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Читать книгу: «Faber», страница 7

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Als die Truppe weit genug entfernt war und er gewahrte, dass sich kein Spaziergänger durch diesen Vorfall aus der Ruhe seines Nachmittagsspazierganges hatte bringen lassen, weil sich in ihm vielleicht eine Regung der Hilfsbereitschaft bildete, erhob er sich langsam und unter starken Schmerzen. Er sah sich um und blickte auf die regungslose und wartende Irma. Das Nasenbluten ließ sich glücklicherweise mit dem kühlen Wasser des Sees bald stillen. Die Schmerzen und Prellungen blieben aber spür- und sichtbar. Die Knie zitterten ihm vor innerer Aufwallung. Kaum konnte er aufrecht stehen. Das Wasser ließ er eine Weile am Ufer von sich ablaufen, bevor er zu Irma ging, die sich ohne Anzeichen von Widerwehr oder Abscheu in seine von Schlamm, Blut und Dreck überzogenen Hände begab und mit ihm den Heimweg antrat. Am Eingang blieb sie unten an der Treppe stehen und ließ ihm den Vortritt, denn schließlich hatte er ja den Schlüssel. Doch bevor er diesen in die Hand bekommen konnte, öffnete sich die Tür und die ihm inzwischen bestens bekannten Hände zogen ihn zu einer überdimensionierten Abreibung in den Flur, die ihm inzwischen so erwartbar, wenn auch immer noch nicht gänzlich erklärbar schien. Er wurde in einem Maß verdroschen, für das er bisher kein Beispiel hatte. Ihm schien, dass das volle Bewusstsein, bei dem er blieb, ein Teil der Strafe war, die er dieses Mal erhielt und in dem er zu realisieren hatte, dass all die Schläge, die er empfing, an all diejenigen Stellen gingen, an denen ihn zuvor die Tritte der Vier getroffen hatten. Es erschien ihm wie eine Wohltat, als es ihm nach endlosen Minuten des Drangsals endlich gelingen konnte, in eine Ohnmacht zu fallen, die ihm ein schützendes Nichts bot, in dem er für einen unendlich kurzen, aber im Verhältnis zu den Hieben, die er hier empfing, hinreichend langen Zeitraum in ein dankbar empfangenes Asyl eintreten durfte.

In einem Nebenraum des Esssaals erwachte er wieder. Er lag vor einem Fenster auf dem Kachelboden und fror. Draußen war es inzwischen dunkel und er konnte nicht abschätzen, was die Uhr zeigen würde. Ein fahles Licht erhellte den Raum so weit, dass er erkennen konnte, worum es jetzt ging. Es standen Körbe voller dreckiger Wäsche um ihn herum. Sie schienen wohl von sämtlichen Kindern der Räumlichkeiten zu stammen. Er brauchte nicht nachzudenken, um zu wissen, dass er hierfür bis zum Morgengrauen Zeit hatte. Und er sah den Zusammenhang dieser Strafe mit der Erscheinung, die er nach dem Gemetzel am Weiher abgegeben haben musste. Erleichternd, aber auch wundersam wie unheimlich war der Umstand, dass ihm sein Körper zwar immer noch schmerzte, als würden hundert Füße in ihm stecken. Aber immerhin war von all den Verletzungen, die er am Tage erhalten hatte, nichts mehr zu sehen. Auch war seine gesamte Kleidung wieder heil und trocken und vom Staube befreit. Ihm kam der Gedanke in den Kopf, dass die hier nun schon so oft erfahrenen Schläge eine Art von Heilung oder Reinigung sein müssten und von daher vielleicht sogar etwas Notwendiges hätten.

„Ich kann dir darüber leider keine klare Auskunft geben. Und selbst, wenn ich es könnte; ich bin mir nicht sicher, ob ich es tun würde“, erklang eine bekannte Stimme hinter ihm. Erst jetzt bemerkte Hans, dass das zögerliche Licht im Raum von keiner vorhandenen Lichtquelle kam, so dass er sich fragen musste, ob der Dunkle dieses Licht erzeugte oder ob es vielleicht doch noch Tag war und er ihm nur das Licht nahm. „In deiner Logik“, setzte der Dunkle hinzu, „würde es wahrscheinlich Sinn ergeben, wenn auch das sogenannte Böse eine Art Reinigung zum Bösen bräuchte. Wobei ich mich in der Tat frage, wie ich mir das gereinigte Böse eigentlich vorzustellen hätte. Und wovon hätte man es dann eigentlich gereinigt? Andererseits muss ich dem menschlichen Denken diese Logik auch wieder zugestehen, da der Mensch sie aufgrund seines begrenzten Sinnes einfach zum Leben nötig hat. Es ist wie mit einem guten Katholikenwitz, den ich vor Längerem mal gehört habe und über den ich immer noch herzhaft lachen kann: Ein armer Sünder kommt in die Hölle und wird vom Teufel persönlich sehr herzlich empfangen. Der Teufel führt ihn herum und zeigt ihm all die Annehmlichkeiten der Hölle, über die der Neuankömmling sehr verblüfft ist. Da sind Restaurants, türkische Bäder, Tanzbars, Jazzclubs, Theater, Autorenlesungen längst verstorbener Größen der Literatur, Strände und grüne Wiesen, Jahrmärkte und Schießbuden; kurz: alles, was das Herz begehrt. Nach einer Zeit fällt dem Neuankömmling ein mit Holz notdürftig verschlossener Verschlag auf. Es dring ein wenig beißender Gestank von Rauch und verkohltem Fleisch heraus, aber auch von Schwefel. Es ist durch einen schmalen Spalt eine heiße, glimmernde Glut erkennbar und man hört das Gestöhne und Geschreie vieler gepeinigter Seelen. Der Neuankömmling hält inne und fragt den Teufel nach diesem Bereich, worauf der nur lakonisch antwortet, dass dies der Bereich für die Katholiken sei, die das so wollten.“ Kurz schüttelte sich der Dunkle in einer bizarren Lebhaftigkeit vor Lachen, bevor er Hans‘ ausbleibende Einstimmung bemerkte und fortfuhr:

„Aber lass dich mal anschauen. Du hast dich ja prächtig entwickelt. Aus dir ist ein richtiger Volltreffer geworden.“ Diese Art von Frohsinn fiel bei Hans selbstverständlich auf keinerlei fruchtbaren Boden, aber vielleicht war er auch einfach nicht schnell genug um mit dem emotionalen Tempo mitzuhalten, dem er hier begegnete. Er steckte gewissermaßen immer noch in dem See, in den man ihn heute geworfen hatte. Die Folgen davon ummantelten ihn mit einer dicken Kruste getrockneten Schlammes, der aus sich verdichtenden und verwirrenden Gefühlen bestand und den er immer noch an sich fühlte und so bald nicht loswerden würde.

„Ist das alles, was du an Licht in diesem Raum zu erschaffen vermagst?“, warf er zurück. „Etwas dürftig für jemanden, der normalerweise ganze Seelen an- und ausschaltet, oder?“

„Ich sehe“, antwortete der Dunkle, „du hast einen harten Tag gehabt und ihn noch nicht vollständig verarbeitet. Dazu kommt ein Haufen unbeantworteter Fragen und ungelöster Probleme; alles vollkommen normal angesichts derart grundsätzlicher Veränderungen, wie du sie hier gerade durchmachst. Glaub mir, du hast es wirklich gut getroffen. Es ist nicht immer leicht, eine ideale Ausgangslage für jemanden zu schaffen, der einen Neuanfang wünscht.“

„Heißt das“, forschte Hans, „dass du das hier schon öfters gemacht hast?“

„Ich hatte das in einem unserer letzten Gespräche doch eigentlich bereits, wenn auch eher implizit, angedeutet. Aber das ist nicht von Belang und man sollte dieser Frage nicht nachgehen. Es ist in jedem einzelnen Fall, von denen es übrigens nicht die Anzahl gibt, die du dir vielleicht vorstellst, etwas völlig Neues. Keine Zeit gleicht der anderen, keine Seele gleicht der anderen. In jedem einzelnen Fall gibt es sozusagen eine absolut individuelle Betreuung des Vorgangs.“

Für Hans klangen diese Ausführungen wie Nachbesserungen. Darum unterbrach er ihn mit erhobener Stimme: „Was ich hier gerade erlebe, ist die Hölle. Ich habe das Gefühl, in diesem Leib gefangen zu sein. An ihm kleben Unreife, Dummheit, Adoleszenz, Pennälergestank und eine Vorgeschichte, die mich in den Wahnsinn treibt. Manchmal habe ich sogar das Gefühl, dass dies alles bis hinein in das Gehirn kriecht und meinen Verstand verseucht. Ich bin nicht mehr ich selbst.“

Bei dem Wort Hölle musste der Dunkle ob der ungewollten Komik in dieser Äußerung lächeln. „Oh doch!“, entgegnete er. „Du bist wahrscheinlich so sehr du selbst, wie du es noch nie in deinem gesamten Dasein warst. Was du im Augenblick erlebst, hat damit zu tun, dass du ein paar Irrtümer mit dir herumträgst, die in der Natur der Sache liegen. Du glaubst, du könntest einen vollkommenen Neuanfang machen; so neu, dass du sogar dich selbst auszutauschen wünschst. Doch siehst du hoffentlich selbst das Problem dieser Logik. Wer bliebe denn übrig, wenn du auch dein Ich austauschtest? Dann wäre nicht dir dein Wunsch erfüllt worden, sondern irgendjemandem und du wärst geraden Weges ins Nichts befördert worden. Du hättest nicht den Bruchteil einer Sekunde von deinen erworbenen Privilegien genießen können. Und an dieser Stelle, wenn du dies erst einmal verstanden hast, erscheint am Horizont dein nächster Irrtum. Du möchtest sofort alle Vorzüge unseres Handels genießen können. Du möchtest frei sein von allen Beschwerden, Ängsten, Zu- und Abneigungen, Gewohnheiten und Neurosen, von allen Ticks und Schrullen, damit dir die Welt zu Füßen liegt und alle dich lieben und bewundern, so dass du quasi zaubern kannst ohne zaubern zu müssen.“ Eine vage Peinlichkeit stieg in Hans auf. Der Dunkle fuhr fort: „Aber genau hier liegt das Grundproblem und keine Macht der Welt könnte dies aus der Welt schaffen. Du gehst durch diese neue Welt und begegnest ihr als der, der du auch im letzten Jahr schon warst, nur dass du jetzt weniger trinkst, nicht mehr so stinkst und besser aussiehst. Aber deine Erinnerungen kann dir keiner nehmen, weder die klaren und letzten, noch die verschwommenen und alten, die dich in deinen Tiefenschichten geformt und zu dem gemacht haben, der du eben bist. Und mit eben diesen Erinnerungen, mit eben diesem Wesen begegnest du dieser Welt. Was du nun wahrnehmen musst, sind die Grenzen und Möglichkeiten, die sich aus ebendieser Begegnung ergeben. Du magst als Chemiker der Natur schon so manches abgetrotzt haben, das sie von sich so niemals zuwege gebracht hätte. Aber die Metaphysik steht nicht zur Disposition. Daran könnte nicht einmal ein Gott rütteln. Das sage ich nicht, weil ich damit eine derartige Weltordnung verteidigen wollte, sondern um dir zu verdeutlichen, welchen Status dein Ich in dieser Welt hat.“ Hans fühlte Verwirrung. Er wusste nicht, ob er die Schuld an seinem Zustand und seiner Unzufriedenheit, sein Gefühl, betrogen worden zu sein, sich selbst oder dem Dunklen oder dem Universum zuschreiben sollte. Aber es war da und Hans wusste, dass es absurd sein würde, den Dunklen zu fragen, ob es einen Weg zurück gäbe.

„Verrätst du mir bitte, was an mir gut getroffen sein soll?“, forschte Hans weiter.

„Du bist gut getroffen, weil die Wahrscheinlichkeit, einen passenden Menschen zu finden, der dir ein größtmögliches Entwicklungspotenzial bietet, extrem gering ist. Zunächst einmal darfst du keinen zu großen zeitlichen Sprung machen. Du würdest kaum einen Tag in einer Welt überleben können, die du nicht kennst. Dann darfst du aber auch keinen Menschen abbekommen, der dich zu sehr festlegt. Stelle dir vor, du wärst etwas älter und Künstler oder Pferdehändler oder Sohn eines Bauern. Hier bist du an einem Ort, der dir sehr viele Möglichkeiten bietet, dich aber gleichzeitig vor unerfreulichen Ansprüchen schützt, wie du es sicherlich bereits festgestellt hast. Aber ich sehe, wir sind an der Fragestunde angekommen. Also nur frei heraus! Zeig mir deinen unverstellten Wissensdurst. Lass dir aber gleich gesagt sein, dass ich dir nicht alle Fragen beantworten werde.“

„Ich habe gesehen, dass meine Frau sich das Leben genommen hat. Es stand in der Zeitung. Was war der Anlass?“ Hans fragte dies mit einer merkwürdigen Vorahnung, dass er hier an einen heiklen Bereich ging. Doch der Dunkle antwortete unerwartet auskunftsfreudig: „Du natürlich“, und machte eine lange Pause, als wartete er auf eine Reaktion. Dann fuhr er fort: „Das wird dir jetzt vielleicht merkwürdig vorkommen. Aber als du aus deiner Welt verschwunden bist, bist du das für deine Mitmenschen nicht in derselben Weise. Du warst eine recht traurige Gestalt an der Grenze zur absoluten Vereinsamung. Kaum jemand hat wirklich vernehmen können, was in dir vorgegangen ist. Nachdem du von Hans zu Johannes wurdest – du solltest dich übrigens schnell an den Namen gewöhnen, sonst werden deine Probleme nur größer –, blieb dein Körper am Leben. Er benötigt dich ja zum Leben auch nicht wirklich, wie du an allen niederen Organismen ohne höheres Ich sehen kannst. Das Herz schlägt weiter, die Nerven bleiben intakt. Der Stoffwechsel läuft weiter und dass die Nahrungsaufnahme sogar dann funktioniert, wenn man nicht weiß, dass man Nahrung zu sich nimmt, können wir an jedem Säugling studieren. Hans Fabers Hülle lebt also bis auf den heutigen Tag und wird es auch noch einige Zeit tun. Wenn man einen Körper verlässt, dann trägt der Körper eine sonderbare Prägung mit sich herum, die ihn in seinen Gewohnheiten am Laufen erhält. Nicht zu vergessen das Gehirn, das ja auch zum Körper gehört und dankbar für jede Gleichförmigkeit ist, die man in es einmal hineingelegt hat.“ Bei diesem Gedanken blickte er etwas theatralisch nach oben. „Seelenlose, so möchte ich sie hier der Einfachheit halber einmal nennen, stehen morgens auf und spulen weiterhin ihre Routine ab, wie sie es bisher getan haben. Du kannst sogar davon ausgehen, dass weiterhin literweise Alkohol durch deinen Körper fließt. Sie gehen zur Arbeit und erledigen ihr tägliches Geschäft. Manche reden sogar dabei. Sogar in akademischen Berufen funktionieren diese Automaten. Sie rechnen und schreiben. Sie forschen – scheinbar – und untersuchen Dinge. Sie betrachten vieles und reden vor sich hin. Oft bleiben sie eine ganze Zeit lang in den letzten Vorhaben besonders lange hängen. Bei dir ist es auch so und beinahe schon amüsant. Weißt du, was du … also dein alter Körper gerade macht? Er ist auf dem Meer und vertieft sich in einen sehr alten Zweig deiner Zunft; die Alchemie.“

Wieder ließ der Dunkle eine Pause entstehen, als erwarte er eine Art von Applaus oder ähnliche Reaktionen. „Du hörst richtig“, fuhr er wieder fort, als reagierte er damit auf eine ungläubige und einsilbige Entgegnung von Hans. „Der alte Hans Faber hat sich an der irrigen Vorstellung festgebissen, man könnte die finanziellen Möglichkeiten des Reiches erweitern, indem man aus Meereswasser Gold gewinnt. Und so befindet er sich jetzt gerade auf dem Meer und arbeitet an dieser Idee. Ich bin gespannt, wie lange dieser Zustand anhält. Du musst wissen, dass diese Seelenlosen mehrere Jahre in einem solchen Zustand verharren können. Das hängt ganz davon ab, wie stark und gebildet, wie kultiviert und erzogen ein Mensch in seinem Leben war. Wenn meine vorsichtige Prognose eintrifft, kann es passieren, dass Hans Faber die nächsten fünf bis sechs Jahre damit verbringt, dem Meerwasser Gold abzuringen, bevor er das zeitliche endgültig segnet.

Aber ich schweife ab. Du fragtest ja eigentlich nach dem Grund für den Selbstmord deiner Frau. Nun, du kannst dich doch bestimmt an dein letztes Projekt erinnern. Du hast es inzwischen tatsächlich getan. Woran du als beseelter Körper eventuell gezweifelt hättest, darüber konntest du als Untoter natürlich nicht wirklich nachdenken. Also hast du weiterhin fleißig an dem Tod aus der Luft gearbeitet, ihn in Gasflaschen gefüllt – viele Gasflaschen – und einen deiner Mitarbeiter dazu veranlasst, die Gashähne aufzudrehen, um das Gas über einen Großteil der belgischen Front zu verteilen.“

„Und? War ich erfolgreich?“, fragte Hans mit einem Anflug instrumentalistischen Ehrgeizes.

„Natürlich warst du das“, antwortete der Dunkle mit demselben Anflug. „Du hast deine Frau dazu gebracht, sich das Leben zu nehmen und dir damit ein neues zu schenken. Am Kriegsverlauf hast du damit nichts verändert. Die Front hat sich nicht einen Zentimeter verschoben. Aber es gibt jetzt eine Reihe an Kriegerwitwen mehr und sogar einige deutsche Zeitungen hast du dazu gebracht, über die Frage nachzudenken, ob das kriegsrechtlich redlich war, was dein Land da gemacht hat. Aber ich will nicht moralisieren. Ich denke, dazu ist hier nicht der richtige Ort und der richtige Zeitpunkt. Du solltest nach vorne schauen. Die Tatsache, dass du mit einem Ich, also mit einer Geschichte durch die Welt läufst, sollte dir nicht im Wege stehen, sondern dich beflügeln. Du solltest jetzt anfangen, dich mehr mit den Augen der Welt zu sehen und eben diesen Augen bist du doch im Grunde völlig unbekannt. Du bewegst dich in einer guten Tarnung und kannst Geschichte auch mal Geschichte sein lassen. Ich weiß, was du jetzt einwenden möchtest. Das sei aus den Ausführungen, die ich zuvor gemacht habe, doch eigentlich etwas Unmögliches. Aber lass dir gesagt sein, dass das eine das andere nicht kategorisch ausschließt. Die Moral, die dich jetzt und wahrscheinlich noch eine Zeit lang quält, ist eine Moral der Zeitlichkeit. Dort ist sie geworden. Sie setzt voraus, dass eine Person immer die eine Person bleibt und dass das, was diese Person auf der Erde so treibt, auf immer und ewig mit dieser Person verbunden bleibt. Du musst dir an dieser Stelle verdeutlichen, dass du jetzt eine Ausnahme im wahrsten Sinne des Wortes darstellst. Du bist aus der Zeit herausgenommen und hast auf eine gewisse Weise Teilhabe an der Ewigkeit. Du bist nur noch temporär zeitlich, indem du durch mich von Dasein zu Dasein hüpfen kannst. Für einen Menschen ist das etwas Großartiges. Du bist dadurch der Zeitlichkeit enthoben, behältst gleichzeitig aber durch den je begrenzten Horizont eines neuen konkreten Daseins so eine Art Ersatz-Sterblichkeit, die dich mit dem nötigen Bewusstsein von der Vergänglichkeit ausstattet. Glaub mir, ihr Menschen habt diesen Horizont bitter nötig, weil ihr sonst nicht in der Lage wäret, auch nur einer Sache eine überzeitliche Bedeutung zu geben. Lange Rede, kurzer Sinn: Du darfst keine Skrupel haben, dich deiner neuen Art von Zeitlichkeit moralisch anzupassen. Du darfst vergessen. Du bist zwar immer noch der Alte, aber über die Grenzen deiner Persönlichkeit hinaus eben auch nicht mehr. Und willst du die Vorzüge unseres Vertrages wirklich genießen, dann musst du neue Tugenden entwickeln und auf die Zeit blicken, die dir nun zu Füßen liegt und weniger an der Vergangenheit haften.“

Hans wusste, dass der Dunkle Recht hatte und er wusste auch, dass er diesen Punkt während seiner Einwilligung nicht wirklich bedacht hatte. Eigentlich hätte er diesen Punkt auch gar nicht bedenken dürfen, denn dann hätte der dem Ganzen die Pointe geraubt. Besser war es, in naiver Einstellung die neuen Möglichkeiten hinzunehmen und auszureizen. Aber immer noch gab es da etwas, das ihn mit dem Gefühl erfüllte, betrogen worden zu sein. „Was ist deine Rolle bei dem Ganzen?“, forschte er wieder. In einem etwas entnervten Ton, der aber auch gespielt sein konnte, entgegnete der Dunkle: „Kann es sein, dass du mich für eine Art Märchenfee oder böse Hexe hältst oder gar für Lucifer persönlich? Ich habe dir angesichts deines Zustandes in deinem letzten Leben ein Angebot gemacht. Du brauchtest einen Neuanfang. Das war alles. Genau den habe ich dir verschafft. Ich glaube, damit solltest du mehr als zufrieden sein. Alles Weitere liegt alleine in deiner Zuständigkeit. Ich kann für dich nicht gehen, sprechen, schlafen, atmen, verdauen, essen, trinken und was sonst noch alles zu einem Leben dazugehört. Das musst du schon selber tun. Anderenfalls würde ich dich betrogen haben. Denn dann wärst es ja schließlich nicht du, der dieses neue Dasein führt, sondern ich und du hättest am Ende nichts davon. Aber um es dir nicht zu schwer zu machen: Natürlich habe ich dich im Blick und begleite dich eine Weile. Ich werde auch Rede und Antwort stehen, wenn du mal orientierungslos werden solltest und dir auch Ratschläge erteilen, die du gut bedenken solltest! Aber habe immer im Sinn, was ich dir eben von der Metaphysik gesagt habe. Die Verantwortung als einen konstitutiven Teil deines ganz persönlichen Daseins kann ich dir nicht abnehmen. Nicht weil ich es nicht wollte, sondern weil eben daran der Witz eines jeden Lebens hängt.“

Hans erlag der suggestiven Kraft dieser Ausführungen. Vielleicht hatte das damit zu tun, dass der Dunkle irgendwelche hypnotischen Kräfte einsetzte, vielleicht hatte es auch damit zu tun, dass er unendlich müde war, nach alledem, was er an diesem Tag durchlitten hatte. Vielleicht hatte es aber auch einfach nur damit zu tun, dass der Dunkle damit Recht hatte und seine Sätze einen Einklang mit den Vorstellungen fand, die Hans in den tieferen Schichten seiner Vorstellungen vom Leben verbarg und die ihm zwar bekannt, aber nicht immer bewusst waren. „Einverstanden“, sagte er schon etwas kraftloser. „Aber eines noch! Kannst du mir verraten, wie ich all das hier, diese Wäscheberge, ohne Hilfe wegschaffe. In ein paar Stunden wahrscheinlich werden die anderen aufstehen und wenn ich dann nicht fertig bin; ich mag nicht über die Folgen nachdenken. Du hast doch gewiss Möglichkeiten, diesen Prozess ein wenig zu beschleunigen.“

Der Dunkle schaute Hans ernst und mit einer hochgezogenen Augenbraue ins Gesicht, schüttelte leicht und etwas theatralisch den Kopf und wendete sich von ihm ab. „Du scheinst deinerseits ebenfalls noch einiges von deinem alten Naturell in dir zu tragen. Jedenfalls sehe ich, dass es mit dem Lernen bei dir um einiges zu zögerlich geht; so zögerlich wie das von dir so beschriebene Licht in diesem Raum, das übrigens auch von dir ausgehen könnte. Behalte dies als Hinweis. Noch immer scheinst du mich für eine Romanfigur zu halten. Aber wer kann es dir verdenken?“

Mit diesen Worten verschwand der Dunkle und ließ Hans in dem kalten Raum zurück, der sein fahles Licht behielt, das er jetzt als beginnende Morgendämmerung erkannte. Der Zustand, in dem sich Hans befand, war ähnlich elend wie an dem frühen Nachmittag nach der ersten Begegnung. Statt ihm Kräfte zu schenken schien er ihm Kräfte zu entziehen. Hans raffte sich auf und kämpfte gegen die bleierne Müdigkeit an. Er wusch, wie er es von früher kannte, Teil für Teil in einer stinkenden Lauge, spülte die Wäsche mit klarem Wasser nach, wrang sie aus, so dass er sie zum Trocknen auf dafür vorgesehene Stangen hängen konnte. Es ging leidlich schwer und er musste immer wieder innehalten. Er hatte das Gefühl, als seien seine Kräfte verlangsamt und als müsse er im Treibsand sprinten. Er quälte sich Stunden und es schien ihm, als würde er einen ganzen Tag lang schuften. Die Lauge drang in seine dünne Haut, die sich aufrieb. Seine Finger brannten. Als die Sonne ihre ersten Strahlen an die oberen Stockwerke der umgebenden Häuser schickte, war Hans fertig, goss den letzten Eimer dreckigen Wassers in eine Wanne, spülte ein letztes Hemd aus, hängte es auf, drehte sich um, brach vor Erschöpfung zusammen und fand einen langen Schlaf in demselben schützenden Nichts, das ihn bereits am Tage vor einem entschiedenen Zuviel an erdrückender Realität bewahrt hatte.

Er erwachte ohne Zeitgefühl in seinem Bett. Es war Mitternacht und es musste mindestens ein vollständiger Tag ohne ihn verstrichen sein. Er vernahm das stille und friedliche Atmen der Kinder und fragte sich, wem all die Kinder gehörten. Er vermutete aber auch, dass es wohl ein Teil seines Handels war, dass er es nie herausfinden würde. Und im Grunde war es auch besser so, wie es jetzt war. Er wusste eigentlich nichts über sein Heim. Er wurde hier versorgt und aufbewahrt. Darüber hinaus band ihn nichts an diesen Ort. Und das konnte noch von Vorteil sein.

Er fühlte sich ungewöhnlich wach, was er als einen weiteren Hinweis darauf deutete, dass er einen langen und kräftigenden Schlaf hinter sich haben musste. Auch dies nahm er als etwas Zeichenhaftes. So entband ihn dieser Ort nicht nur von den komplizierten Regeln und Verpflichtungen eines sozialen Seins, sondern gleichsam stellte er ihn auch an einen Punkt, an dem er sich neben der Zeit befand. Das war Vermögen zusammen mit seinem Wissen, aus dem sich etwas machen ließ. Das größte Problem bei all dem Tatendrang, der inneren Ungeduld angesichts des Gefühls, dass er mit all der neugewonnenen Zeit etwas anfangen müsste, der Wut auf die vier Schwachhirne in seiner Klasse und seinem Ärger über all die Widerständigkeiten, mit denen er sich nun handelsbedingt abzufinden hatte, war, dass er keinen optimalen Arbeitsplatz hatte. Er brauchte ein Labor. Er brauchte Geräte. Er brauchte Zutaten und Rohstoffe; von Gehilfen und Assistenten ganz zu schweigen, an die er aber gar nicht erst zu denken begann.

Pläne mussten her. Aber welche? Was sollte er mit seinem Dasein eigentlich anfangen? Er merkte, dass Jugend zwar ihre Vorzüge hatte und Freiheit ein Segen war. Aber dem voll entwickelten Verstande waren sie auch hinderlich, waren sie doch von dem starken Gefühl der Unzufriedenheit darüber begleitet, dass es eine Menge Dinge gab, die für die Jugend einfach noch nicht vorgesehen waren. Insofern konnte man für das Erste nur optimieren, was man vorfand. Das war ein klarer, wenn auch ein Auftrag in sehr engen Grenzen. Hans‘ Vorstellungen verloren dort etwas ihren Halt, wo der Verstand über diese Grenzen ein wenig hinausging und verbanden sich mit der Phantasie zu allerlei neuen Plänen, deren Rechtfertigung dem gemeinen Verstande nicht leichtfallen würde. Aber wo die Phantasie den Denkrahmen bildete, musste man nicht danach suchen. Hier trugen sich viele Gedanken ganz eigenständig und fanden ihren Sinn in der Möglichkeit selbst. Die Reaktionen, die zwischen Verstand und Phantasie abliefen, wurden durch einige Katalysatoren aus tieferen Schichten der Person beschleunigt; allen voran das Bedürfnis nach Einflussnahme, Macht und in letzter Konsequenz Anerkennung des eigenen Vermögens. Diese Reaktionsbedingungen waren so reichhaltig im Menschen vorhanden, dass man sie sich weder bewusst machen musste, noch musste man sie lange suchen. Sie waren in Hülle und Fülle vorhanden und begleiteten alle Vorstellungen so zuverlässig wie ein dünner Schatten, dass nicht einmal die Philosophen es gemerkt haben, wie geschickt sie sich als das unschuldige Ich tarnen können, das in seiner scheinbar unberührten Neutralität all den Regungen des Menschen quasi als unbeteiligter Zuschauer beiwohnte.

Pläne mussten her. Aber welche? Die vier brauchten eine Abreibung, die sie unschädlich machte. Sie mussten bemerken, dass es von ihm kam, es durfte aber nicht auf ihn zurückfallen. In diesem Gedanken, der einem zeitgemäß vorbildlichen Traume nach Maßgabe der Freudschen Lehre entsprach und für den Hans nicht einmal schlafen musste, fand er die meisten seiner gegenwärtigen Wünsche erfüllt. So wurde dies Projekt stabil und leitend für die nächste Zeit.

Eisenhut musste her. Diese überaus nützliche Pflanze, die ein starkes Kontaktgift enthielt, war einigermaßen einheimisch und daher vielleicht in ausreichender Menge vorhanden. Hans hatte sie zwar hier noch nicht gesehen, aber wenn es ihm gelänge, Irma von ihrem Weg ein wenig abzubringen und sukzessive ihren Bewegungsbereich am Nachmittage ein wenig zu erweitern, würde er eventuell fündig werden. Alles Weitere würde sich ergeben müssen. Hans hasste es zu improvisieren.

In der Schule ging es voran; besser sogar, als Hans es erwartet hatte. Der Lehrer im Naturkundeunterricht bemerkte Hans‘ Talent und bestritt große Teile des Unterrichts mit ihm im wechselseitigen Fachgespräch. Die Mitschüler schienen darüber meistenteils sogar ein wenig dankbar zu sein. Konnten sie doch wenigstens in dieser Materie nun ein wenig Zurückhaltung üben, um mit weniger Einsatz passable Noten nach Hause zu bringen. Es gab auch Neider; jene natürlich, die nicht in der Lage waren, die Denkbewegungen nachzuvollziehen, die Hans unternahm, um derartig viel Lob und positive Aufmerksamkeit beim Lehrer hervorzurufen. Sie verstanden aber genug, um zu begreifen, dass Hans ihnen gegenüber einen Vorteil hatte, einen Vorteil, der ihnen in jedem Bereiche ein Ärgernis gewesen wäre. Aber der Vorteil überwog für die meisten, wurde doch der Unterricht für alle anschaulicher und interessanter. Durch geschicktes Nachfragen an Stellen, an denen Hans wusste, dass der Lehrer hier gerne sein Fachwissen preisgeben und zu passenden Vorführungen versucht sein würde, brachte er selbigen dazu, die Klasse an gemeinschaftlichen Versuchen zu beteiligen. Da er sich in Fragen der hierfür nötigen Mittel und Geräte äußerst verständig zeigte, durfte Hans sogar dem Schulassistenten beim Aufbau und Bereitstellen der Gerätschaften zur Hand gehen. Hier musste Hans fast ein wenig schauspielern, denn es war klar, dass er die Bezeichnungen der Materialien um einiges besser beherrschte als diese einfache und gute Seele, die der ursprünglich gelernte Hufschmied nun einmal war, und den er einige Male durch als Frage geschickt formulierte Hinweise davor bewahrte, die falsche Substanz aus dem Regal zu nehmen.

In der Schule ging es voran. Das hieß auch, dass Hans die Schule als Gelegenheit empfand, sich selbst zu vervollkommnen. War er doch immer in den Sprachen eher uninteressiert und weniger begabt, so versuchte er hier auch neue Erfahrungen und Eindrücke zu sammeln. Ihm fiel auf, dass Luther zwar schriftreich und sprachlich äußerst brillant war, trotzdem aber geradezu unchristlich schroff und grob hatte sein können, wenn er über die Kurie, die Türken und die Juden gesprochen hatte und außerdem dafür verantwortlich war, dass tausende Bauern von den Söldnern der Fürsten blutig niedergeschlagen wurden, die nichts weiter getan hatten, als für ihr biblisch verbrieftes Recht auf Gleichheit einzutreten. Ihm fiel auf, dass all die gepriesenen Größen der deutschen Nation ihre dunklen Flecken auf der Biographie hatten; sei es, dass ihnen sprachlich Entgleisungen passiert waren, dass sie ein problematisches Verhältnis zu Frauen hatten oder teils abwegige Ideen und Empfindungen hatten. Fast schon einen Eklat gab es, als Hans im Literaturunterricht in einer zu starken kritischen Gestimmtheit die Dichtung Goethes kritisierte, indem er fragend darauf hinwies, dass doch auch das Schweizerlied von Goethe stammte und das Heidenröslein ihm wie eine Szene erschiene, in der einem jungen Mädchen durch einen Knaben gegen ihren Willen Unsagbares aufgezwungen wurde. Dr. Sackur, einen Moment um Fassung ringend, fehlten angesichts dieser Mutmaßung die Worte; nicht, weil er sie nicht gehabt hätte, sondern weil er Hans nicht vor der Klasse die Zustimmung zuteilwerden lassen konnte, die er der Sache nach zweifellos verdient gehabt hätte. Zum Eklat kam es hernach, als Eltern anderer Schüler, die im Hause verstört davon berichteten, sich über einen derartigen Verlauf des Unterrichtes beschwerten und auf diesem Wege dafür sorgten, dass die Sache vor dem Rektor und damit vor das ganze Kollegium kam, das sich über die Frage nach dem Inhalt des Heidenrösleins prompt entzweite und, da man über die richtige Lesart keine Übereinkunft hatte erzielen können, den Vorfall zu vergessen beschloss.

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