Читать книгу: «Am Rande des Sturms: Das Schweizer Militär im Ersten Weltkrieg / En marche de la tempête : les forces armées suisse pendant la Première Guerre mondiale», страница 6

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II.

In einer Rückblende auf die Vorkriegsjahre wird im Folgenden aufgezeigt, wie die wirtschaftliche Problemdiagnose der Schweiz unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg aussah und welche Erkenntnisse, welches Wissen um die Verflechtungen der Schweiz damals vorhanden waren. Generell ist festzustellen, dass der Begriff der «Landesverteidigung» damals zwar verwendet wurde, jedoch weit hinter jenen der «Kriegsbereitschaft» und der «Vorbereitung auf den Kriegsfall» zurücktrat. Das hing auch damit zusammen, dass die damaligen Autoren den Status der «bewaffneten Neutralität» als nur eine und möglicherweise rasch unhaltbar werdende Option betrachteten.

Der Eindruck, dass die Schweiz sich unter finanziell-wirtschaftlichen Aspekten erst relativ spät auf eine Kriegseventualität vorbereite, fand in den Jahren vor 1914 weithin Zustimmung. 1910 publizierte der Ökonom Julius Frey (der ein Jahr darauf Präsident der Schweizerischen Kreditanstalt wurde und dieses Amt bis 1925 innehatte) in Raschers Jahrbuch einen Aufsatz zur «finanziellen Kriegsbereitschaft der Schweiz», worin er einleitend den Staatsmann Raimondo Graf Montecuccoli zitierte («Zum Kriegsführen braucht es vor allem drei Sachen: in erster Linie Geld, in zweiter Linie Geld und in dritter Linie Geld.») und dann auf die reichhaltige Literatur zu diesem Thema in Deutschland hinwies. Für die Schweiz stellte er ein völliges Fehlen einschlägiger Analysen fest; es sei ihm nicht bekannt, dass das Thema in der Schweiz «schon einmal öffentlich besprochen worden wäre».21 Frey situiert die Aufgabe der Kriegsfinanzierung in einem sehr engen Rahmen. So wird die Erhöhung der Steuereinnahmen erst auf der letzten Seite angesprochen, dies mit der doppelten Feststellung, dass «die Kriegsausgaben des Staates schliesslich entweder durch Steuern aufgebracht oder in einem Anleihen konsolidiert werden müssen» und dass gleichzeitig «bei unseren schweizerischen Verhältnissen, wo die Eidgenossenschaft aller direkten Steuern entbehrt» eine «Deckung durch Steuern […] immer nur zu einem kleineren Teil möglich sein» würde.22 Von der militärischen Zielsetzung her war Frey hingegen offen. Er wollte «die finanzielle Seite der Kriegsvorbereitung und Kriegführung nicht etwa bloss für den Fall einer sogenannten Grenzbesetzung ohne eigentliche kriegerische Verwicklung unseres Landes selbst […] beleuchten, sondern vielmehr für die Eventualität, dass wir selbst zur Wahrung unserer Unabhängigkeit das Schwert ziehen müssen». Denn «mit gutem Grund» sind «ja unsere militärischen Kriegsvorbereitungen […] durchaus auf diesen letztern Fall zugeschnitten!»23 Frey fokussierte fast vollständig auf die Notwendigkeit, bei einem Kriegsausbruch und einer Generalmobilmachung der Schweizer Armee rasch beträchtliche Finanzmittel aufbringen zu müssen – es ging ihm primär um die «ersten Tage» und als Eventualität um «mehrere Wochen».24

Zwei Jahre darauf legte der Ökonom und damalige Generalsekretär der 1907 gegründeten Schweizerischen Nationalbank, Adolf Jöhr, eine Schrift zur «Volkswirtschaft der Schweiz im Kriegsfall» vor, die umfassender angelegt war und worin er einleitend schrieb: «Die Vorsorge für den Fall eines Krieges ist in einem Land von der verkehrsgeographischen, volkswirtschaftlichen und politischen Lage der Schweiz eine Angelegenheit von so hohem Ernste, dass sie ebenso sehr die Aufmerksamkeit aller Behörden, aller Leiter von industriellen Unternehmen, Banken und Handelshäusern verdient, wie die der militärischen Kreise; sie neuerdings und nachhaltig auf diese Fragen zu lenken, ist der wichtigste Zweck meiner Arbeit.»25 Jöhr strebte Wissenstransfers zwischen Wirtschaft, Politik und Militär an und versuchte, die nationale Elite für äussere Abhängigkeiten zu sensibilisieren.

Jöhr unterscheidet drei «Kriegseventualitäten»: erstens einen Krieg zwischen zwei Ländern, die nicht beide an die Schweiz grenzen; ein solcher wäre ohne direkten Belang; zweitens – und am wahrscheinlichsten – ein Krieg «mit allen vier Grenzländern», der die Schweiz «aufs tiefste in Mitleidenschaft» ziehen würde. Denn wirtschaftlich würde sie «nahezu das Schicksal derjenigen Gebiete ihrer Nachbarmächte teilen, die nicht direkt vom Krieg heimgesucht werden». Drittens dann eine direkte Involvierung der Schweiz in die Kriegshandlungen – in einem solchen Falle hörte aber, so der Autor, «jedes Prophezeien auf».26

Jöhrs Empfehlungen und Beobachtungen fokussieren auf drei grundlegende Punkte: erstens die materielle und finanzielle Kriegsvorbereitung der Eidgenossenschaft. Dem Geld- und Bankwesen stellte er, abgesehen von der nach wie vor bestehenden Abhängigkeit von Frankreich bei der Silberzufuhr, insgesamt gute Noten aus. Im Unterschied zu 1870/71 – er betrachtete den deutsch-französischen Krieg generell als Referenzereignis – sei die Schweiz, insbesondere seit der Gründung der SNB mit ihrem «elastischen Notenausgaberecht» und aufgrund soliderer Bundesfinanzen, vorteilhaft gewappnet. Jöhr sah allerdings in der Landesversorgung, speziell beim Brotgetreideimport sowie der Vorratshaltung, Schwachpunkte und forderte prospektive Vorkehrungen. Auch bei kurzer Kriegsdauer würden «viele Familien […] hilfsbedürftig» werden. Es müssten Massnahmen wie Notunterstützung und, in extremis, Volksküchen vorbereitet werden. Gegen die Teuerung bei unentbehrlichen Gütern seien Ausfuhrverbote zu verhängen.27

Zweitens ging er von der Prämisse der «Neutralitätsbehauptung» aus. Das heisst, er nahm an, dass es der Schweiz gelingen könne und müsse, die «Kriegseventualität zwei» durchzuziehen, sich aus den Kriegshandlungen herauszuhalten. Die Zuversicht schöpfte er aus dem generellen Do ut des der Aussenwirtschaftsbeziehungen, aus der Flexibilität der Handelsverträge, aus der Bedeutung der Eisenbahnverbindungen und Alpentransversalen sowie aus den Möglichkeiten, unter erschwerten Bedingungen die Landesversorgung via Nachbarländer und auf dem Weltmarkt generell sicherzustellen. Jöhrs Vertrauen in die Fähigkeit des von Kriegführenden umgebenen kleinen Staates, sich nützlich, ja unverzichtbar zu machen und sich agil zu arrangieren, war allerdings nicht grenzenlos. So zog er, drittens, einen in den Zustand völliger Ungewissheit hineinführenden militärischen Angriff auf die Schweiz in Betracht und führte, als «Schlussbemerkung» zu den Ergebnissen seiner Studie, an: «Alle finanzielle und wirtschaftliche Vorsorge wäre vergebens, wenn das Heer versagen würde.»28

Im Nachhinein – und die Geschichtswissenschaft ist gleichsam dazu verdammt, mit dieser Möglichkeit der Rückschau produktiv umzugehen – fällt auf, dass Jöhr sich wenig mit der Frage der Kriegsdauer befasst. Er schildert eher ein Dispositiv als einen Plan. Die von so unterschiedlichen Köpfen wie Friedrich Engels 1887 und Helmuth von Moltke 1890 erstellten Prognosen, es würde, wenn der Frieden misslinge, ein viele Jahre andauernder, bis zur brutalen Erschöpfung geführter Krieg mit bis zu 10 Millionen toten Soldaten in Aussicht stehen, tauchen in seinem Problemhorizont nicht auf. Ebenso wenig teilt er den Optimismus eines Johann von Bloch oder eines Norman Angell, die beide – der eine 1898, der andere 1910 – in materialreichen Studien die Unmöglichkeit eines Krieges angesichts einer forcierten Globalisierung nachzuweisen versuchten.29 Jöhr blieb skeptisch, doch er glaubte, die Schweiz könne ihre vielfältigen Verbindungen nutzen und sie für die Neutralitätssicherung instrumentalisieren. Dabei ging er auch von der – nach 1914 rasch falsifizierten – Vorstellung aus, dass die Weltmeere gerade angesichts moderner Waffentechnik nach einer kurzen Umbruchphase rasch wieder sicher sein würden, weil sich zwangsläufig die eine oder andere Seite durchsetzen müsse.

Dass Abhängigkeiten gleichzeitig Aktivposten in den wirtschaftlichen Aussenbeziehungen eines Landes darstellen, wurde 1913 noch pointierter als bei Jöhr durch den Wirtschaftshistoriker und Sekretär der Basler Handelskammer, Traugott Geering, geäussert. In einer Analyse der «Exportstruktur der schweizerischen Volkswirtschaft» schilderte dieser die Schweiz als pionierhaften modernen Industriestaat mit «gewaltiger Exportleistung». Seine Aussenwirtschaft ermögliche es dem Land, «das Erwerbsleben […] weit über das Mass der natürlich gegebenen Produktionsbedingungen […] hinaus» zu erweitern und «für Hunderttausende Arbeit und Erwerb im Lande» zu schaffen, «die sonst keinen Platz bei uns hätten». So hat zum Beispiel die Uhrenindustrie – gemessen am kleinen Landesbedarf – «eine fünfzigmal grössere Produktion für den Weltmarkt aufgebaut».30 Geering sah in solchen wirtschaftlichen Verflechtungen eine «innere Notwendigkeit für jedes halbwegs zivilisierte Volk»; in «einem so kleinen Kulturstaate wie die Schweiz» wären sie «am allerwenigsten zu vermeiden».31 Mit seiner «kräftigen, schöpferischen industriellen Initiative» erschliesse sich das Land «das unendliche Wirkungsfeld des Weltmarktes».32 Tatsächlich werde die Schweiz «durch die […] enge Verkettung mit dem Weltmarkt vom Ausland abhängig». Dieser Sachverhalt sei jedoch auch eine Stärke, denn «mit diesen Exporten machen wir […] das Ausland unserer Volkswirtschaft in dem denkbar stärksten Masse tributär».33 Die «Unentbehrlichkeit unserer Exportproduktion für das Ausland» ermögliche es der Schweiz im Gegenzug, «das Brotkorn in der Hauptsache» zu importieren.34 Aufgrund dieses «industriellen Machtbestandes» dürfe das Land optimistisch in die Zukunft blicken.

Geering formuliert hier ein Jahr vor Kriegsausbruch die These einer fundamentalen Reziprozität von Abhängigkeit und Attraktivität, von Verwundbarkeit und Einflussnahme. Er brachte jene Faktoren ins Spiel, die es den Akteuren der schweizerischen Volkswirtschaft auch im Zustand der «bewaffneten Neutralität» ermöglichen können, überraschende Chancen wahrzunehmen. Wie vor ihm schon Adolf Jöhr thematisierte er indirekt die Ambivalenz eines wirtschaftlichen Sich-nützlich-Machens der Schweiz. Dieses setzte Verflechtungen in alle Richtungen voraus; mit Autarkiemaximen kann man anderen wenig bieten. Eine offene und leistungsfähige Volkswirtschaft hingegen erhöht nicht nur das Erpressungspotenzial, sondern kann die staatliche Souveränitätsbehauptung sowie nationale Existenzsicherung unterstützen. Das mag kostspielig sein – dieselbe Konstellation bietet aber ebenso Chancen auf Kriegsgewinne und für ein neutrales Profitieren.

Eine solche Problemstellung führt zur Frage, inwieweit die militärischen, politischen und wirtschaftlichen Verantwortlichen solche zentralen Einsichten rezipierten. Und sie regt zur Überlegung an, inwieweit diese komplexe Problematik in der schweizerischen Öffentlichkeit wahrgenommen und diskutiert wurde.

III.

Welche Konsequenzen wurden in der Schweiz vor und bei Kriegsausbruch aus den vorgestellten Analysen gezogen? Der Historiker Heinz Ochsenbein hielt bereits 1971 in seiner Studie «Die verlorene Wirtschaftsfreiheit» fest: «Weder der Bundesrat noch der Generalstab hat in seiner Lagebeurteilung die Erkenntnis vorweggenommen, dass die Schweiz […] durch eine Wirtschaftsblockade am lebenswichtigen wirtschaftlichen Nerv getroffen werden könnte, dass im 20. Jahrhundert die Handelspolitik immer mehr zur Aussenpolitik werden würde und die Schweiz gerade dank ihrer wirtschaftlichen Verflechtung mit allen wichtigen Ländern einige Überlebenschancen hätte.»35 Ochsenbein konstatiert bei der militärischen und zunächst auch bei der politischen Führung eine eklatante Unfähigkeit, die Zusammenhänge zwischen souveränem Staat und funktionsfähiger Wirtschaft angemessen zu reflektieren. Er attestiert zum Beispiel Bundesrat Giuseppe Motta einen grotesken «Dilettantismus» und spricht insgesamt von einer «erstaunlichen Sorglosigkeit».36 Aus transnationaler Perspektive lässt sich unschwer zeigen, dass es sich hier keineswegs um eine schweizerische Spezialität handelt. So konstatierte der 1919 in die Schweiz eingewanderte österreichische Ökonom und Bankier Felix Somary einen «ökonomischen Analphabetismus» in vielen Ländern; dieser ist allerdings in der vergleichsweise kompakten und eng vernetzten schweizerischen Elite besonders erklärungsbedürftig.37

Die Neigung, Probleme der Versorgungssicherheit in einen sehr kurzfristigen Zeithorizont zu stellen, war omnipräsent. 1912 lenkten die Spannungen auf dem Balkan und der dort im Herbst ausbrechende Krieg auch in Regierung und Parlament einige Aufmerksamkeit auf diese Fragen. Am 19. Juni 1912 reichten der katholisch-konservative Nationalrat Josef-Anton Balmer (Luzern) und Mitunterzeichner eine Motion ein, welche das Problem der Abhängigkeit von Getreideimporten über den Rhein aufwarf, dies mit einem Schwerpunkt auf dem Sachverhalt, dass auf dieser Route in Mannheim, Strassburg und Kehl «weit grössere Posten schweizerischen Getreides auf Lager gelegt sind, als in unsern sämtlichen schweizerischen Lagerhäusern zusammen». Diese Lager wären «im Falle eines Krieges des Dreibundes […] wohl für uns verloren.»38

Ende Oktober befasste sich dann die Landesregierung auf Antrag des Schweizerischen Militärdepartements (SMD), das einen «ganz konfidenziellen» Bericht unterbreitete, mit der «Brotversorgung der Schweiz», und zwar mit Bezug auf die grundsätzlichen Optionen der Schweiz in einem künftigen Krieg. Man dürfe, so das SMD, «zwar auch hier nicht allzu schwarz sehen» und müsse sich vor allem «klar machen, dass eine völlige Einkreisung der Schweiz durch Abschneidung aller Getreidefuhren zwar wohl für eine gewisse Übergangszeit möglich ist, dagegen nicht auf eine längere Dauer vorauszusehen ist». Die politische Lage werde es «naturgemäss mit sich bringen, dass nach relativ kurzer Zeit seit dem Ausbruch von Feindseligkeiten eine Annäherung der Schweiz nach irgend einer Seite eintritt». Denn «eine Schweiz im Kampfe gegen alle vier Grenzmächte ist undenkbar und eine Schweiz als dauernd unbeteiligte und neutrale Insel inmitten der Brandung des europäischen Krieges im höchsten Grade unwahrscheinlich. Hat aber einmal nach irgendeiner Seite eine Annäherung stattgefunden, so hört dort die Getreidesperre auf. Praktisch kann es sich also nur darum handeln, dass wir für eine gewisse Übergangszeit vorgesorgt seien.»39 Der Bundesrat folgte diesem Bericht und beschloss einige Massnahmen, welche die Situation nicht effektiv veränderten.40


Vom Rohstoffimport abhängig: die Verarbeitung von Aluminiumblech zugunsten der Armee in der Eidgenössischen Konstruktionswerkstätte in Thun (Bild: BAR, wikimedia).

Die fatalistische Meinung, die Schweiz müsse sich nach einer «gewissen Übergangszeit» sowieso einer kriegführenden Mächteallianz anschliessen, entlastete die Behörden und auch interessierte Wirtschaftskreise von einervertieften Auseinandersetzung mit dem Problem. So fällt die Bilanz der Vorbereitungen, bezogen auf das dreistufige Raster, das Jöhr vorgeschlagen hatte, schlecht aus. Was seinen ersten Punkt betrifft, so war die Vorratshaltung auf allen Ebenen krass unterdotiert. Weit wichtiger war aber die Tatsache, dass die Möglichkeiten der Schweiz, sich mit einer aussenwirtschaftlichen Mischung aus Opportunismus, Nützlichkeit und attraktiven Angeboten einen Anpassungsspielraum zu sichern, das heisst auch jenen «Machtbestand» auszuspielen, auf den Geering hingewiesen hatte, auf der militärischen Führungsebene kaum erkannt wurden. Bundesrat, Administration und Diplomatie machten sich zwar daran, die nach 1914 völkerrechtlich fluide gewordene Neutralitätsmaxime unter erschwerten Bedingungen neu auszuhandeln und die Nicht-Kriegsbeteiligung der Schweiz zu einem nationalen Geschäftsmodell auszubauen. Dies geschah allerdings in einer wenig systematischen Weise. Vielmehr schoss mit der anziehenden Kriegskonjunktur ein Wildwuchs privater Initiativen ins Kraut, der vielfach sowohl mit schweizerischen Gesetzesbestimmungen wie mit den Kontrollmassnahmen der Kriegführenden in Widerstreit geriet, so dass die aussenwirtschaftlichen Überwachungsapparate der Alliierten und wenig später der Mittelmächte mithin das Resultat mangelnder Selbstkontrolle und Koordination in der Schweiz selber waren.

Die führenden Militärs befassten sich kaum mit diesem Problem, obwohl es aufgrund des rasch aufblühenden Waffenexports auch für die schweizerische Rüstungsbeschaffung von einiger Relevanz war. Viele dachten in obsoleten Kategorien und hielten daran fest, je länger der Krieg dauere, desto weniger sei es möglich, den Zustand der bewaffneten Neutralität aufrechtzuerhalten. Das demonstrative Desinteresse am Wirtschaftlichen erklärte sich aus dem Hang General Willes, ein rechnerisches Kalkül mit genau jener «Krämerseele» und «Händlermentalität» gleichzusetzen, die er im Namen eines heldenhaften Heroismus, den er in Deutschland verkörpert fand, verachtete.41

Entsprechend inkonsistent war seine Meinung zu einem Kriegseintritt der Schweiz. Er hielt eine militärische Kriegsbeteiligung – seiner Meinung nach klar auf Seiten der Mittelmächte – für unvermeidlich. Dies zu einem Zeitpunkt, als die wichtigsten Wirtschaftszweige und auch die Regierung die «Übergangszeit» ganz anders zu interpretieren begonnen hatten, als dies anfänglich der Fall war. Der erwartete Zugzwang zu einem Kriegsbeitritt hatten sich mitnichten eingestellt. Und je länger das militärische Kräftemessen auf den Schlachtfeldern dauerte, desto mehr einigten sich massgebliche Politiker und Wirtschaftsexponenten auf die Devise eines flexiblen Durchhaltens und Sich-Anpassens. So fand Wille mit seinen Eintrittsparolen immer weniger Widerhall. Dennoch blieb er bei seiner Meinung eines unbesiegbaren Deutschland. Dabei dachte er in grossen Zusammenhängen und eminent politisch: Er plädierte für einen Kriegseintritt, um der Schweiz bei Kriegsende, wenn die Karten neu verteilt werden würden, eine optimale Ausgangsposition zu verschaffen. So waren für ihn Kriegsbeteiligung und nationale Unabhängigkeit überhaupt keine Gegensätze. Er schrieb im zitierten «Säbelrasselbrief», dass er, «wenn die Erhaltung unserer Selbständigkeit und Unabhängigkeit dies erfordert, den gegenwärtigen Moment für das Eintreten in den Krieg als vorteilhaft erachte». Dass Wille 1915 in dichter Aufeinanderfolge forderte, die Schweiz solle «neutral bleiben und verhindern, in den Krieg mit hineingezogen zu werden» und gleichzeitig daran festhielt, «wir» würden, «ob wir wollen oder nicht, in den allgemeinen Krieg hineingezogen werden», ist nicht Ausdruck von Wankelmütigkeit, sondern darin äussern sich situative Stellungnahmen bei anhaltender Konstanz des Gesamtbildes.

Ab 1917 führten aussenwirtschaftlicher Sachverstand und pragmatischer Opportunismus dazu, dass sich die Schweiz zum Entsetzen der diplomatischen Vertreter Deutschlands mittels der «American Mission» mit atemberaubendem Tempo auf die Seite der USA und etwas später zudem ins Völkerbundlager schlug.42 Die ab Sommer 1918 eintreffenden Getreidelieferungen aus den USA entspannten – anfänglich vor allem im Erwartungshorizont – eine prekär gewordene Versorgungslage. Wille war diese Gesinnung nicht geheuer, und weil er die Vorgänge nicht (mehr) verstand, verlor er seinen Einfluss auf die Aussenpositionierung der Schweiz und wurde zudem zum Objekt sehr persönlicher Intrigen aus dem Innern des militärischen Apparates. Umso dezidierter wandte er sich deshalb in den letzten beiden Kriegsjahren der innenpolitischen Front, dem Ordnungsdienst der Armee gegen die Arbeiterbewegung zu. Diese Aufgabe verfolgte er, in Übereinstimmung mit der ganzen militärischen Führung, mit einem stark reduzierten Sensorium für die sozialpolitische Lage im Land. Schon in der Studie von Willi Gautschi zum schweizerischen Landesstreik wird hervorgehoben, welch phantasmatische Bedrohungsfiktionen in der schweizerischen Elite kultiviert wurden.43 Daraus erklärt sich zum Gutteil die provozierende Vorgehensweise, die mit grossen Truppenaufgeboten in verschiedenen Städten in die Generalstreik-Eskalation hineinführte. Eine weitergehende Erklärung müsste berücksichtigen, dass sich diese Massnahmen – im Unterschied zu General Willes lautem Nachdenken über einen schweizerischen Kriegseintritt auf Seiten Deutschlands – mit dem Prinzip der «bewaffneten Neutralität» vereinbaren liessen. In der Konsequenz stabilisierten sie das Vertrauen in den Finanzplatz und sie stiessen in der sich mittels Bürgerwehren neu formierenden nationalen Rechten auf breite Zustimmung. Doch auch die Auseinandersetzungen im Innern der Schweiz standen bald im Bann anderer Prioritäten und Zukunftsbilder. «Die Welt, in der der General aufgewachsen war, (war) verschwunden», bilanzierte Böschenstein 1960 ebenso knapp wie zutreffend.

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9783039199457
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