Читать книгу: «Am Rande des Sturms: Das Schweizer Militär im Ersten Weltkrieg / En marche de la tempête : les forces armées suisse pendant la Première Guerre mondiale», страница 9

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Zur «Bedrohung Süd»: Die Memoriale von 1911 und 191212

Das Memorial vom August 1911 enthält keine grundlegend neuen Aspekte. Sprecher konkretisierte jedoch die operativen Möglichkeiten Österreich-Ungarns gegen Italien. Für eine strategische Offensive komme nur ein Angriff über den Tagliamento nach Venetien in Frage, eventuell mit einem die linke Flanke der Italiener bedrohenden Nebenstoss durch das Südtirol. Eine Operation durch das Veltlin sei unwahrscheinlich. Die Schweiz sei in jedem Fall nicht betroffen. Im Weiteren seien alle Vorbereitungen getroffen, um den Kampf nicht allein führen zu müssen. Das sei, meinte Sprecher, früher möglich gewesen, als das Schweizer Volk sich gegen Söldnerheere zur Wehr habe setzen müssen. In einem Krieg der Massenheere jedoch sei ein Kleinstaat allein nicht in der Lage zu bestehen. Einen möglichen französischen Angriff (Aufmarsch I) wollte Sprecher entsprechend mit deutscher Hilfe auffangen. In einem italienisch-österreichischen Krieg (Aufmarsch II) ohne direkte Bedrohung der Schweiz erachtete er die beiden an der Süd- und Ostgrenze vorgesehenen aktiven Gebirgsbrigaden (Gebirgsbrigade 18 im Kanton Graubünden und Gebirgsbrigade 15 im Tessin) als Verstärkung von Landwehr und Landsturm (Grenzdetachemente) als ausreichend. Bei einer Bedrohung müssten weitere Heeresteile herantransportiert werden.

Für den Fall eines konzentrischen Angriffs auf die Schweiz durch Frankreich und Italien (Aufmarsch III)13 war das operative Grundkonzept ganz ähnlich dem Aufmarsch I, nur sollte das 4. Armeekorps an der Südfront eingesetzt werden. Im Falle italienischer Neutralitätsverletzungen wollte Sprecher die Landesgrenzen verlassen, «und zwar womöglich durch Hinübertragen des Krieges auf italienisches Territorium». Sprecher weckte wahrscheinlich deshalb gewisse Hoffnungen bei Conrad, zumal Freiherr Otto von Berlepsch seit seinem Amtsantritt als erster k. u. k. Militärattaché in Bern im Jahre 1908 immer wieder meldete, «gegenüber Italien werde sich die Schweiz absolut nicht defensiv verhalten».14 Mit Bleistift wird als Angriffsziel auf einem frühen Brief Mailand genannt. Defensiv hatte gemäss Memorial das 4. Armeekorps italienische Vorstösse über den Simplon, durch das Hinterrheintal, das Engadin oder das Oberhalbstein zu verhindern, in jedem Fall aber minimal den Alpenkamm zu halten.

Jedoch bleibt zu sagen, dass Sprecher nur den Aufmarsch I für den Kriegsfall zwischen Deutschland und Frankreich ausarbeiten liess. Der Kriegsfall mit Italien (Aufmarsch II und III) blieb nur skizzenhaft bearbeitet und hätte im Kriegsfall zuerst der neuen Truppenorganisation 1911 (nur noch drei Armeekorps mit je zwei Divisionen) angepasst werden müssen.

Die Beurteilung der «Bedrohung Süd» durch die schweizerische Armeeführung zu Beginn des Ersten Weltkrieges

Am 31. Juli 1914 erhielt Theophil Sprecher an seine Berner Privatadresse vom deutschen Generalstabschef, Helmuth von Moltke, das vereinbarte «ante portas»-Telegramm zugeschickt, das den unmittelbar bevorstehenden Kriegsausbruch ankündigte.15 Mit dieser Gewissheit beantragte Sprecher beim Bundesrat die Mobilmachung der gesamten Armee. Am Montag, dem 3. August, rückten über 200 000 Mann zum Aktivdienst ein. Nach hitzigen Diskussionen erfolgte die Wahl und Vereidigung von Ulrich Wille zum General.16 Am folgenden Tag wurde Theophil Sprecher von Bernegg zum Generalstabschef ernannt.17 Der «Armeebefehl für die Bereitstellung an der West- und Nordfront» vom 7. August 1914 brachte eine Konzentration des 1. und 2. Armeekorps in der Nordwestschweiz.18 Auslöser dieses Befehls war die erste Schlacht um Mülhausen. Das 3. Armeekorps hatte derweil die Sicherung der Süd- und Ostgrenze zwischen dem Genfersee und dem Piz Buin zu übernehmen. Dieses Verteidigungsdispositiv blieb sodann in den Grundzügen bis Kriegsende unverändert.19


Sprechers Aufmarschplan I/1910 (nach BAR E 27/12 787).

Für die schweizerische Armeeführung war nun die Haltung Italiens die grosse Unbekannte. Die Neutralität der Schweiz hatte Rom erst am 19. August 1914 akzeptiert. Eine kriegerische Unternehmung Italiens gegen Triest oder Trient schien Sprecher nicht auszuschliessen, falls der Zusammenstoss an der Westfront zu Ungunsten Deutschlands ausgehen würde. «Das nächste Ziel des italienischen Nationalismus ist alsdann das Tessin mit den italienischen Teilen Graubündens», schrieb er Mitte August dem Bundespräsidenten Arthur Hoffmann.20 Wenn Triest und Trient erobert seien, dann sei keine Hilfe mehr von Österreich zu erwarten. Die schweizerischen Interessen seien deshalb eng mit denen Österreichs verbunden.21

General Ulrich Wille sah die Lage weniger kritisch. Er schrieb Ende August und nochmals im September an Sprecher und betonte, dass man nicht auf jede beunruhigende Meldung hereinfallen dürfe.22 Viele Italiener kämen aus dem Ausland zurück und hätten keine Arbeit. Wenn diese einberufen würden, sei vieles gelöst, vor allem die Verführung zur Revolution geringer. Selbst wenn extreme irredentistische Kräfte die Macht übernehmen würden, sei das Tessin ein sekundäres Ziel. Ein Umsturz komme nicht wie ein Blitz aus heiterem Himmel; man habe dann immer noch Zeit. «Die Situation kann sich aber verändern bei einer entscheidenden Niederlage Österreichs.» Die Bewachung der Grenzen insbesondere gegen Italien sei aufrechtzuerhalten, aber nur dort, wo es etwas zu bewachen gebe. «Gerade, wenn wir allen Grund haben, dem Charakter und den Absichten dieses Nachbarn zu misstrauen, dürfen wir gar nichts tun, das ihn bei Ausführung dieser Absichten uns gegenüber ins Recht setzt.» Die Schweizer Armee habe jetzt ihre Truppen prioritär zur Kriegstüchtigkeit auszubilden. Er befürworte entsprechend, die Fortifikation von Bellinzona unvermindert auszubauen, um diesen Schlüsselraum zu sichern, an allen anderen Orten aber die Bauarbeiten einzustellen.

General und Generalstabschef beurteilten die Frage der «Bedrohung Süd» also unterschiedlich, insbesondere auch den Nutzen dortiger Befestigungsanlagen. Sprecher gab sich damit aber nicht geschlagen. Gegenüber Wille hielt er fest, die Versicherungen des italienischen Gesandten, die italienische Armee plane militärisch nicht gegen die Schweiz, könnte den Zweck haben, die Schweizer Armeeführung in Sicherheit zu wiegen, um das Land umso besser überfallen zu können. Die italienische Truppenpräsenz im Raum Passo di Jorio/Camoghè sei um das Fünffache gestiegen. Er sei jedoch einverstanden, jede Provokation zu vermeiden.23 So blieb es bei der Überwachung der Schweizer Südgrenze durch die Armee mit minimalen Kräften.

Die Beurteilung der «Bedrohung Süd» durch die schweizerische Armeeführung mit Kriegseintritt Italiens im Mai 1915

Sprecher meldete Wille am 7. Mai 1915, der Kriegseintritt Italiens stehe unmittelbar bevor.24 Er wisse aus deutscher Quelle, dass der südliche Nachbar an Österreich völlig unannehmbare Forderungen gestellt habe und auf dieser Grundlage eine Verständigung ausgeschlossen sei. Die deutsche Oberste Heeresleitung sei für den Krieg gegen Italien bereit. Die italienischen Truppentransporte an die österreichische Grenze, meist bei Nacht, seien praktisch abgeschlossen und eine «schlagfertige Bereitschaft» erstellt. Die Alpini im Veltlin seien durch ein Infanterieregiment mit Gebirgsausrüstung verstärkt worden, doch sei ein Einsatz gegen die Schweiz unwahrscheinlich. Aber der Regierung in Rom sei nicht zu trauen; sie schrecke vor dem «schamlosesten Treuebruch» nicht zurück. Er schlage deshalb das Aufgebot einer verstärkten Division (2. Division plus Gebirgsbrigade 15) auf den 10. Mai vor.

Wille antwortete dem Generalstabschef am gleichen Tag mit einem mehrseitigen Memorandum.25 Auch er rechne mit einem Wechsel Italiens ins Lager der Entente, doch unterstütze er kein Truppenaufgebot; es würde das Misstrauen Roms nur stärken. Eine Operation gegen die Schweiz könne er sich nur in zwei Fällen vorstellen: 1. wenn ein Angriff gegen Österreich über schweizerisches Gebiet vorteilhafter erschiene als über andere Achsen; 2. wenn irredentistische Ziele in der Eidgenossenschaft leicht erreichbar schienen. Zum ersten Fall könne man von der italienischen Armeeführung so gering denken wie man wolle, aber eine Operation durch die Schweiz gegen das Südtirol sei unsinnig. Eine solche lenke vom strategischen Ziel ab, bringe den Italienern höchstens eine ungünstige Lage, selbst wenn man die Schweizer Armee als «quantité négligeable» betrachte. Zum zweiten Fall sei festzuhalten, dass in Italien dem Volke nur ein Krieg gegen Österreich begreiflich zu machen sei. Das Tessin und die bündnerischen Südtäler seien für Italien «gänzlich bedeutungslos». Er sehe daher keine italienische Angriffsabsicht; die Führung des Nachbarstaates würde sich nur die Schweiz zum Gegner machen, notabene ein Volk «mit respektablen Heereskräften».

Sprecher verteidigte seine Beurteilung nur schwach. Das Tessin sei von Süden her gut erschlossen und Bellinzona rasch erreichbar. Dann seien Gotthard und Graubünden gefährdet. Ein Stoss durchs Engadin nach Landeck beziehungsweise durchs Münstertal nach Meran/Bozen sei in diesem Fall eine verlockende Variante. Er insistierte jedoch nicht weiter und gab sich mit der bereits befohlenen Ablösung durch eine Infanterie-Brigade zufrieden.26 Im Folgenden erteilte er den beiden für die Verstärkung der Ostfront vorgesehenen grossen Verbänden, der 6. Division und der Gebirgsbrigade 18, am 11. Mai genaue Planungsweisungen.27 Im Falle eines Krieges an der Südostgrenze sei eine Grenzverletzung nur von der italienischen Armee denkbar, denn Österreich habe viel bessere operative Achsen (Isonzo) und sei auf schweizerische Umgehungswege nicht angewiesen. Für den Fall eines italienischen Angriffs sei sodann eine «offensive Verteidigung» zu planen. Die grösste Chance bestehe in der Besetzung von Chiavenna, um dann in der Folge bis zum Lago di Mezzola vorzustossen. Erfolgversprechend sei auch eine Besetzung des Livignotals. Ins Veltlin gebe es ohne starke österreichische Artillerie kein Vordringen. Ohne diese seien die Befestigungen von Bormio (Forte Oga), Tirano (Sbarramento Poschiavo, Forte I Canali) und Fuentes nicht zu nehmen. Operatives Ziel sei es, eine verkürzte Südfront zu schaffen.28

Nach Sprechers Verteidigungsabsicht hatten die ortsfeste Landwehr-Brigade 24 und der örtliche Landsturm die Verteidigung Graubündens grenznah sicherzustellen. Im Fall des Angriffs eines übermächtigen Gegners sollte man schrittweise auf die Julier-Albula-Kette zurückgehen. Schwergewichtig sei ein Durchbruch über den Flüelapass zu verhindern. Sollte das nicht gelingen, so sei die Linie Mutten-Lenzerheide-Davos so lange zu halten, bis die 6. Division herangeführt worden sei. An den Strassen (Viamala, Bergün-Thusis) und am Schienennetz der Rhätischen Bahn durften demnach so lange keine Zerstörungen vorgenommen werden, als noch ein offensiver Gedanke realistisch war.

Es kann also festgehalten werden, dass sich in der operativen Beurteilung Sprechers seit dem Gespräch mit Hodliczka 1907 nichts verändert hat. Die von Wille als unprofessionell qualifizierte Umfassung der Südtirol-Stellung strich der Generalstabschef nicht aus seinen Gefährdungsszenarien. Die Idee der Vorwärtsverteidigung blieb eine Konstante, taktisch mit eigenen Kräften und operativ mit österreichischer Hilfe. Die nachrichtendienstliche Zusammenarbeit, um diese Absicht zu ermöglichen und zu koordinieren, lag auf der Hand.


Sprechers offensive Verteidigungsabsicht gegen Italien von 1915 (Skizze: Kriechbaumer et al. (Hg.), Festschrift Rauchensteiner, S. 99).

Im Umfeld des Kriegseintritts Italiens analysierte Sprecher noch zweimal die Lage und blieb bei seiner Beurteilung.29 Er hielt explizit fest, auch der Verbündete des Angreifers sei unser potentieller Feind. Ein Angriff Italiens auf die Südfront werde den französischen Angriff auf die Westfront auslösen und umgekehrt. Ende Sommer 1915 hatte sich die Lage dann geklärt. Keines der Bedrohungsszenarien Sprechers war eingetroffen. Die Entente führte aber einen harten Wirtschaftskrieg gegen die Schweiz. Sprecher sah darin den Versuch, die Schweiz in die Arme der Entente zu treiben.30 Die Gefahr sei nicht beseitigt; man müsse auf der Hut sein und Schwächesignale vermeiden, schrieb er dem General. Wille quittierte handschriftlich ins Manuskript: «stimmt, sehr richtig».31

Der Herbst/Winter 1915/16: Die innenpolitische Krise vor dem Hintergrund französisch-italienischer Operationsplanungen gegen die Schweiz

Im Herbst 1915 blieb die Lage für die Schweiz unverändert, doch für das Frühjahr 1916 zeichneten sich schwerwiegende Ereignisse ab. Der General war deshalb überzeugt, dass einzig eine glaubwürdige Landesverteidigung ein Garant sei, welcher «Frankreich und Deutschland vor der Versuchung schützt, den Stacheldraht und die dreifachen Jägergräben der feindlichen Front südlich, das heisst durch unser Land zu umgehen».32 Als Spitze gegen Sprecher platzierte er die Bemerkung: Eine italienische Offensive durch die Schweiz gegen das Südtirol sei ausgeschlossen, und dies werde bis zum Ende des Krieges so sein. Mit dem Bau von Befestigungen und dem Betreiben unnötiger Posten sei endlich aufzuhören und dafür die Ausbildung zu verbessern. Im Winter 1915/16 wurden solche militärischen Überlegungen jedoch durch politische Erschütterungen in den Hintergrund gedrängt. Am 10. Dezember 1915 protestierten die diplomatischen Vertreter der Entente in Bern bei den Bundesräten Giuseppe Motta und Camille Decoppet, dass sie von einer «source sûre et suisse» darauf aufmerksam gemacht worden seien, dass die hiesigen Militärattachés der Zentralmächte, Major i. G. Busso von Bismarck und Oberst i. G. William von Einem, regelmässig die Tagesbulletins des Schweizer Generalstabes erhielten. Damit kam eine Affäre ins Rollen, die als «Oberstenaffäre» in die Geschichte der Schweiz im Ersten Weltkrieg eingegangen ist.33 Besonders welsche Politiker benutzten die Gelegenheit, um das nicht neutrale Verhalten der vorwiegend deutschschweizerischen Generalstabsabteilung scharf anzugreifen.

Die Oberstenaffäre wurde historiografisch zumeist aus einer rein schweizerischen Binnenperspektive dargestellt. Dies greift meines Erachtens zu kurz, denn die Hinweise sind erdrückend, dass eine französische Diversion, also die geheime Vorbereitung einer Offensive durch die Schweiz, die Affäre überhaupt erst zur Staatskrise werden liess.34 Haupthintergrund sind die ab Herbst 1915 einsetzenden Planungsarbeiten im Operationsbüro der französischen Armée de l’Est zu einem Angriff auf die Schweiz beziehungsweise zu einer klassischen Südumfassung der deutschen Westfront über Schweizer Territorium, die sich zum Operationsplan «H» vom 14. Dezember 1915 entwickelten.35 Diese Planungen erfolgten zeitgleich mit verstärkten französischen Spionageaktivitäten gegen die in der Nordwestschweiz konzentrierte Schweizer Armee sowie mit politischer Destabilisierungsarbeit.36 Auch das wirtschaftspolitische Powerplay der Entente gegen die Schweiz hielt an. William von Einem beurteilte die Oberstenaffäre in diesem Sinne und lag damit aus heutiger Sicht aufgrund der nun zugänglichen Quellen wohl richtig: Ziel der Agitation der welschen Schweiz sei die Schwächung der politischen und der militärischen Gewalt in den Händen der Deutschschweizer gewesen; die Sozialisten würden die Absetzung von General und Generalstabschef schon aus prinzipiellen Gründen unterstützen. «Dass dadurch die Kriegsbereitschaft und die Widerstandskraft des Landes selbstverständlich sehr leiden würden, ist den massgebenden Führern der Bewegung entweder gleichgültig oder sie streben diese sogar an.»37 Zudem meinte er: «Die ‹Oberstenaffäre› wurde mit Hilfe der welschen Schweiz in dem Moment aufgedeckt und ausgebeutet, in welchem dies Frankreich auf Grund der politischen und militärischen Situation am geeignetsten erschien.»38


«Plan H» vom 14. Dezember 1915 (Skizze: Fuhrer, Schweizer Armee im Ersten Weltkrieg, S. 404).

Der insgesamt 36 französische Angriffsdivisionen umfassende Operationsplan «H(elvétie)» vom 14. Dezember 1915 kalkulierte auch eine Paralleloffensive der Italiener gegen die Schweiz mit ein.39 Das Commando Supremo hatte bereits am 18. September 1915 den Befehl zur Planung einer Angriffsoperation gegen Schweizer Territorium erteilt. Am 18. Februar 1916 entschied sich der französische Oberbefehlshaber Joseph Joffre jedoch für die Grossoffensive der Entente gegen das deutsche Westheer an der Somme. Der deutsche Angriff gegen Verdun dämpfte zudem italienische Befürchtungen vor einem deutschen Angriff durch die Schweiz gegen Italien, nicht aber diejenigen vor einer österreichischen Offensive durch das Südtirol zur Umfassung der Isonzo-Front. Dies führte dazu, dass nach einer Phase des Misstrauens und der Krise, deren Kulminationspunkt die «Oberstenaffäre» war, die Glaubwürdigkeit der bewaffneten Neutralität von der Entente wieder positiver beurteilt wurde. Der Weg war frei zu Kontakten zwischen dem französischen und dem schweizerischen Generalstab, die in der Folge viel weiter gingen als jene zu den Zentralmächten.40 Das hinderte die Ententemächte nicht, den Wirtschaftskrieg ohne Rücksicht auf die eidgenössische Neutralität gegen die Zentralmächte zu führen.

Sprechers und Willes Lagebeurteilung im Frühjahr 1916

Vor dem Hintergrund der «Oberstenaffäre» interessieren im Folgenden die Lagebeurteilungen des Generalstabschefs und des Oberbefehlshabers der Schweizer Armee im Frühjahr 1916. Fassbar werden die entsprechenden Überlegungen erstmals in einem internen Lagebericht Sprechers an Wille vom 15. Januar 1916. Militärisch sei man weiterhin bedroht, meinte der Generalstabschef.41 Das beweise der Bau von Befestigungsanlagen beider Kriegsparteien in der Ajoie, im Südtessin und am Umbrail unmittelbar ab Landesgrenze. Es bestehe offensichtlich eine beidseitige Angst vor einer gegnerischen Umgehung über schweizerisches Gebiet. So kleinräumig das in der Ajoie oder im Münstertal erscheine, bedeute es aber für die Schweiz den casus belli.

Die schweizerische Südfront müsse im Kriegsfall in österreichischer Manier gehalten werden. Dringlich sei aber das Entsenden einer Offiziersdelegation, um zu lernen, wie man das erfolgreich tut. Die Schweizer Offiziere würden auf ihren Kriegsschauplatzmissionen jeweils sehr freundlich empfangen. Leider sei der über die Grenze reichende Nachrichtendienst voll von «Klippen und Gefahren», wie die letzten Wochen sattsam gelehrt hätten. Trotzdem könne er für diesen keine Einschränkung oder gar dessen Aufgabe befürworten. Man müsse ständig Kenntnis haben über die Absichten der Nachbarn. Daraus sei die Stärke des Grenzschutzes ableitbar. Schlüsselnachrichten erhalte man nicht, indem man Zeitungen lese. Der Grundsatz gelte weiterhin, dass die Armee gegen jeden Aggressor eingesetzt werde und man mit dem Gegner des Aggressors gemeinsame Sache mache. Damit kam Sprecher zu seiner Konklusion. Die Geschichte mahne zur Vorsicht, besonders für den Fall, dass Frankreich die Oberhand gewinne und das europäische Gleichgewicht gestört sei. Man sei in den vergangenen Jahrhunderten nur von Frankreich angegriffen worden. Abschliessend steht sein Credo: «Immer noch sind wir der bestimmten Ansicht, dass nichts so geeignet ist, uns vor der Kriegsgefahr oder einer Ehrverletzung oder Demütigung zu schützen, als der offensichtliche Kriegswert unserer Armee.»42

Der General antwortete drei Tage später.43 Er war im Wesentlichen einverstanden. Er betrachtete jedoch die Möglichkeit einer Südumfassung der Westfront als unwahrscheinlich. Am ehesten sei sie noch denkbar durch das Deutsche Reich. Die Oberste Heeresleitung brauche so rasch wie möglich einen starken und siegreichen Schlag gegen Frankreich, um die Friedenssehnsucht des französischen Volkes auszunützen und die Abhängigkeit von englischen Interessen zu beseitigen. Im Vorfeld des deutschen Angriffs bei Verdun sind seine Worte bedeutungsschwer: «Aber auch bei der grössten allseitigen Überlegenheit der Deutschen bedarf dieser Durchbruch ungeheurer Opfer und eine absolute Sicherheit, die erzwungen werden kann, ist nicht vorhanden.» Frankreich könne dann nicht tatenlos zusehen und werde die besten Truppen aus der Front herausnehmen und einsetzen. Auch wenn die Umfassung durch die Schweiz verlockend sei, bleibe er überzeugt, dass das niemals geschehen werde. Politisch sei es nicht sinnvoll, auch «wenn man seinen alten & beständig wiederholten Versicherungen der Freundschaft für unser Land keinen Glauben schenken wollte». Die Verletzung der Neutralität Belgiens habe einen Aufschrei ausgelöst, die Verletzung der Neutralität Griechenlands nicht den leisesten Protest. Der Entente werde verziehen, niemals aber den Deutschen. «Ohne durch die Not der Lage dazu förmlich gezwungen zu sein wie damals bei Belgien, wird Deutschland niemals die Rechtssphäre eines kleinen neutralen Landes verletzen.»

Das Gleiche sei deshalb verlockender für Frankreich, insbesondere wenn Italien mitmache, aber «beides erachte ich als gänzlich ausgeschlossen». Kein verständiger französischer General könne annehmen, dass die Engländer ihnen das Halten der Front im Zentrum abnehmen werden. Den aufgebotenen britischen Rekruten fehle das Kader, um kriegszuverlässig zu sein. Noch unwahrscheinlicher sei die italienische Hilfe. Zu Beginn des Krieges habe Italien offensive Absichten gehabt, Gebiet zu erobern, «auf das es behauptete ein natürliches Anrecht zu besitzen». Daraus sei sogar der Plan entstanden, die Offensive fortzusetzen. Die Isonzo-Schlachten hätten aber die Unmöglichkeit brutal aufgezeigt. Man sei im italienischen Oberkommando im Herbst 1915 nicht einmal willens gewesen, in den Balkankrieg einzugreifen, um den Serben und Montenegrinern zu Hilfe zu kommen, trotz deren «Bitten & Drängen». Alles, was Italien zurzeit unternehme, sei die «Maskierung der Furcht vor der österreichischen Offensive. Die italienische Regierung hat das volle Recht, die Folgen einer siegreichen österreichischen Offensive grimmig zu fürchten.» Wenn Österreich siegreich in die Poebene vordringe, dann werde sofort die gewaltsam niedergehaltene Volksmeinung hervorbrechen, man hätte neutral bleiben sollen. Regierung und König müssten abtreten oder einen bedingungslosen Frieden schliessen. Italien werde trotz irgendwelchen Hilfswünschen Frankreichs kein Heer von 100 000 Mann aus der Isonzo-Front herausnehmen. Auch hier wäre die Gefahr durch Österreich sachlogischer. Man könnte durch die Schweiz den linken italienischen Flügel umfassen. Aus den gleichen Gründen wie für das Deutsche Reich erachte er das aber als ausgeschlossen.

Er habe nach dieser Beurteilung das «Gefühl grosser Sicherheit». Trotzdem befürworte er weiterhin einen starken Grenzschutz und «die Bereitschaft, jeder Offensive durch unser Land mit aller Kraft entgegenzutreten, denn in der Vernachlässigung dieser Pflicht würde ein grosser Anreiz liegen, etwas Derartiges zu unternehmen». Dies sei die einzige Garantie, dass in fremden Generalstäben keine solchen Begehren auftauchten. Die Folge wäre dann ein Krieg im eigenen Land aus eigenem Verschulden.

Grundsätzlich ist jetzt eine weitgehende Übereinstimmung der Auffassungen Willes und Sprechers festzustellen, wenn auch Sprecher immer dem denkbar gefährlichsten Fall Priorität einräumte und nicht dem wahrscheinlichen. Wille urteilte pragmatischer und lag aus heutiger Sicht richtig. Die Frage der sogenannten Deutsch- und Österreichfreundlichkeit von General und Generalstabschef muss somit differenzierter ausfallen als üblich. «Mein Herz ist ganz auf deutscher Seite, das darf ich ruhig sagen, weil ich mich dadurch nicht verleiten lasse, auch nur um des Nagels Breite von der korrekten Linie abzugehen», hatte Wille Sprecher Mitte Dezember 1915 geschrieben.44 Das war für Sprecher nie anders.

Das Gesetz des Handelns gehörte in den nächsten Monaten den Zentralmächten. Weitgehend unabhängig voneinander suchten sie die Entscheidung des Krieges je an einer Front: das deutsche Heer bei Verdun und die k. u. k. Armee in der Südtirol-Offensive vom Frühjahr 1916.

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