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Читать книгу: «Faber», страница 4

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Hier schien es leicht. Bis auf gelegentliche Blicke kümmerte sich niemand um ihn. Überhaupt schien hier jeder beim Essen ganz bei sich zu sein. Es ging ruhiger. Offensichtlich unterlag der Vorgang der Nahrungsaufnahme reduzierteren Regeln als der des alltäglichen Miteinanders. Die grobschlächtige Frau, die das Essen aufgetragen hatte und deren Stimme es auch war, die ihn zu Tische rief, saß nun in ein ganz anderes Wesen verkehrt bei den beiden geduldigen Mädchen und half ihnen beim Essen, was sie scheinbar noch nicht oder gar nicht aus eigenem Vermögen bewerkstelligen konnten. Sie war freundlich, sprach ihnen ermutigend und lobend zu und wartete mit fürsorglicher Geduld, wenn es einem der beiden Mädchen nicht gleich gelingen wollte, den Mund im rechten Augenblick geöffnet zum Löffel zu führen. Dann und wann blickte sie prüfend umher, wobei sich der milde Zug in ihrem Gesicht nicht änderte. Lediglich als ihr Blick auf Hans ruhte, hielt sie einen Moment länger inne als bei den anderen, als würde sie sich eine Frage stellen. Und auch, als die Mädchen wieder ihre Aufmerksamkeit forderten, blieben ihre Augen noch beim Drehen ihres Kopfes bei ihm, als wartete sie auf eine Bestätigung durch etwas Signalhaftes. Beinahe hätte Hans in seiner Bewegung innegehalten, doch war seine Aufmerksamkeit schlagartig bei sich selbst und ihm wurde bewusst, was ihn alles verraten könnte angesichts eines Menschen, der ihn sehr wahrscheinlich jeden Tag zu sehen bekam. Eine veränderte Körperhaltung, die Art, wie der Löffel in seiner Hand lag, seine Bewegungen beim Essen, sein Gang, sein Blick; all das erfasste die weiblich-mütterliche Intuition mit der Präzision einer Goldwaage. Bestimmte eigentlich das Gesicht den Blick eines Menschen oder dessen Geist?

***

Ein ihm noch unbekannter Johannes war vergangen. Hans trug ein Vermächtnis, das er nicht kannte, das er sich aber nutzbar machen und dessen Grenzen er nur in geringem Umfang und in kleinen Schritten weiten beziehungsweise verändern konnte und nun sogar musste. Er fand diesen Gedanken erhebend; nicht nur, weil sich hier ganz konkret ein fremdes Leben für ihn ins Nichts begeben hatte, sondern auch, weil er dies als eine Aufgabe des Lebens überhaupt in diesem Augenblick spürte. Die Mühen, die damit verbunden sein mochten, konnte er in diesem Moment nur erahnen. Er fragte sich, ob er jemals wissen würde, in welcher Art von Behausung er hier lebte, wie er es herausfinden könnte und welche Art von Notwendigkeit bestand, dies herauszufinden.

Bald würde er verstehen, dass es diese Notwendigkeit nicht gab und dass das Leben in einem Meer bereits etablierter Beziehungen die Leichtigkeit eines dahintreibenden Floßes haben konnte. Eine der wichtigsten und zugleich beruhigendsten Lektionen sollte sein, dass man sich bereits bestehender Beziehungen nicht vergewissern musste, um sie nutzen zu können. Sie hafteten an den Menschen, mit denen man im täglichen Verkehr stand. Sie waren das Band, das an den Gewohnheiten und den Regelhaftigkeiten der sich wiederholenden Begegnungen sichtbar und spürbar wurde; ja sogar in den Nicht-Begegnungen, die einer vergleichbaren Regelhaftigkeit unterlagen.

Er merkte das an der Unmissverständlichkeit, mit der die Derbe, deren Namen er nie erfahren würde, ihm zum Ende des Mittagessens einen Eimer hinstellte, damit er die Hinterlassenschaften der Kinder vom Tisch räumte. Er merkte es an der Unbändigkeit, mit der die Kinder aus der Waschküche in die Schlafsäle für die Jungen und Mädchen stürmten, in denen sie sich aufhielten, bis es zum nächsten Mahl ging.

Er merkte es an einem von drei Schreibpulten, das unbesetzt blieb und ihm durch seine Position im Raum gleichzeitig den Ort wies, an dem sein Bett stand, und an dem er nun den Strafaufsatz zu verfassen hatte, der ihm jäh wieder in den Sinn trat, als er den Federhalter und das Tintenfässchen entdeckte.

Er merkte es an dem grinsenden Starren, mit dem ihn ein kleiner Junge vom Nachbarbett aus unvermittelt und unbeirrbar fixierte, und in dem er keine klare Absicht erkennen konnte, wohl aber die mangelnde Vorsicht eines Menschen, der wusste, dass er das darf und dass sich bisher niemand daran gestört hatte und sich mit Sicherheit auch fortan nicht daran stören würde.

Er merkte das an der Ruhe, die alle Kinder unter offensichtlich unterschiedlich großer Kraftanstrengung hielten und die von langer Hand eingerichtet worden war, um ihm eine ungestörte Erledigung seiner schulischen Pflichten zu ermöglichen.

Er merkte es an der Konzentration der Jungen an den beiden anderen Schreibpulten, unter der sie es vermieden, mit ihm irgendeine Art von ablenkender Verbindung aufzunehmen.

Er merkte es an der explosionsartigen Unruhe, die entstand, als er nach Beendigung seiner Aufgaben alle seine Schulsachen geordnet und in seiner Tasche verstaut hatte, und auf die offensichtlich ein jeder ritualhaft gewartet hatte.

Er merkte es daran, dass das Mädchen, das ihn von der Schule abgeholt hatte, im Innenhof bereits auf ihn wartete, ihn mit einem Quieken rief, das er nun schon mit größerer Sicherheit als auf sich gerichtet deuten konnte und zu den anderen Mädchen zerrte, wo er ein Springseil zu drehen hatte, das an einem Treppengeländer angebunden war.

Er merkte es ferner an der Aufstellung in einer Reihenfolge, als es vor dem Schlafengehen zu Klo und Waschbecken ging, und in welcher man für ihn an der vordersten Position eine Lücke ließ, da ihm offensichtlich eine exponierte Stellung in der Gruppe zukam.

Und er merkte es schließlich daran, dass niemand die Kinder zu Bett brachte und ihm die Aufgabe zufiel, sich zu vergewissern, dass jedes ruhig in seinem Bett lag und, wenn das geschehen war, das elektrische Licht abzudrehen.

Am nächsten Morgen orientierte man sich wieder an den wichtigsten Koordinaten des Vortags und schritt sie quasi in umgekehrter Reihenfolge ab. Noch immer hatte die Derbe keinen Namen, aber eine klare Aufgabe in der Küche, noch immer wusste Hans auf eine nur sehr schemenhafte Weise, welches sein neues Zuhause war. Das Mädchen erwartete ihn bereits vor der Tür und offensichtlich würde sie ihn auch wieder zu seiner Schule begleiten. Wohin ging sie eigentlich im Anschluss?

***

So geschah es. Hans stand pünktlich zur gemeinschaftlichen Begrüßung neben seinem Pult. Als ein von Spannkraft angetriebener Lehrer die Klasse betrat, nahm man hörbar Haltung ein, wartete dessen Begrüßung ab und antwortete als einhelliges Echo. Auf ein „Bitte setzen!“ nahm man Platz und wartete mit auf den Lehrer gerichteten wachen Augen, bis dieser um das Verlesen der Hausaufgaben bat. Mit einer kaum merklichen Verzögerung des Griffes in seine Tasche vermied es Hans, das falsche Heft hervorzuholen. An den Heften seiner Mitschüler konnte er sehen, dass er sich im Naturkundeunterricht befand. Etwas mulmig griff er nach dem Heft, in dem er eine Hausaufgabe zu finden glaubte, die noch nicht aus seiner eigenen Hand angefertigt sein konnte, für die er aber jetzt einzustehen hatte. Bei allem, was er in den wenigen Momenten seines Daseins an diesem Ort bereits hatte in Erfahrung bringen können, durfte er keine allzu hohen Erwartungen an den Inhalt hegen. Er hoffte, dass er nicht unter den Vorlesern sein würde.

Die Wahl fiel auf ihn. Zögerlich nahm er sein Heft, stellte sich neben sein Pult, suchte nach dem zuletzt Geschriebenen und entdeckte einen Aufsatz mit der Überschrift: „Die Stichlinge im Weiher“. Wieder bemerkte er, dass niemand an seiner Zögerlichkeit Anstoß nahm. Sogar der Lehrer, den man mit Dr. Sackur begrüßt hatte, wohnte dem Vorgang, der sich für Hans in einer intensiv erlebten Verlangsamung der Zeit abspielte, mit strenger Nachsichtigkeit bei. Der Aufsatz umfasste kaum eine Seite in dem kleinen Schreibheft und Hans überflog den in auffällig unsicherer Schrift verfassten Text in der Hoffnung, etwas über die ursprüngliche Aufgabenstellung in Erfahrung zu bringen. Doch ließ sie sich aus dem, was er dort sah, nicht ableiten. Die Situation war also aussichtslos. Weder konnte er von der Aufgabe zurücktreten – mit welcher Begründung hätte er dies auch tun sollen, er hatte sie ja offensichtlich –, noch fühlte er sich in der Lage, auf die Schnelle einen neuen Text zu erfinden; zu welcher Aufgabe auch? Und so las er diese Gedanken eines einfachen Gemüts laut:

„Der Stichling wohnt in unserer Nachbarschaft und ist ein heiterer Geselle, mit dem wir uns gerne befassen wollen. Gerne beobachten wir sein geschäftiges Treiben, das nur einen Zweck verfolgt. Er ist bestrebt für die Sicherheit und das Auskommen seiner Sippschaft zu sorgen. Flink und pflichtbewusst, schnell und zackig bewegt er sich dabei. Er schwimmt bald hierhin und bald dorthin und dann wieder hierhin und verweilt dabei niemals müßig an einer Stelle. Klein und unauffällig erscheint er dem Betrachter. Doch das darf nicht täuschen. Er hat gewiss ein kaisertreues Wesen.“

Hans wollte im Boden versinken und fühlte sich von seinem Vorgänger verraten, der ihm diese Schmach eingebrockt hatte. Zu seiner Verwunderung gab es keine Schelte. Auch lachte niemand um ihn herum. Stattdessen ging es zügig weiter. Er spürte lediglich in dem Tempo, mit dem es zum Nächsten ging, dass man schnell mit ihm durch sein wollte.

Es wurden weitere Elaborate verlesen. Es ging um Frösche, Bienen, Katzen, Hunde, Hühner, Fliegen und Flöhe. Immer betonten die Vortragenden, welche Bedeutung diese Tiere für den Menschen hätten und Hans begriff schnell, dass es bei diesen Aufsätzen wohl um die Frage gehen sollte, welche Tiere in der Umgebung der Menschen lebten und was man mit ihnen zu tun hatte.

Einige waren von passabler Qualität und nicht selten erkannte man am Inhalt, dass der Verfasser auf eigene Tiere als Exempel zurückgriff. Einen Aufsatz über den Floh musste Hans hinunterschlucken, um sich vor einem verräterischen Prusten über diesen zu schützen. Er war noch unter dem von ihm Vorgetragenen, und das mit einigem Abstand. Seit einiger Zeit gab es von Regierungsseite aus Versuche, die Bildungsinhalte stärker zu popularisieren. Hier wurde das Scheitern dieser Bemühungen sichtbar. Wie sollte der Pöbel aus seinem gewöhnlichen Umfeld heraus die Welt auch nur annähernd in feste und klare Begriffe fassen, wie es die namhaften unter den Naturforschern vormachten? Und was machten solch erbärmliche Kreaturen auf einer doch offenkundig höheren Schule?

Über all diesen Gedanken stand jedoch eine Erfahrung, die ihn in seinem Innersten noch über die Maßen weit mehr ergriffen hatte. Hans hatte eben das erste Mal mit einer fremden Stimme vorgelesen. Es war seit seiner Ankunft hier das Erste, das er gesprochen hatte. Ging es bis zu diesem Punkt gut und gelang es ihm bis eben, sich in diese Welt einzupassen, so war er von dieser Stimme zutiefst erschrocken. Diese Stimme war nicht die Stimme seiner Gedanken. Sie war flach, jugendlich, schwächlich, unentschlossen. Sie zeigte ihm, dass die Stimme nicht wie der Körper ein Instrument war. Sie war Teil des eigenen Seins. Das lateinische Verb personare kam ihm in den Sinn. Durch die Stimme tönte die Persönlichkeit oder versteckte sich wie in seinem Fall. Er fühlte in seiner Stimme die Kleinheit, die er in den Augen anderer darstellen musste sowie das Ansehen, das er bei seinen Mitschülern und Lehrern genoss. In ihr war all die Unauffälligkeit, die man ihm abverlangte und auch ein Teil der versteckten Demütigungen, über die er noch einiges würde herausfinden müssen. Auf jeden Fall musste hier etwas geschehen. Er brauchte eine Stimme, wenn der Handel mit dem Dunklen für ihn zu einem nützlichen Unterfangen werden sollte. Diese Stimme fistelte peinlich vor sich hin. Er hatte fast das Gefühl, sie müsse jeden Augenblick abbrechen. Übte er sich nicht im Sprechen? Bei näherem Nachdenken wurde ihm deutlich, dass der gesamte gestrige Tagesablauf in seiner Planmäßigkeit kein Wort von ihm abverlangt hatte. Nicht einmal dann, als man ihm während seiner Hausaufgaben Rücksicht entgegengebracht hatte, war es nötig geworden zu sprechen. Hier musste er etwas ändern. Es war gewiss am Abend wieder seine Aufgabe für Ordnung zu sorgen und das Licht auszumachen. Er würde es ausprobieren, den Kindern etwas zu sagen und mit mindestens einem von ihnen zu reden.

Der Rest des Schultages verging erträglich. Er wurde nicht weiter behelligt. Auch auf dem Schulhof in den Pausen ließ man ihn. Die Mitschüler standen in Gruppen und machten das, was Schüler in den Pausen machen. Manchmal hatte er das Gefühl, dass Blicke ihn berührten und man ihn musterte. Vielleicht redete man sogar über ihn. Es war klar, dass eine Wesensveränderung stattgefunden haben musste. Sie konnte nicht verborgen geblieben sein. Hans wusste nicht, wie sich sein Vorgänger bewegt hatte, wie er ging und wie er redete. Er hatte keine habituelle Orientierung. Er konnte nur erahnen, was man von ihm erwartete und dies gemäß seiner eigenen Kenntnisse, die er von ebensolchen Menschen hatte, imitieren, so gut es eben ging. Aber die menschliche Wahrnehmung, vor allem die von Schülern, war in dieser Hinsicht empfindlich. Man konnte einen vertrauten Menschen aus einer Entfernung von hundert Metern am Gang erkennen. Man konnte aus der Stimme eines Menschen erkennen, ob es ihm gut ging oder ob ihm etwas auf der Seele lag. Schon geringe Änderungen im Wesen eines Menschen konnten einen zweifeln lassen, ob jemand noch derselbe war. Insofern mussten auch seine Mitschüler etwas gemerkt haben. Wenn jemand sich plötzlich normalisiert oder verbessert und dadurch aus dem Gewohnten springt, kann er schnell für verrückt gehalten werden. Andererseits realisierte er aber auch die Notwendigkeit, etwas zu ändern. Er konnte nicht so bleiben, wie er war. Er war weißgott ausbaufähig. Das merkte er in allem, was er tat. Er hatte einen Ruf, der inakzeptabel war. Er hatte eine Stimme, der ein Scheitern innewohnte. Seinen Körper kannte er noch nicht. Aber er konnte an ihm nichts aussetzen, denn er war jung und unverbraucht; vielleicht nicht der kräftigste, aber in keinem Falle schlecht genährt. Ein Aussehen hatte er noch nicht. Er hatte im Bad gedankenlos nicht in den Spiegel geschaut; das würde er heute nachholen. Sein körperliches Sein fühlte sich nicht unangenehm an. Er schien leicht und beweglich und auch normal gewachsen. Seine Hände waren durchschnittlich, doch hatte er den Eindruck, dass er sich besser nicht auf Prügeleien einlassen sollte. Trotz seiner Jugend fühlte er sich überlegen, ob seines Abstandes, den er innerlich allem gegenüber spürte, erhaben.

Kurz vor dem Ende der Schulzeit überlegte er, ob es eine Möglichkeit geben würde, den Heimweg zu verlangsamen oder einen anderen Weg einzuschlagen. Er müsste sich einen Überblick verschaffen über die Gegend, in der er jetzt zuhause war. Er war außerdem neugierig auf sein Äußeres, das er gerne in einem Schaufenster betrachtet hätte. Und ferner galt es zu überlegen, an welchen Orten er dem Dunklen wohl begegnen könnte. Überhaupt schien ihm dies als die vordringlichste aller Fragen. Doch gleichzeitig wusste er auch, dass es eigentlich für den Dunklen nichts zu bereden geben konnte, so wie er auch ahnte, dass sich der Dunkle nicht ohne Weiteres würde rufen lassen. Bei diesem Gedanken wurde ihm bewusst, dass er den Dunklen überhaupt bisher noch nicht gerufen hatte. Er war ihm begegnet. Und die Begegnung ging nicht von ihm, sondern vom Dunklen selbst aus. Der Ort schien dabei gleichgültig. Die erste Begegnung hatte in einer Kneipe stattgefunden, die zweite in seinem Arbeitszimmer, die dritte in seinem Hause. Alle Orte hatten nichts Verbindendes; nur dass sie nicht gerade den Anstrich geheimer Treffpunkte für konspirative Zusammenkünfte hatten, mehr oder weniger öffentliche Orte waren und vor allem jene, an denen sich sein Dasein in den letzten Momenten hauptsächlich abgespielt hatte. Der Dunkle schien keine Vorsicht nötig zu haben.

Wie schon am Vortage wartete das irre Mädchen wieder vor der Schule auf ihn. Dasselbe Spiel. Sie sprang von einem Bein auf das andere und quiekte dabei, wartete, bis er bei ihr war ohne ihm selbst entgegenzulaufen und lief los, sobald sie seine Hand ergriffen hatte. Es ging wieder vorbei an denselben Straßen und Anlagen. Gespenstisch schnell gelangten sie in die engen Häuserschluchten und eh er sich’s versah, stand er auf der oberen Treppenstufe seines Wohnhauses. Das Mädchen daneben rührte sich nicht. Er erinnerte sich an die Trachtprügel, die er mit großer Wahrscheinlichkeit erhalten hatte, weil er klopfte, obwohl er im Besitz eines Schlüssels war. Er nestelte nach seinem Schlüssel, den er gestern an einem Band um seinen Hals hatte und stellte fest, dass er ihn heute nicht trug. Offensichtlich hatte er am Morgen vergessen ihn umzulegen. Es kam zum nämlichen Ablauf. Er klopfte, zögerlicher als gestern, wartete, bis sich hinter der Tür wieder etwas regte, die Tür sich öffnete, zwei Hände ihn jäh in den Flur zogen und verdroschen. Neben der am Vortage bemerkten Routine hatte er heute das Gefühl, dass sich auch eine gewisse Freude an diesem Akt in den Vorgang mischte. Als er zu sich kam – diese Hände hatten gewaltige Kräfte und vermochten trotzdem, keine spürbaren und sichtbaren Spuren zu hinterlassen –, war das Mädchen bereits wieder in der Waschküche verschwunden, aus der der nun schon vertrautere Lärm und die kraftvolle Stimme der Derben drang, die nach ihm rief.

Bei Tisch hatte Hans einen Einfall. Er konnte nicht einfach fragen, ob er hinaus dürfe. Die Frage barg zu sehr die Gefahr, dass er dadurch zu erkennen gab, keine Kenntnis in Dingen zu haben, in denen er sie eigentlich hätte haben sollen. Aber er selbst konnte ja etwas Zwingendes erfinden, mit dem sich das Außerordentliche rechtfertigen ließ. Eine naturwissenschaftliche Hausaufgabe. Er wusste nicht, wie er die Derbe anzusprechen hatte. Darum wartete er darauf, bis es bei Tisch wie am Vortage wieder ruhiger wurde und bis ihr Blick wieder den seinen traf. So geschah es denn auch. Am Tische der geduldigen Mädchen sitzend ließ sie prüfend ihren Blick durch die Menge der Kinder wandern und als sie bei Hans ankam, suchte dieser etwas stotternd nach den einfachsten Worten, die ihm einfielen:

„Ich … wir müssen für den Naturkundeunterricht …“, seine Stimme nervte ihn. Sie war kaum hörbar und fand hauptsächlich in Nase und Stirn statt. Aber gelegentliche Wiederholungen in seinen Äußerungen schienen zweckdienlich. Sie verschafften ihm Gehör und evozierten gleichzeitig die Einfachheit, die man offensichtlich von ihm erwartete. „… für den Naturkundeunterricht müssen wir Blätter sammeln. Darf ich dafür nachher hinaus?“ Wieder war da dieses prüfende Zögern in ihren Augen. Offensichtlich wurden in diesem Hause gelegentlich Worte gewechselt. Anderenfalls hätte die Derbe entschieden anders reagiert. Aber es musste auch etwas geben, das sie bemerkte, das anders war und auf das sie innerlich reagierte. Hans sah das Gefühl der Befremdlichkeit in ihr hochsteigen. Er sah, wie es an ihrem groben Sinn abprallte und Ahnung bleiben musste, urteilslose Ahnung. Das, so dachte er, war das dumpfe und dunkle Gemüt des Weiblichen, das er so unerträglich fand in seiner begriffsschwachen Simplizität. Es war das, was die meisten Frauen, nicht die Frauen schlechthin, aber doch die Frauen durchschnittlichen Gemütes vom Manne unterschied und weshalb die wirklich wichtigen Geschäfte in den Händen des Mannes lagen. Ihm kam seine Frau in den Sinn. Sie war anders. Sie hatte sich gewiss auch untergeordnet und in eine Rolle begeben, die ihr auf den Leib geschrieben war. Aber sie tat dies bei vollem Bewusstsein, so wie sie sich inzwischen wahrscheinlich auch bei vollem Bewusstsein bereits das Leben genommen haben würde. Konnte er das in Erfahrung bringen?

„Wenn du raus musst, machst du das nach deinen Hausaufgaben. Du hast eine halbe Stunde. Und nimm Irma mit!“ Hans musste nicht lange überlegen, um wen es sich dabei handelte. Das unbegreifliche Mädchen strahlte ihn an, weil auch ihr eine Einbildung dabei half, eine Verbindung zwischen ihrem Namen und der Konversation herzustellen, die Hans gerade mit der Derben führte. Und dieselbe auch in Hans wohnende Einbildungskraft war es, die ihm von diesem Vorgang Auskunft gab.

Hans erledigte alle Obliegenheiten, bis der Moment kam, da er das erste Mal quasi eigenständig vor die Tür treten durfte. Irma wartete bereits vor der Tür. Eine urwüchsige Begeisterung drückte sich in unkontrollierten Bewegungen der Arme und Hände aus. Erst als er näher kam, streckte sie die Hand aus, die er wieder nahm, und verlagerte ihre Kräfte in die Beine, die sofort loszulaufen schienen, als wäre ihnen das Ziel bereits bekannt. Ihm fiel auf, dass es hier ungewöhnlich viele Bäume gab. Trotzdem schien sie ein Ziel anzusteuern. Ihre Hände hatten einen überraschend festen Druck. Er war nicht übermäßig stark, aber doch so dosiert, dass man bei einer Befreiung aus diesem Druck eine Anstrengung hätte unternehmen müssen, mit der man einen deutlichen Willen kenntlich gemacht hätte. Es ging hier offensichtlich gerade nicht nach seinem Willen. Wie sollte das auch geschehen? Das Mädchen hatte keinen blassen Schimmer von seinen Hausaufgaben. Aber sie schien ortskundig. Es ging durch eine Reihe von mit Wohnhäusern bebauten Straßen durch zwei oder drei Straßen, die mit Geschäften gesäumt waren. Das Mädchen zog und Hans hatte das Gefühl, als ginge es immer schneller. Schließlich wurde es um ihn herum dunkler und grüner. Es schien in eine Art Hain zu gehen und er sah, dass sie an einen mit Bäumen umwucherten Weiher kamen. Hier flanierten die feineren Bürger des Viertels in der hanseatischen Gezwungenheit, zur Schau zu stellen, was man hatte und was man war. Ein nahe gelegenes Krankenhaus entließ die Genesenden an die frische Luft. Offensichtlich hatte Irma doch etwas verstanden und führte ihn an diesen Ort, an dem man Blätter sammeln konnte. Trauerweiden, Eiben, Buchen, Linden und Kastanien konnte er schon von weitem unterscheiden. Der See war von Enten bevölkert, die sich willig vom einfachen Volk füttern ließen, das aus unerfindlichen Gründen nichts Sinnvolleres zu tun hatte.

Unbeirrbar zog Irma Hans auf den See zu, bis sie losließ und alleine bis an das Wasser rannte, dort auf die Knie fiel und gebannt in das Wasser starrte, als würde sie dort etwas suchen. Mit einem übernatürlichen Lachen, rief sie ihn zu sich, weil sie offensichtlich etwas entdeckt hatte, das zu zeigen ihr wert schien oder dessen Wichtigkeit zumindest von ihr in einer Weise empfunden wurde, die zu dieser Geste führte.

Hans kniete neben Irma, die hier ganz still wurde. Das Wasser stand ruhig und roch faulig. Er sah die chemischen Prozesse, die unter Sauerstoffabschluss ablaufen mussten. Die winzigsten Bewohner zogen aus den Resten höher entwickelter Organismen ihren Teil an Energie und setzten dabei Stoffe frei, aus denen sich die nächstniederen Lebewesen wiederum ihren Anteil nehmen durften. Irma teilte die Blätter und einige angespülte Pflanzenteile, die hier von einem vergitterten Durchlauf gehalten wurden, scheinbar ohne Ekel. Darunter konnte Hans ins Wasser schauen, in dem er zunächst nichts als aufgewühlte Trübnis, dann aber mehr und mehr Einzelheiten sehen konnte, wie wenn man sich an Dunkelheit gewöhnt. Der Boden erschien vor seinen Augen. Er lag nicht tief unter der Oberfläche und war von Wasserpflanzen bevölkert, von Kaulquappen, von Gelbrandkäfern, Libellenlarven und Stichlingen. Stichlinge! Irma zeigte ihm Stichlinge. Sie schaute ihn mit einem vor Freude entstellten Grinsen an, als sie sah, dass auch sein Blick diese Fische entdeckte. Es schien, als habe sein Vorgänger sich hier seine Inspiration für den Text geholt, den Hans schließlich vorzutragen hatte. Die Wasserbewohner blieben ruhig unter Irmas Hand und schienen nicht verstört. Eine Libellenlarve verspeiste unbeirrt einen kleineren Wasserbewohner, der Gelbrandkäfer füllte an der frei gewordenen Wasseroberfläche seinen Luftvorrat auf und ein Stichling bereitete sich durch einen wilden Tanz auf die Paarung vor. Irma zeigte ihm hier einen Teil jener ewigen Ordnung des Überlebens, Fortpflanzens und Vergehens, wo sein Vorgänger Kaisertreue und vorauseilenden Gehorsam gesehen hatte. Immerhin dachte Hans jetzt mit einem leichten Lächeln an den Fortschritt, den er damit zumindest innerlich erreicht haben sollte. Die Welt erschloss sich dem auf Moleküle fixierten Hans nun auch in den zwingenden Zusammenhängen, welche die Individuen aneinanderschweißten, ob es ihnen lieb war oder nicht. Ob das arme Mädchen eine Ahnung von dem hatte, was es Hans offenbarte, war nicht zu sagen. Aber an eine zufällige Zusammenstellung der natürlichen Zeichen konnte Hans nach alledem, was er bis jetzt bereits gesehen hatte, nicht mehr glauben. Er war bisher in der Chemie zuhause, die ihm in diesem Augenblick armselig erschien. Aber er schien für Höheres vorgesehen zu sein. Der Dunkle hatte ihn auserwählt. Hans hatte nicht nach ihm verlangt, hatte nach gar nichts verlangt. Er war gekommen und hatte ihm eine größere Welt offeriert als die, die er bis dahin bewohnt hatte. Hans war jetzt in doppelter Hinsicht über den Mikrokosmos hinaus. Und in einem neuen Diesseits hatte er etwas zu bewirken. In welchem Irrtum hatte er gelebt, da er glaubte, die Welt der Moleküle verlange seine Dienste! Eine Welt, mindestens zwei Stockwerke über seiner gewohnten, verlangte ihren Tribut. Sie benötigte ihn. Er hatte hier eine Aufgabe, die er freilich erst definieren musste.

Auf dem Heimweg begab es sich, dass Hans und Irma, die mit festem Händedruck wieder seine Hand hielt, in eine Szene gerieten, die mit einer gewissen narrativen Notwendigkeit eintrat, wenn auch etwas früh, angesichts der kurzen Zeit, die Hans hier erst verweilte, und die ihn vor eine erste große Prüfung seiner Eignung für diese neue, wenn auch nicht ganz so neue, Umgebung stellte. Irma verlangsamte das gewohnt hohe Tempo und gab Hans auf diese Weise zu verstehen, dass Gefahr drohte. Hans sah sie herannahen in der Gestalt von vier Jungen aus seiner Klasse, die seiner gewahr wurden und mit gierigem Blick sich auf ein Geschäft einstellten, für das offenkundig kein detaillierter Plan, noch irgendeine Art von Absprache notwendig war. Auch sie verlangsamten das Tempo und machten sich auf dem Wege breit, so dass ein Vorübergehen wie an Menschen, die man in einem Augenblick aus Versehen übersah, nicht möglich war. Es musste also zu einer Konfrontation kommen, deren Verlauf Hans nur insoweit abschätzen konnte, wie er mit dem typischen Ablauf gleichartiger Situationen bereits vertraut war. Zu Handgreiflichkeiten würde es gewiss nicht kommen, denn der Park war von Menschen bevölkert, die einer Rauferei sofort ein Ende gesetzt hätten. Zudem war zu erwarten, dass Irma wie eine Sirene anschlagen würde. Es konnte also höchstens zu leichtem und heimlichem Gerangel kommen, das in Kauf zu nehmen war. Wahrscheinlich waren auch einige Verbalinjurien zu erwarten. Hier allerdings galt es vorsichtig zu sein. Hans hätte diese durchschnittlichen Geister leicht in die Tasche stecken, er hätte sie in Grund und Boden reden können. Nur hätte er sich dadurch in einer Weise zu erkennen gegeben, die zu diesem Zeitpunkt zu früh war und Wirkungen entfalten konnte, die nicht abschätzbar waren. Außerdem waren diese dumpfen Gemüter nicht in der Lage, derart viel Bedeutung aufzufassen. Entweder wären sie überrascht, gar erschrocken oder es würde an ihnen abprallen und sie würden ihr Gebaren in der Art fortsetzen, in der kleine Hunde ein im Wind bewegtes Gebüsch anbellen und nicht zu begreifen in der Lage sind, dass da etwas vor ihnen steht, das nicht für ihre Welt gemacht ist. Was sollte er also tun? Er musste eine intensive Begegnung vertagen, sich aber die Gesichter merken. Angesichts der Zeitvorgabe, die er hatte, durfte er sich hier nicht aufhalten. Konnte Irma laufen? Er dachte darüber nach, die Unfähigkeit der Kontrahenten, Aufsehen zu erregen, auszunutzen und die feindliche Linie zu durchbrechen. Mit auf den Boden gerichtetem Blick steuerte er auf die größte Lücke der Gruppe zu, sorgte durch einen Händedruck seinerseits dafür, dass Irma ihm nicht entgleiten konnte, wartete, bis man so nah an ihnen war, dass ihre Reaktionen nur verzögert geschehen konnten und rannte dann los, in der Hoffnung, dass niemand auf die Idee kam, ihnen zu folgen. Er hörte noch, wie man ihnen, aber vor allem ihm, hämisch nachrief: „Was machen die Stichlinge?“ oder „Marschieren sie schon?“ und darüber laut und rau lachte. Irma folgte verständig mit lauten und patschenden Schritten. Sie konnte nicht so schnell laufen wie er, aber es reichte, um außer Sicht- und Rufweite zu gelangen. Die vier schienen kein weitergehendes Interesse an Hans zu haben, womit diese Episode zu einem schnellen und glimpflichen Ende kam. Nichtsdestotrotz war auch dies für Hans erhellend und informierte ihn einmal mehr über seinen Stand. Und ähnlich wie er zuvor in dem Wasser hatte lesen dürfen, war er auch für diese Botschaft empfänglicher, als sein Vorgänger es vielleicht gewesen sein konnte. Er hatte hier bald etwas zu erledigen.

Am nächsten Tag sah er die vier Gesichter seiner Kontrahenten in der Schule und nutzte die Gelegenheit, sie genauer zu studieren. Sie waren allesamt nicht mit besonderer Intelligenz gesegnet. Auch taten sie sich nicht durch besondere Tugenden oder Begabungen hervor; von Verdiensten ganz zu schweigen. Ihr Antlitz hatte etwas Kollektiv-Grobes und schien das Ergebnis fortwährender Übung in Überheblichkeit und Geringachtung zu sein. Warum sie dennoch in der Klasse ein gewisses Ansehen bei den Mitschülern genossen, war hier wie an anderen Orten auch mit den Mitteln des unvoreingenommenen Verstandes nicht zu ergründen. Es schienen die einfachen Kompetenzen zu sein, die die meisten Menschen in dieser Zeit für nachahmenswert hielten. Es war leichter, sich in Grobschlächtigkeiten wie der Frechheit, der Verschlagenheit, der Beschimpfung, der Prügelei, aber auch des Kadavergehorsams und der Unterwürfigkeit zu üben, als in dem Begreifen von eben den Zusammenhängen, die das Geschick der Welt bestimmten. Warum sollte man sich also durch intellektuelle Anstrengungen hervortun, noch dazu, weil man sich ja schließlich seit einiger Zeit auf politischem Gebiete im Kriegszustand befand, auch wenn in dieser Region gegenwärtig noch nicht viel davon zu spüren war. Der Krieg forderte schon immer dieses besondere Opfer von den kriegführenden Ländern, dass man Unterstützung und Teilnahmebereitschaft in der Bevölkerung nur erreichen konnte, indem man die höheren Verstandesleistungen nicht mehr förderte und den Menschen auf kollektiv tragfähige Affekte einschwor, mit denen die Menschen seit eh und je leichter für etwas zu gewinnen waren als mit der Überzeugungskraft guter Gründe. Waren das hier schon die Vorboten? Die intellektuelle Welt hatte sich schon seit einiger Zeit gegen diese Art von Gehorsam gewehrt. Ein arbeitsloser Schuster hatte der Stadt Berlin und wahrscheinlich auch dem Rest des Reiches gezeigt, wohin man es mit einer Uniform bringen konnte, indem er ein Regiment stahl und es benutzte um einen Bürgermeister für die Zeit von vierundzwanzig Stunden zu entmachten. Mit diesen dumpfen Geistern hier wuchsen gehorsame Soldaten heran, die mit einem Lächeln auf den Lippen und der Unfähigkeit, nach dem Warum zu fragen, in die Schlacht ziehen würden, deren Verlauf sie sich vorher nur in Form einer Wunschvorstellung vergegenwärtigt hatten.

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9783750218291
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