutschen gegen Frankreich an der Westfront und einen Diversionsangriff der Franzosen über die Schweiz, weil, «wie die militärische Lage heute ist, wir sicher sein können, bei drohendem Angriff von Westen die Hilfe Deutschlands zu erhalten, die notwendig ist, um auf diesem unserem Hauptkriegsschauplatz nicht nur standzuhalten, sondern offensiv vorzugehen.»12

General Wille hielt dagegen von den Überlegungen, wie die Kräfte an den verschiedenen Fronten zu dosieren wären, nichts und hielt die Lage im September 1915 für beruhigt. Er liess die Befestigungsarbeiten im Tessin einstellen, so wie er bereits gegen Ende 1914 die Arbeiten bei Les Rangiers hatte einstellen lassen.

In diesen Kontext muss auch der eingangs erwähnte Säbelrassler-Brief gestellt werden. Wille hat ihn am 20. Juli 1915 verfasst, also in einer Zeit, als die Dinge militärisch für die Zentralmächte zu laufen schienen, die Alliierten aber bereits auf die Karte Wirtschaftskrieg gesetzt hatten und die Schweiz zwangen, ihre Importe und Exporte kontrollieren zu lassen. In einer Lagebeurteilung vom 30. Juli hielt der Generalstabschef im selben Sinne fest, dass ein Gang über Schweizer Territorium bei einer deutschen Westoffensive eigentlich nur Frankreich strategische Vorteile bieten könne, falls die Vermehrung der Truppenbestände bei der Entente weitergehe.13 Ein Zusammengehen mit den Deutschen wurde also nur nach einem Angriff Frankreichs in Erwägung gezogen. Ein Kriegseintritt an der Seite des Deutschen Reiches ohne vorherige Neutralitätsverletzung war in keiner Weise vorgesehen, und es gibt keinerlei Hinweise, dass auch nur minime Planungsarbeiten dazu in Angriff genommen wurden.

Im Januar 1916 machte sich Wille sodann im Vorfeld der deutschen Offensivplanungen für die Westfront, die zeitweilig einen Angriff entweder über Belfort oder Verdun vorsahen, folgende Gedanken zu einer möglichen Bedrohung der Schweiz: Das «auf allen Kriegsschauplätzen bis dahin überlegene Deutschland [bedürfe] eines starken siegreichen Schlages gegen Frankreich», also könne eher von dort eine Umgehung über die Schweiz angenommen werden. Er hielt jedoch treffend fest, dass weder Frankreich noch Deutschland die nötigen Kräfte hätten, um eine solche Diversionsaktion in Szene zu setzen.14 Gegen Ende des Jahres 1916 wurden die Truppenbestände weiter zurückgefahren. An der Nord-West-Front standen nur noch 11 Bataillone. Dies veranlasste Wille zur Aussage, dass wir «in unserer gegenwärtigen Verfassung vollständig wehrlos wären, selbst ohne strategischen Überfall». Nur eine erneute Gesamtmobilmachung könne dies ändern.15

Um die Jahreswende 1916/17 wurde in der Schweizer Presse die Möglichkeit von französischen und vor allem deutschen Operationen über Schweizer Territorium intensiv behandelt. In der Literatur wird angemerkt, dass es zu einer «eigentlichen Kriegspsychose» gekommen sein soll, die absichtlich von Frankreich geschürt wurde, um gegen Deutschland Stimmung zu machen.16 Bereits angelaufen waren im Nachgang zur Oberstenaffäre die schweizerisch-französischen Generalstabsgespräche beziehungsweise Eventualallianzabsprachen. In der ersten Jahreshälfte 1917 kam es im Zusammenhang mit der Entwicklung an der Dolomiten-Front auch zu intensiveren Gesprächen zwischen dem österreichisch-ungarischen und dem schweizerischen Generalstab, welche zu einem Geheimabkommen (19. Juni 1917) über eine mögliche Kooperation im Kriegsfall mit Italien führten. Nach einer italienischen Offensive gegen die Schweiz sollten österreichisch-ungarische Truppen zur Verstärkung der schweizerischen Truppen einmarschieren, um das schweizerische Territorium zu verteidigen.17

Von grösserem Interesse ist nun, wie Wille und von Sprecher nach mehr als zweieinhalb Kriegsjahren beziehungsweise nach der Erfahrung der grossen Materialschlachten von 1916 bei Verdun und an der Somme bei einem Einfall der französischen Armee oder des deutschen Heeres operativ vorgehen wollten. Also in etwa zeitgleich, als die Nivelle-Offensive am Chemin des Dames geplant wurde und die Deutschen sich auf das Abfangen dieses französischen Angriffs einstellten. Sprecher stützte sich bei seinen Überlegungen auf Studien und Konzepte des im Februar 1917 ernannten Unterstabschefs Emil Sonderegger. Dieser liess in seine Studien selektiv jene Beobachtungen einfliessen, die Schweizer Offiziere in ihren Berichten von den Schauplätzen des Weltkrieges bis anhin zusammengetragen hatten.18 Sondereggers operative Vorbereitungen gingen sodann von Verteidigungslinien und verzögernden Kämpfen ab Landesgrenze auf allen Einfallachsen aus. Zwei Verteidigungslinien wurden dabei ins Auge gefasst: Les Rangiers–Jolimont–Thun und Wasserberg–Hauenstein–Napf.19

Diese operativen Studien wurden im Laufe des Jahres unter anderem in einer operativen Übung für die Fälle West und Nord vertieft. Nachdem Russland im Herbst 1917 aus dem Krieg ausgeschieden war, sah Generalstabschef Sprecher «Frankreichs Hoffnung dahinschwinden» und mahnte erneut, «gut gerüstet bereitzustehen»:

«Nach den Erfahrungen dieses Jahres darf eine solche Stellung nicht nur linear sein, sondern sie muss eine gewisse Tiefe haben und es müssen die aufeinander folgenden Linien durch seitliche Verriegelungen verstärkt und durch bombensichere Unterstände ergänzt werden. Es sollte deshalb zum mindesten das vollständige Gerippe der Stellungen, deren Tracé auf der ganzen Front durch Pikettierung und Vorgraben festgelegt und das Material an Ort und Stelle geschafft werden, damit nötigenfalls die Truppe, bei plötzlichem Aufgebote, sofort mit dem Ausbau beginnen könnte.»20

Die Kredite für das Material seien zum Teil bereits gewährt; wenn der Bundesrat die Ergänzungskredite bei Bedarf nicht sprechen würde, sei die Armeeleitung aus der Verantwortung, so von Sprecher. Wille stand dem allem grundsätzlich ablehnend gegenüber. Er hielt eisern an seinen längst vor dem Weltkrieg formulierten Grundsätzen fest: Er wolle keine bindenden Planungsvarianten und zusammen mit dem Feind des Feindes über den Aufmarsch situativ befinden: «Wo wir uns sammeln, das hängt davon ab, wann unser Alliierter über den Rhein kommen kann; ob wir uns sammeln […] das kann durch spätere Besprechungen geklärt werden; auch dafür ist das Planen und Handeln unseres grossen Alliierten bestimmend.»21 Dieser grosse Alliierte kam über den Rhein, wohlgemerkt. Wille wollte dem Gegner in der konzentrierten Feldschlacht begegnen, auch weil er den Grabenkrieg für die grösstenteils aus der Beurlaubung kommende Milizarmee für ungeeignet hielt: «Die Entscheidung muss in der offenen Feldschlacht des Bewegungskrieges gesucht werden, alle Faktoren für den Grabenkrieg, in dem unsere Gegner sich jetzt 2½ Jahre eingeübt haben, fehlen uns, oder sind wenigstens bei uns sehr unvollkommen und unfertig vorhanden.»22


Operative Studien des Unterstabschefs Emil Sonderegger aus dem Jahr 1917.

Hans Rudolf Fuhrer spricht treffend davon, dass «die grundsätzlich polaren Positionen in der Befestigungsfrage, der Kampfweise und der Unplanbarkeit des Krieges» zwischen Wille und von Sprecher wieder bezogen waren.23

Dass die Schweiz nicht über längere Zeit einen Graben- und Abnützungskrieg führen konnte, darin lag Wille sicher richtig. Das industrielle Potenzial dazu fehlte völlig, es war ja nicht einmal für die grosse Feldschlacht genügend Munition vorhanden.24

Für Wille war es aber auch nicht begreifbar, dass Kriege durch industrielle Potenziale entschieden werden konnten. Sein ceterum censeo war «Erziehung und Ausbildung», wann immer er Bauarbeiten einstellen liess. So wie er der Aussage Bundesrat Schultheissens im August 1914, Deutschland werde den Krieg an der Wirtschaftsfront verlieren, mit Vehemenz entgegentrat, rechnete er den Deutschen in seinen Kriegslehren von 1924 vor, sie hätten es an der Marne so machen müssen wie 1870 und mehr «Manneswesen» zeigen müssen.25 Er glaubte daran, dass die besser erzogenen und besser geführten Soldaten den Krieg gewinnen werden, so wie die Deutschen 1914 und 1939 daran glaubten, die besseren Soldaten und Offiziere würden den Krieg gewinnen.

Nach 1917 ergab sich keine Lageentwicklung mehr, welche Umdispositionen der nur noch schwach mobilisierten Armee erfordert hätten und die operativen Absichten beziehungsweise Positionen nochmals grundlegend in Frage gestellt hätten. Daran änderten auch die 1918 auf Divisionsstufe durchgeführten Experimente mit Sturmabteilungen und die Konterrevolutionsplanungen des Unterstabschefs de Perrot nichts.26

Ein grundlegender Konsens wirkte jedoch bis im Juni 1940 nach: Die Schweizer Armee ist auf einen Allianzpartner angewiesen, wenn sie gegen einen ernsthaften Gegner bestehen will.

Anmerkungen

1 Wille, Ulrich: Bericht an die Bundesversammlung über den Aktivdienst 1914/18, Zürich 1919.

2 Siehe dazu: Rapold, Hans: Der Schweizerische Generalstab. Zeit der Bewährung? Die Epoche um den Ersten Weltkrieg 1907–1924, Volume V, Basel 1988; Fuhrer, Hans Rudolf: Die Schweizer Armee im Ersten Weltkrieg. Bedrohung, Landesverteidigung und Landesbefestigung, Zürich 1999; Sprecher, Daniel: Generalstabschef Theophil Sprecher von Bernegg, Zürich 2000.

3 Kurz, Hans Rudolf: Dokumente der Grenzbesetzung 1914–1918, Frauenfeld 1970, S. 108.

4 Fuhrer, Hans Rudolf: «Geheime Anschläge der Habsburger gegen die schweizerische Neutralität», in: Kriechbaumer, Robert; Mueller; Wolfgang; Schmidl, Erwin A. (Hg.): Politik und Militär im 19. und 20. Jahrhundert. Österreichische und europäische Aspekte. Festschrift für Manfried Rauchensteiner, Wien 2017, S. 89.

5 Rapold, Generalstab, S. 227.

6 Rapold, Generalstab, S. 163, S. 180, S. 227.

7 Rapold, Generalstab, S. 227; ders.: Strategische Probleme der schweizerischen Landesverteidigung im 19. Jahrhundert, Frauenfeld 1951, S. 156.

8 Wille, Bericht, S. 145.

9 Fuhrer, Schweizer Armee, S. 331–339.

10 Rapold, Generalstab, S. 216.

11 Zit. nach Rapold, Generalstab, S. 216.

12 Zit. nach ebd., S. 217

13 Ebd.

14 Zit. nach ebd.

15 Zit. nach ebd., S. 218.

16 Ebd., S. 179.

17 Fuhrer, Anschläge, S. 89.

18 Fuhrer, Armee, S. 251.

19 Ebd., S. 251 ff.

20 Zit. nach ebd., S. 264.

21 Zit. nach ebd., S. 253.

22 Zit. nach ebd.

23 Ebd.

24 Wille, Bericht, S. 257–275.

25 Wille, Ulrich: «Kriegslehren», in: Gesammelte Schriften, Zürich 1914, S. 587.

26 Olsansky, Michael: Die Sturmabteilung Mariastein 1918, Ms. GMS-Dokumentation Reise 25–2016, 28. Oktober 2016; Jaun, Rudolf; Straumann, Tobias: «Durch fortschreitende Verelendung zum Generalstreik? Widersprüche eines populären Narrativs», Der Geschichtsfreund 169 (2016), S. 36.

Hans Rudolf Fuhrer
«Geheime Anschläge der Habsburger gegen
die schweizerische Neutralität»1
Die «Affäre Sprecher» von 1921

Die sozialistische Berner Tagwacht zündete im März 1921 unter dem Titel «Geheime Anschläge der Habsburger gegen die schweizerische Neutralität» eine politische Bombe. Der Chefredaktor, Nationalrat Robert Grimm, stellte seiner Leserschaft ein brisantes österreichisches Geheimdokument vor. Es handelte sich um einen Rapport des Chefs des Evidenzbureaus des k. u. k. Generalstabs Oberst Eugen Hordliczka an Feldmarschallleutnant Franz Conrad von Hötzendorf vom 25. Juli 1907. Hordliczka berichtete darin von einer Unterredung mit dem Chef der schweizerischen Generalstabsabteilung, Oberstdivisionär Theophil Sprecher von Bernegg, vom 15. Juli 1907.2 Für Conrad war es im Sommer 1907 wichtig gewesen, für seine Präventivkriegsgedanken gegen Italien Klarheit über die Haltung der Eidgenossenschaft zu gewinnen. Anknüpfungspunkt im Gespräch war die angenommene Übereinstimmung der Interessen der Schweiz und Österreichs den italienischen Irredenta-Phantasien gegenüber: Eine italienische Offensive ins Südtirol hätte auch das Tessin und Graubünden in Mitleidenschaft ziehen können. Sprecher hatte demnach dem österreichischen Gesprächspartner erwidert, er habe dieses Szenario auch schon durchdacht, würde in diesem Fall dem Bundesrat sofort die Mobilisierung der gesamten Armee beantragen, und die folgenden drei Punkte dazu präzisiert:

• Im Falle einer Verletzung schweizerischen Territoriums durch das italienische Heer werde die Schweizer Armee an der Seite der Österreicher an einer Gegenoffensive teilnehmen;

• für den deutsch-französischen Kriegsfall habe er ein analoges Abkommen mit Deutschland getroffen, «jedoch mit der ergänzenden Bestimmung, dass im Falle eines gleichzeitigen Krieges Frankreichs und Italiens gegen Deutschland und Österreich das Gros der schweizerischen Armee an der französischen Grenze aufmarschieren und die italienische Grenze bloss bewacht werden wird»;3

• er wünsche einen Nachrichtenaustausch für eine rechtzeitige Mobilisierung des schweizerischen Milizheeres.

Gemäss dem Tagwacht-Artikel vereinbarten Sprecher und Hordliczka, dass der Schweizer Generalstabschef einen Entwurf eines Übereinkommens aufsetzen und über alles strikte Geheimhaltung gewahrt werden solle. Sichtbare Folge des Gesprächs war die Schaffung eines österreichisch-ungarischen Militärattachépostens in Bern. Ein Entwurf eines entsprechenden Bündnisvertrages konnte bisher nicht gefunden werden, jedoch das Exemplar, das mit dem deutschen Generalstabschef Helmuth von Moltke ausgetauscht wurde.4

Grimm kommentierte all dies empört: «Ein Schweizer Offizier hat sich also vermessen, die uralte, von allen Völkern hochgehaltene Neutralität der Eidgenossenschaft in frivoler Weise zugunsten der imperialistischen Angriffspläne des habsburgischen Österreichs aufs Spiel zu setzen.» Er doppelte am 23. März nach, selbst die Beidseitigkeit der Absprachen des verantwortungslosen «Militärgötzen» sei ein «Spiel mit dem Feuer» gewesen. Diese Anschuldigungen kommentierte Sprecher in der Folge nicht öffentlich, aber in zwei Briefen legte er dem Bundesrat seine Sicht der Dinge dar.5 Er betonte, die beiden zuständigen Bundesräte hätten ihm zu solchen Vorgesprächen grünes Licht gegeben. Es sei ausschliesslich der Angriffsfall, das heisst die schwerwiegende Verletzung der schweizerischen Neutralität durch einen Aggressor, als Grundlage angenommen worden. Ein Bündnis sei nie unterzeichnet worden. Es sei ihm nur um Zeitgewinn gegangen. Die gleiche Leitlinie habe er während des Krieges strikte mit beiden Kriegsparteien verfolgt. Er unterstrich, er habe nur mit Vertretern jener Kriegsparteien gesprochen, die aktiv um eine Unterredung angefragt hätten. Der Nachrichtenaustausch habe der Schweiz gedient. Er sei sich des neutralitätspolitischen Risikos bewusst gewesen, habe es aber auf sich genommen, da er das Ganze als im Interesse der Schweiz befunden habe. In seiner Stellungnahme unterstützte der Bundesrat sodann die Handlungsweise Sprechers ohne Abstriche.6 Damit legte sich der sozialistische «Shitstorm».

Es geht nun im Folgenden darum, den Sachverhalt der schweizerischösterreichischen Vorkriegsunterredungen kritisch zu beleuchten. Weiter soll untersucht werden, wie die Schweizer Armeespitze während des Ersten Weltkrieges die Bedrohungslage an der Süd- und Südostgrenze einschätzte. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der innenpolitischen Krise des Jahres 1916 werden schliesslich die Kontakte der Schweizer Generalstabsabteilung mit dem k. u. k. Armeeoberkommando ab Kriegsmitte dargestellt und gewertet.

Zur «Bedrohung Süd»: Das Memorial Sprechers von 1906

Der 1905 zum Chef der Generalstabsabteilung ernannte Sprecher berichtete erstmals vor dem Hintergrund der Ersten Marokkokrise am 15. Februar 1906 der Landesverteidigungskommission von seinen operativen Überlegungen hinsichtlich eines künftigen Krieges.7 Während er vom Deutschen Reich oder von Österreich-Ungarn keinerlei Bedrohung erwartete, wollte er eine solche durch Frankreich nicht ausschliessen, insbesondere dann nicht, wenn im Krieg gegen das Deutsche Reich eine feste Front zwischen Schweizer Grenze und Nordsee entstanden sei. Italiens irredentistische Begierde zur «Befreiung» Südtirols, Istriens und der Südschweiz könnte dann konkret werden, wenn Österreich auf dem Balkan oder im Osten Schwäche zeige. Für den Fall eines italienischen Angriffs auf die Schweiz könne man mit österreichischer Hilfe rechnen. Viel eher sei jedoch davon auszugehen, dass «Italien mit Österreich ficht, um nachher mit uns abzurechnen».8 Der wahrscheinlichste Fall sei wiederum ein Krieg Deutschlands gegen Frankreich und Österreichs gegen Italien ohne Bedrohung der Schweiz; der gefährlichste Fall schliesslich ein Angriff Frankreichs und Italiens zugleich. Diese Bedrohungsanalyse rate der Schweizer Armeeführung in einem kommenden Krieg zur Konzentration ihrer Hauptkräfte im Westen und zur Belassung von schwächeren Kräften im Süden sowie zur Ausarbeitung von Transportplänen zur raschen Verlegung von Truppen von einer Front zur anderen. Zum Schluss seines Memorials schnitt Sprecher den neutralitätspolitisch heiklen Punkt der fremden Hilfe an. Eine Allianz mit dem Angreifer, die sein Vorgänger Arnold Keller noch als eventuell klüger beurteilt hatte, verwarf Sprecher kompromisslos. Er bezeichnete ein Bündnis mit dem Hauptgegner des Invasors als Gebot der Stunde, «als Torheit, das nicht zu tun».9 Für den Verteidigungsfall entwarf Sprecher einen Bündnisvertrag, den er wie schon Keller «Punktationen» nannte.10 Das Memorial von 1906 wurde schliesslich dem Chef des Militärdepartementes, Bundesrat Éduard Müller, und dem damaligen Bundespräsidenten, Bundesrat Ludwig Forrer, unterbreitet, welche es in allen Teilen guthiessen.11

Was also die Vorkriegsunterredungen zwischen dem Schweizer Generalstabschef und dem Chef des Evidenzbureaus des k. u. k. Generalstabs anbelangt, kann festgehalten werden, dass Sprecher gegenüber Hordliczka die Gedanken seines der Landesregierung bekannten Memorials vertrat und Letzterer korrekt berichtete. Die Offenheit entsprach der Haltung des überzeugten Herrnhuters zu einem ehrlichen Allianzpartner, und der Kontakt hatte das «grüne Licht» des Bundesrates.

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