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II.
CAMBRIDGE, MASSACHUSETTS

»Der Homo sapiens ist das einzige Tier, das …«

Wie viele selbstherrliche Ergänzungen haben Philosophen hier schon angehängt, die sie am Ende dann doch wieder verwerfen mussten? Nach und nach konnte die Wissenschaft all jene Fähigkeiten, von denen wir glaubten, sie als Einzige zu besitzen, auch bei anderen Spezies nachweisen. Leiden? Vernunft? Sprache? Rechnen? Lachen? Selbsterkenntnis? Kultur? Das alles hielt man schon für menschliche Monopole, bis durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse über die Gehirnfunktionen und Verhaltensweisen von Tieren eines nach dem anderen widerlegt wurde. Die These von James Boswell, der das Kochen zu einer ausschließlich menschlichen Fähigkeit erklärt hatte, ist offenbar langlebiger. Mehr Bestand hätte wohl der Satz: »Der Mensch hat als einzige Spezies das Bedürfnis, Fähigkeiten zu finden, die nur er alleine besitzt.«

Dies ist wohl auch der Grund, weshalb das Kochen eine überdurchschnittlich gute Chance hat, sich in diesem unsinnigen Spiel zu halten: Nur die Herrschaft über das Feuer und die daraus resultierende Erfindung des Kochens können die Entwicklung von Gehirnen erklären, die groß und selbstherrlich genug sind, um sich Sätze auszudenken wie »Der Homo sapiens ist das einzige Tier, das …«.

Zumindest ist dies die Aussage der sogenannten »Kochhypothese«, eines recht neuen Beitrags zur Evolutionstheorie, der das Konstrukt unserer Selbstsicht in einem neuen, wunderbar ironischen Licht zeigt. Dieser Hypothese zufolge ist das Kochen nicht nur eine Metapher für die Entstehung unserer Kultur (wie Lévi-Strauss argumentierte), sondern aus entwicklungsgeschichtlicher und biologischer Sicht sogar eine entscheidende Voraussetzung. Hätten unsere urzeitlichen Ahnen es nicht geschafft, das Feuer unter Kontrolle zu bringen und es zur Zubereitung ihrer Nahrung benutzt, hätten sie sich niemals zum Homo sapiens entwickelt. Wir betrachten das Kochen heute als eine kulturelle Errungenschaft, die uns über die Natur stellt, als einen Ausdruck menschlicher Überlegenheit. Tatsächlich ist die Sache aber noch viel interessanter, denn inzwischen ist das Kochen sogar fest in unseren Genen verankert. Wollen wir unsere großen, energiefressenden Gehirne mit ausreichend Nahrung versorgen, müssen wir kochen. Wenn wir kochen, wenden wir uns also nicht von der Natur ab, vielmehr ist es unsere Natur, längst so überlebenswichtig wie der Nestbau für Vögel.

Zum ersten Mal begegnete mir die Kochhypothese 1999 in der Zeitschrift Current Anthropology. The Raw and the Stolen: Cooking and the Ecology of Human Origins (»Das Rohe und das Gestohlene: Kochen und die Ökologie des menschlichen Ursprungs«) hieß der Artikel von Richard Wrangham, einem Anthropologen und Primatologen an der Harvard University in Massachusetts, und vier seiner Kollegen. In Feuer fangen: Wie uns das Kochen zum Menschen machte baute Wrangham die Kochhypothese dann weiter aus. Kurz nach Erscheinen dieses faszinierenden Buchs 2009 entwickelte sich zwischen uns eine E-Mail-Korrespondenz, die schließlich zu einem gemeinsamen Mittagessen (bestehend aus Rohkostsalaten) im Harvard Faculty Club führte.

Wranghams Hypothese ist ein Erklärungsversuch für die drastischen Veränderungen, die vor 1,8 bis 1,9 Millionen Jahren in der Physiologie von Primaten in Afrika auftraten, und zwar mit der Entstehung unseres evolutionsgeschichtlichen Vorgängers, des Homo erectus. Im Vergleich zum affenähnlichen Homo habilis, aus dem er sich entwickelt hatte, wies der Homo erectus einen kleineren Kiefer, kleinere Zähne, einen kürzeren Darm und ein deutlich größeres Gehirn auf. Er lebte am Boden, ging aufrecht und war somit der erste Primat, der mehr einem Menschen glich als einem Affen.

Anthropologen verfochten lange Zeit die Theorie, dass das Wachstum des Primatengehirns mit dem beginnenden Verzehr von Fleisch zusammenhing, da dieses sehr viel mehr Energie liefert als pflanzliche Nahrung. Wrangham weist jedoch darauf hin, dass Verdauungsapparat und Ernährungswerkzeuge des Homo erectus für den Verzehr von rohem Fleisch nur schlecht geeignet waren. Und für eine Ernährung mit rohen Pflanzen, die nach wie vor ein wichtiger Bestandteil des Speiseplans gewesen sein mussten – da Primaten nicht ausschließlich von rohem Fleisch leben können –, war der Homo erectus sogar noch schlechter gerüstet. Das Kauen und Verdauen jeglicher Art von Nahrung erfordert einen langen Darm, große Zähne und einen starken Kiefer. All diese Werkzeuge hatte unser Vorfahr aber genau zu der Zeit eingebüßt, als sein Gehirn stark wuchs.

Wrangham behauptet, beide Entwicklungen ließen sich am besten mit der Beherrschung des Feuers und der Entdeckung des Kochens erklären. Durch das Kochen ist die Nahrung sehr viel einfacher zu kauen und zu verdauen, ein gut funktionierender Darm oder starke Kiefer werden überflüssig. Verdauung ist ein intensiver Stoffwechselprozess, für den die meisten Arten ebenso viel Energie aufwenden wie für die Fortbewegung. Gerade bei der Verarbeitung roher Nahrung muss der Körper besonders viel leisten. Bevor der Dünndarm Aminosäuren, Fette und Zucker aufnehmen kann, müssen die harten Muskelfasern und Sehnen des Fleischs oder die zähe Zellulose der Pflanzenzellwände aufgebrochen werden. Durch das Kochen wird die Verdauungsarbeit aus dem Körper ausgelagert: Die Energie des Feuers bricht komplexe Kohlenhydrate auf und macht Proteine leichter verdaulich und ersetzt dadurch einen Teil unserer Körperenergie.

Wirkt die Hitze eines Feuers auf Nahrungsmittel, verändern sich diese, manche chemisch, andere physikalisch, aber immer mit dem gleichen Ergebnis. Sie stellen den Lebewesen, die sie verspeisen, mehr Energie zur Verfügung. Werden Proteine Hitze ausgesetzt, »denaturieren« sie, das heißt, ihre Struktur, die man sich wie eine Origami-Figur vorstellen kann, entfaltet sich, und es entsteht mehr Angriffsfläche für unsere Verdauungsenzyme. Lässt man dem Feuer genügend Zeit, verwandelt es selbst das zähe Kollagen im Bindegewebe der Muskeln in eine weiche, leicht verdauliche Gallertmasse. Bei pflanzlichen Nahrungsmitteln »geliert« das Feuer die Stärke, der erste Schritt, sie in Zucker umzuwandeln, und viele Pflanzen, die roh giftig sind, Knollengewächse wie Maniok beispielsweise, werden durch Hitze harmlos und nahrhaft. Andere Lebensmittel wiederum werden »gereinigt«, da das Feuer Bakterien und Parasiten abtötet, und bei Fleisch verzögert es die Verwesung. Braten verbessert überdies sowohl den Geschmack als auch die Konsistenz des Nahrungsmittels, manches wird zarter, anderes süßer oder weniger bitter. Aber was stand am Anfang? Eine angeborene Vorliebe für gekochtes Essen oder dass wir Gekochtes bevorzugen, weil wir es seit fast zwei Millionen Jahren so gewohnt sind? Schwer zu sagen.

Natürlich kann das Kochen auch negative oder sogar kontraproduktive Auswirkungen haben. Manche Lebensmittel produzieren, wenn sie großer Hitze ausgesetzt werden, krebserregende Stoffe. Die Gefahr solcher Schadstoffe wird jedoch durch den deutlich höheren Energiewert gekochter Nahrung wieder ausgeglichen – letztendlich ist das Leben ein ewiger Kampf um Energie. Insgesamt betrachtet, hat das Kochen unseren Vorfahren ein enormes neues Spektrum an Essbarem eröffnet und ihnen so einen großen Vorteil im Konkurrenzkampf mit anderen Arten verschafft. Der Mensch hatte schlicht mehr Zeit, sich mit anderen Dingen als der Futtersuche und dem Kauen zu beschäftigen.

Ein entscheidender Punkt. Basierend auf Beobachtungen anderer Primaten von vergleichbarer Größe, stellt Wrangham fest, dass unsere Vorfahren, bevor sie gelernt hatten zu kochen, die Hälfte des Tages nur mit Kauen verbracht haben mussten. Schimpansen lieben Fleisch und jagen auch, aber um Fleisch zu kauen, benötigen sie so viel Zeit, dass ihnen für die Jagd nur achtzehn Minuten am Tag bleiben: viel zu wenig, um Fleisch zu einem festen Bestandteil ihres Speiseplans zu machen. Wrangham schätzt, dass wir durch das Kochen täglich vier Stunden extra zur Verfügung haben – was zufällig ungefähr der Zeit entspricht, die viele Menschen heute jeden Tag vor dem Fernseher verbringen.

Der römische Arzt Galenus von Pergamon stellte fest: »Gefräßige Tiere sind stets am Fressen, und ebenso unablässig scheiden sie aus. Sie führen, wie Platon sagt, ein der Philosophie und Musik abträgliches Leben, während erhabenere Tiere weder andauernd essen noch ausscheiden.« Indem es uns von der Notwendigkeit des ständigen Fressens erlöste, hat uns das Kochen erhabener gemacht und uns den Weg zu Philosophie und Musik geebnet. All die Mythen, die die gottgleichen Fähigkeiten des menschlichen Verstands der göttlichen Gabe des Feuers oder dessen Diebstahl zuschreiben, enthalten möglicherweise mehr Wahrheit, als wir je vermuteten.

Aber da wir den Rubikon nun einmal überschritten und einen großen Verdauungsapparat gegen ein großes Gehirn eingetauscht haben, können wir nicht mehr zurück, sosehr Rohkostfanatiker dies auch befürworten mögen. Wragham führt mehrere Studien an, die belegen, dass sich Menschen, die sich nur von Rohem ernähren, keinen Gefallen tun. Sie können ihr Gewicht nicht beibehalten, und die Hälfte aller Frauen hört auf zu menstruieren. Wollen sie dem Kauen nicht ebenso viel Zeit widmen wie die Schimpansen, sind Rohkostfans dringend auf Entsafter und Mixer angewiesen. Es ist schwierig, wenn nicht gar unmöglich, aus nicht verarbeiteten Pflanzen so viel Energie zu gewinnen, dass damit ein Körper mit einem so großen und hungrigen Gehirn wie dem unseren am Leben erhalten werden kann. Es macht zwar nur 2,5 Prozent unseres Körpergewichts aus, verbraucht aber im Ruhezustand zwanzig Prozent unserer Energie. Wrangham schreibt, der moderne Mensch sei auf gekochte Lebensmittel genauso geeicht wie Kühe auf Gras. »Wir sind auf gekochtes Essen angewiesen, es erhält uns am Leben, unseren Körper und unser Gehirn. Wir Menschen sind die kochenden Affen, die Geschöpfe der Flammen.«

Aber woher wollen wir wissen, ob die Kochhypothese stimmt? Das können wir nicht wissen. Es ist lediglich eine Hypothese, die dazu nicht einfach zu beweisen ist. So gibt es noch keinen fossilen Beleg dafür, dass der Mensch bereits zu Zeiten des Homo erectus kochte, obwohl sich die Hinweise darauf in jüngster Zeit verdichten. Als Wrangham seine These zum ersten Mal veröffentlichte, datierte der älteste fossile Fund, der auf kontrolliertes Feuer schließen ließ, auf 790 000 vor Christus. Wrangham geht jedoch davon aus, dass wir schon mindestens eine Million Jahre zuvor gekocht haben, und verteidigt seine Annahme damit, dass derart alte Spuren von Feuer wohl kaum erhalten geblieben seien und beim Braten von Fleisch nicht zwingend verkohlte Knochenreste zurückbleiben müssten. Vor Kurzem haben Archäologen in einer Höhle in Südafrika einen Herd entdeckt, anhand dessen sich das Kochen auf beachtliche eine Million Jahre vor Christus zurückdatieren lässt3, und die Suche nach noch älteren Feuerstellen ist längst nicht abgeschlossen.

Wranghams Argumente scheinen schlüssig. Ausgelöst durch neue Faktoren der natürlichen Auslese, fand vor ungefähr zwei Millionen Jahren eine entscheidende Veränderung in der Entwicklung der Primaten statt: der Darm schrumpfte, das Gehirn wuchs. Der wahrscheinlichste und effektivste Grund hierfür war eine neue und bessere Ernährung, wobei Fleisch allein nicht entscheidend gewesen sein konnte, da Primaten im Gegensatz zu Hunden rohes Fleisch nicht bekommt, weil sie es nicht gut genug verdauen. Die einzige Kost, die eine derartige Steigerung der Energiezufuhr mit sich bringen konnte, war gekochte Nahrung. Wrangham kommt daher zu dem Schluss, wir Menschen seien eher Köche als Fleischfresser.

Um zu beweisen, inwiefern mit dem Kochen eine Steigerung der Kalorienzufuhr bewerkstelligt werden konnte, die den Verlauf der Evolution veränderte, zitiert Wrangham mehrere Studien zur Tierernährung, in denen die Fütterung mit roher, gekochter oder anderweitig aufbereiteter Nahrung verglichen wird. Indem Forscher beispielsweise die Ernährung eines Python von rohem Rindfleisch auf gebratene Hamburger umstellten, reduzierte sich damit der »Energieverbrauch« seiner Verdauung um nahezu ein Viertel, ein Energiegewinn, den das Tier anderweitig einsetzen konnte. Und Mäuse, die sich von gekochtem Fleisch ernähren, wachsen deutlich schneller und werden fetter als Mäuse, die rohes Fleisch fressen.4 Das könnte auch der Grund sein, weshalb Haustiere zu Fettleibigkeit neigen, denn das meiste Tierfutter ist gekocht.

Kalorien sind offenbar nicht gleich Kalorien, oder wie ein Sprichwort sagt, das Jean Anthelme Brillat-Savarin in seiner Physiologie des Geschmacks zitiert: »Der Mensch lebt nicht von dem, was er isst, sondern von dem, was er verdaut.« Kochen ermöglicht uns, mehr von unserer Nahrung zu verdauen und dafür weniger Energie aufzubringen. Tiere scheinen das erstaunlicherweise instinktiv zu wissen: Lässt man ihnen die Wahl, entscheiden sich viele von ihnen meist für das gekochte Futter. Das ist keine Überraschung. »Gekochte Nahrung ist besser als rohe«, behauptet Wrangham, »denn das Leben erfordert Energie« – und gekochtes Essen liefert mehr davon.

Tiere sind diesbezüglich »vorprogrammiert«. Sie haben Sensoren entwickelt, die sie in Richtung der größten Energiequellen treiben. Daher wirken Geruch, Geschmack und Konsistenz von gekochtem Futter auch anziehender als von rohem. Verlockende Eigenschaften wie Süße, Weichheit, Zartheit und Fettigkeit signalisieren leicht verdauliche Kalorien im Überfluss. Eine angeborene Vorliebe für hochenergetische Nahrung würde erklären, weshalb unsere Vorfahren gekochtes Essen in ihren Speiseplan aufnahmen. In seinen Mutmaßungen darüber, wie der Mensch die positiven Auswirkungen des Feuers auf seine Nahrung entdeckt haben könnte, erwähnt Wrangham, dass viele Tiere durch verbrannte Landstriche streifen auf der Suche nach gebratenen Nagetieren und gerösteten Samen. Als Beispiel führt er Schimpansen im Senegal an, die die Samen des Afzeliabaums erst fressen, wenn sie durch einen Brand geröstet wurden. Es liegt nahe, dass vermutlich auch unsere Vorfahren durch abgebrannte Wälder streiften und nach schmackhaften Überresten suchten. Hin und wieder hatten sie vielleicht Glück und machten dieselbe einschneidende Erfahrung wie Bo-bo, der Sohn des Schweinehirten aus Charles Lambs Erzählung, als er zum ersten Mal ein Stückchen Bratenkruste probierte.

Wie für jede Theorie dieser Art – oder für die Evolution selbst – gibt es auch für die Kochhypotese keinen endgültigen wissenschaftlichen Beweis. Viele werden sie daher bestimmt als Fiktion, als eine neue Prometheus-Geschichte mit wissenschaftlichem Anstrich abtun. Aber seien wir doch mal ehrlich, wie viel darf man denn erwarten, wenn es um nichts Geringeres geht als um die Geschichte unserer Entstehung? Die Kochhypothese bereichert uns um einen faszinierenden modernen Mythos, der nicht dem Duktus der Religion folgt, sondern in der Sprache der Evolutionsbiologie verfasst ist, und der die Ursprünge unserer Spezies in der Entdeckung des Kochens über einem Feuer verankert. Die Bezeichnung Mythos ist hier nicht abwertend gemeint. Wie jede andere historische Interpretation ist auch die Kochhypothese ein Versuch zu klären, wie alles so gekommen ist, wie es heute ist, und dafür setzt sie das derzeit aussagekräftigste Vokabular ein: das der Evolutionsbiologie. Und es ist doch erstaunlich, dass sowohl die griechische Mythologie als auch die moderne Evolutionstheorie in den Flammen einer Feuerstelle die Anfänge unseres Menschseins entdeckten. Womöglich ist diese Übereinstimmung die einzige Bestätigung, die wir uns erhoffen können.

III.
ZWISCHENSPIEL:
Aus der Sicht eines Schweins

Tiere zieht der Duft von gegrillten Speisen ebenso stark an wie Götter oder Menschen, vor allem der Duft eines Barbecues. Ich kann das aus eigener Erfahrung bestätigen. Die folgende Geschichte klingt zwar unglaublich, entspricht aber bis ins letzte Detail der Wahrheit. Als Teenager war ich für kurze Zeit stolzer Besitzer einer jungen weißen Sau namens Kosher. Sie war ein Geschenk meines Vaters, der ihr auch diesen kuriosen Namen gegeben hatte. Ich weiß bis heute nicht, weshalb mir mein Vater ausgerechnet ein Schwein schenkte. Wir wohnten damals im elften Stock eines Apartmenthochhauses in Manhattan, und ich hatte mir ganz bestimmt kein Schwein gewünscht, auch wenn ich, seit ich Wilbur und Charlotte gelesen hatte, eine gewisse Schwäche für diese Tiere hatte und Schweinebücher und kleine Schweinefiguren sammelte. Aber wie es manchmal so geht mit diesen kleinen Leidenschaften, andere Menschen nehmen sie meist sehr viel ernster als man selbst, und so war mein Zimmer bald vollgestopft mit Schweine-Nippes, der mir, spätestens als ich sechzehn war, eigentlich nichts mehr bedeutete.

Mein Vater war jedoch felsenfest davon überzeugt, dass mein sehnlichster Wunsch ein echtes, lebendiges Schwein wäre. Also beauftragte er seine Sekretärin, auf einer Farm in New Jersey ein Ferkel aufzutreiben, und eines Abends brachte er es dann in einem Schuhkarton mit nach Hause. Das Ferkel war nicht etwa ein Hängebauchschwein oder irgendeine andere kleinwüchsige Rasse. Oh nein, Kosher war eine ganz normale Yorkshire-Sau, die irgendwann einmal mindestens eine Vierteltonne wiegen würde, sofern man sie nicht daran hinderte. Unser Gebäude mit Türsteher an der Upper Eastside gehörte einer Wohnungsbaugesellschaft, die Haustiere zwar erlaubte, ich war mir allerdings ziemlich sicher, dass damit keine ausgewachsenen Schweine gemeint waren.

Glücklicherweise beschränkte sich meine Zeit mit Kosher größtenteils auf den Sommer, und den verbrachten wir ohnehin in einem Ferienhäuschen am Meer. Die Strandhütte stand auf Pfählen im Sand, und so konnte Kosher unter der Veranda wohnen. Da auch Schweine anfällig für Sonnenbrand sind (vielleicht lieben sie es deshalb, sich im Schlamm zu suhlen), zäunte ich den schattigen Bereich unter der Hütte für sie als Gehege ein. Als ich Kosher bekam, war sie so groß wie ein Fußball und passte in einen Schuhkarton. Das änderte sich jedoch schnell, denn, um den Arzt Galenus noch einmal zu zitieren: Sie war »stets am Fressen, und ebenso unablässig schied sie aus«. Oft kippte Kosher mitten in der Nacht mit einem energischen Scheppern die leere Futterschüssel um und machte mich mit lautem, kehligem Grunzen darauf aufmerksam, dass sie Hunger hatte. Genügte das nicht, um einen Zweibeiner mit einem Eimer voll Futter an ihr Gatter zu holen, stieß Kosher mit ihrer kräftigen Schnauze so lange gegen die Holzpfähle, bis die erdbebenähnlichen Erschütterungen mich weckten. Nicht nur ein Mal musste ich nachts den kompletten Inhalt des Kühlschranks in ihren Trog umfüllen, weil kein Schweinefutter mehr da war. Und es waren keineswegs nur Obst und Gemüse und irgendwelche Reste, die in ihrem Trog landeten, sondern wirklich alles: Eier, Milch, Softdrinks, eingelegtes Gemüse, Ketchup, Mayonnaise und Aufschnitt, einmal sogar – ich schäme mich fast, das zuzugeben – ein paar Scheiben gekochter Hinterschinken. Kosher fraß alles mit einer Begeisterung, die mich immer wieder aufs Neue beeindruckte. Wie ein Schwein eben.

Aber das ist nicht die eigentliche Geschichte. Die eigentliche Geschichte handelt von jenem Abend, an dem wir wegen Koshers ungezügeltem Appetit Ärger mit den Nachbarn bekamen. Ab und zu kam es vor, dass Kosher, wenn sie einen kleinen Hunger verspürte oder ihr der Duft von etwas Köstlichem zu essen in die Nase gestiegen war, einen Ausbruchversuch unternahm. Sie zwängte ihre Schnauze unter dem Zaun durch und quetschte dann ihren muskulösen Schweinekörper durch das entstandene Loch. Normalerweise steuerte sie direkt die nächste Mülltonne an, kippte sie um und tat sich an deren Inhalt gütlich. Unsere Nachbarn hatten sich schon daran gewöhnt, ebenso wie ich mich daran gewöhnt hatte, mit einer Entschuldigung den Dreck wegzuräumen und Kosher mit einem Leckerbissen zurück in ihr Gehege zu locken. An besagtem Sommerabend, kurz vor Sonnenuntergang, musste Kosher jedoch, als sie ihre Schnauze in die Brise hielt, wohl etwas gewittert haben, das sogar noch besser roch als Müll: den rauchigen Duft von Grillfleisch. Sie brach aus und machte sich entlang der Strandhütten auf den Weg, bis sie die Quelle dieses Dufts schließlich gefunden hatte.

Was dann passierte, erfuhr ich von dem betroffenen Nachbarn, wenige Minuten nachdem Kosher ihm einen Besuch abgestattet hatte. Er hatte auf seiner Terrasse gesessen, an einem Gin Tonic genippt und das pastellfarbene Licht des verblassenden Sommertags genossen, während neben ihm auf dem Grill sein Abendessen brutzelte. Wie fast alle Hüttenbesitzer an diesem Strand stammte er aus New York oder Boston, ein gut situierter Geschäftsmann, vielleicht auch ein Anwalt, aber ganz bestimmt kein Mensch, der viel Erfahrung mit Schweinen hatte, es sein denn in Form von Schinken, Rippchen oder Speckstreifen. Das Trappeln der Hufe auf den Holzplanken schreckte ihn aus seinen Sommerträumen, und er erblickte ein hellrosafarbenes Geschöpf von der Größe eines kurzbeinigen Labradors, das bedrohlich grunzend die Stufen seiner Terrasse erklomm. Das war kein Hund. Kosher war ganz offensichtlich vom Duft des Grillfleischs angelockt worden, und als sie seine Quelle schließlich erreichte, kippte sie mit der Geschwindigkeit und Effizienz eines Einsatzkommandos den Grill um, schnappte sich das Steak unseres Nachbarn und machte sich damit aus dem Staub.

Kurz zuvor hatte ich Kosher füttern wollen und dabei bemerkt, dass sie verschwunden war. Ich folgte ihren Spuren am Strand – die meisten Nachbarn waren auf ihren Veranden und hatten gesehen, wie sie in Richtung Norden vorbeigetrabt war – und erreichte den Ort des Geschehens, nur wenige Minuten nachdem Kosher mit einem halb gegrillten Steak zwischen den Zähnen davongallopiert war. Glücklicherweise hatte das Opfer einen ausgeprägten Sinn für Humor, vielleicht war aber auch der Gin Tonic der Grund für seine gute Laune. Jedenfalls bog er sich vor Lachen, als er mir von Koshers Überfall berichtete. Ich entschuldigte mich mehrfach und bot an, in die Stadt zu fahren und Ersatz für sein Abendessen zu besorgen. Aber er winkte ab. Diese Geschichte, erklärte er, sei mehr wert als jedes Steak. Als ich ging, um mein flüchtiges Schwein wieder einzufangen, schüttelte sich der Mann noch immer vor Lachen.

Diese Tat war längst überfällig: Die Rache der Schweine fürs Barbecue. Hätten Schweine ihre eigene Mythologie – Heldengeschichten, die von Generation zu Generation weitergegeben würden –, dann hätte die tollkühne Tat meines Schweins darin sicher einen Ehrenplatz: Kosher, der Prometheus der Schweinewelt.

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