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Читать книгу: «Faber», страница 5

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Mit einem nicht geringen Wohlgefallen an der Sache sah Hans sich hier vor seine erste wirkliche Herausforderung gestellt. Eine Schulaufgabe besonderer Art. Er fühlte das deutliche Bedürfnis, es nicht nur bei der bloßen Gewissheit seiner Überlegenheit zu belassen, sondern hier auch ein Exempel zu statuieren. Dabei kam es darauf an, sich nicht der Allgemeinheit gegenüber zu verraten, sondern sich lediglich den vieren durch einen Akt der Zurechtweisung zu erkennen zu geben, der ihnen Respekt einflößen würde, sie aber gleichzeitig daran hinderte, Hans dafür ins Gespräch zu bringen. Von Vorteil war dabei für ihn, dass man ihn wohl für intellektuell begrenzt hielt und keine diesbezüglichen Höchstleistungen erwartete. Er durfte es also klug anstellen. Fürs Erste würde Hans einen vollkommen anonymen Anschlag planen, der nach außen hin wie ein Ausversehen gedeutet werden konnte, für die vier aber in der deutlichsten Weise als ein Streich zu erkennen sein musste, der ihnen gegolten hatte.

Sein erster Gedanke war dabei mehr als simpel; zu simpel, wenn er es recht bedachte: Stichlinge hatten wie alle anderen Wasserbewohner auch, die Eigenschaft, bei ihrer Verwesung einen mehr als unangenehmen Geruch freizusetzen. Eine Handvoll platziert unter der Pultklappe von einem der vier Gesellen würde ihn in eine zweifellos unangenehme Situation bringen. Die Stichlinge wären ein recht eindeutiger Hinweis auf einen Racheakt, den nur Hans würde verübt haben können. Aber er wäre doch recht plump und würde wahrscheinlich das Bild, das die vier bereits von ihm hatten, nur festigen. Gewonnen wäre dadurch nichts. Er würde der beschränkte Trottel bleiben, der sich anders nicht zu helfen gewusst hatte, als durch diese selbstverräterische Aktion. Der zweite Gedanke war vielversprechender: Seit es diese elenden Tintenfässer auf den Schülerpulten gab, wurde damit Schabernack betrieben. Wenn er hier mit ein wenig Chemie etwas bewerkstelligen könnte, wäre er damit auf seinem Feld, auf seinem Schlachtfeld, und hätte damit den Sieg in der Tasche, wenn auch nur einen vorläufigen. Würde er den Streich gleichzeitig auf alle vier verüben, würde dies auch gleichzeitig die Ansage sein, die er benötigte, um ihnen klarzumachen, dass sie es nicht mit einem derart simplen Geist zu tun hatten, den sie bei Johannes vermuteten. Vielleicht reichte aber auch erst einmal einer, denn diese vier traten in der Regel offenbar eh ausschließlich im Kollektiv auf.

Es ging alles einfacher, als Hans es gedacht hatte. Die Tinte ersetzte er durch einen Indikator, der sich bei einem hohen Ph-Wert blau färbt und sich wie Tinte verhält. Die Flüssigkeit musste nur bei Luftkontakt durch den CO2-Gehalt etwas von dem Ph-Wert verlieren und damit die Farbe. Geschriebenes würde verschwinden und der Autor säße bloßgestellt vor dem Lehrer. Das Wichtigste dafür konnte sich Hans leicht besorgen. Und den Ausgang dafür, natürlich nur in Begleitung des Schattens, den er zunehmend als immer weniger störend empfand, bekam er ebenfalls in einer für ihn doch überraschend unproblematischen Weise. Auch der Austausch ging ohne weiteres vonstatten, da die Klasse sich als eher chaotisch erwies und sich in jedem Augenblick, der noch nicht unter den Vorzeichen geordneten Unterrichtes stand, äußerst wild und unbändig verhielt. Jeder wollte seine Aufmerksamkeit und richtete dafür seine Aufmerksamkeit in alle erdenklichen Himmelsrichtungen, nur nicht auf das mitschwimmende Nichts in dieser Menge, das sich treiben lies und in diesem Mittrieb nur geringe Kurskorrekturen nötig hatte, um im richtigen Augenblick das Pult von einem, der viere zu erreichen, dessen Tintenfässchen gegen das mitgebrachte vom häuslichen Schreibpult auszutauschen und sich dann weitertreiben zu lassen, bis man sein eigenes Pult erreicht hatte, und dann bequem die Position des vergnügten Zuschauers einnehmen konnte.

Als der Unterricht begann, sah Hans, wie sich ein Unglück nach dem anderen auf den Weg machte: eine ins Heft geschriebene Übung, ein geschriebenes Diktat, eine notierte Hausaufgabe, ein von der Tafel abgeschriebener Text, eine Mitschrift eines Lehrervortrags und diverse andere Notizen. Sie alle würden schon nach wenigen Augenblicken nicht mehr lesbar sein. Er stellte sich voller Inbrunst vor, wie sie vor dem Lehrer und den Eltern nach Erklärungen rangen und sich ihre Strafe abholen würden. Sie würden über ihr Erleben nachdenken und langsam ahnen, dass jemand ihnen dort eine Lektion erteilt hatte. Ohne jemandem diese Tat klar zuweisen zu können, würden sie einen langsamen, aber bestimmten Respekt vor dem Geist entwickeln, der da auf eine für ihr Alter völlig ungewöhnliche Weise ein Arrangement traf und vor dem sie von nun an auf der Hut zu sein hatten.

Es kam anders. Die vier hatten nichts von dem verstanden, was Hans sich vorstellte und wünschte, aber sie hatten eine üble Wut im Bauch, die sich bei der nächsten Gelegenheit, nämlich am folgenden Tag auf dem Nachhauseweg, an ihm und Irma entlud. Die vier lauerten den beiden auf und versperrten ihnen den Weg. Einer, der kräftigste von ihnen, packte Hans und hielt ihn fest. Zwei andere nahmen sich Irma und hielten ihr den Mund zu. Der vierte schließlich besorgte eine lange und Schmerzen verheißende Weidengerte. Sie stellten Hans vor die Wahl. Er oder Irma. Es war klar, worum es gehen würde. Und so entschied Hans, dass Irma kein Leid in einer Sache erfahren dürfte, in die sie nicht involviert war. Hans wurde gegen Irma ausgetauscht, so dass der kräftigste der vier sie festhielt. Die zwei anderen hielten nun Hans fest, nachdem sie ihm die Hose über das Gesäß zogen und sich über den blanken Hintern lustig gemacht hatten. Der vierte schließlich holte aus und verdrosch Hans mit einer Kraft, der er, hätte er die Wahl gehabt, die Hand vorgezogen hätte, die ihn am ersten Tage an der Eingangstür so elend begrüßte. Hans würde Mühe haben, die Blessuren zu verbergen. Zwar gab es niemanden, der seinen Hintern zu Gesicht bekommen würde, aber schon bei Tisch sollte er große Probleme haben, gerade und still zu sitzen. Er erwartete die größten Schwierigkeiten beim Verheimlichen dieses Vorfalles, über den er in dieselbe Erklärungsnot geraten würde, wie wahrscheinlich zuvor die vier, als es um ihre nicht vorhandenen schriftlichen Arbeiten ging und von denen sie behaupteten, sie angefertigt zu haben. Nach dem Überfall nahm Hans Irma bei der Hand und setzte langsamer als zuvor seinen Weg fort. Sein Zorn richtete sich nicht gegen die vier, sondern gegen sich selbst, gegen seine Naivität und seine Unfähigkeit zu antizipieren, was in den vier Köpfen vor sich gehen würde. Er hatte sich dümmer angestellt als ein durchschnittlicher Pennäler. Sie hatten nichts begriffen. Weder hatten sie sich an ihm rächen wollen, noch hatten sie das manipulierte Tintenfass auch nur im Entferntesten mit ihm in Verbindung gebracht. Er war einfach nur da. Er war der schwächste unter allen potenziellen Sündenböcken. An ihm konnte man sich auslassen, ohne jede Gegenwehr befürchten zu müssen. Hans schwor Rache, furchtbare Rache für diese umfassende Demütigung.

Zunächst aber verbrachte er einige Tage unter Schmerzen und unter Besinnung. Es war Samstag. Hans sah die nahenden Osterferien und das Schuljahr, das an seinem Ende war. Das verhieß Ruhe und Abstand zu dem ersten Scharmützel, das er so leichtfertig eingegangen war. Es quälte seinen Stolz, dass er sich wie ein dummer Junge verhalten hatte. Er war lebenserfahren. Er hatte schon einiges hinter sich gebracht. Schulabschlüsse, Examina, den Wehrdienst, eine Promotion, etliche fachliche Dispute, Auseinandersetzungen um Forschungsgelder bis hin zu der Organisation der Einrichtung eines ganzen Institutes etc. Der Geist erschien ihm in diesem Augenblick als etwas, das nicht im Verstand zu suchen war, sondern dem Leben innewohnte, das ein Mensch führt, und Besitz von einem ergreifen konnte, egal, wie weit man intellektuell war und welche Strecke man im Leben bereits hinter sich gelassen hatte.

Wenn es galt, an Stärke zu gewinnen, und aus seinem neugewonnenen Dasein etwas zu machen, würde man einen Weg einschlagen müssen, der einem dies ermöglichte. Man benötigte einen tragfähigen Geist. Die Schule war definitiv nicht dieser Weg. Sie schränkte einen ein. Man verkümmerte zwischen diesen begrenzten Subjekten mit ihren verkümmerten Gewohnheiten des Urteilens, mit ihrem engen Sinn für die Chancen, die einem das Leben hier darbot, mit ihren Vorurteilen, in die sie einen einschlossen. Die Schule zu verlassen erschien ihm aber auch nicht als gangbare Lösung. Wo hätte Hans hingehen können? Man hätte ihn aufgegriffen wie einen entlaufenen Bengel. Man hätte ihn zurückgebracht oder gleich in die öffentliche Obhut genommen, wo es ihm ungleich schlimmer würde ergangen sein. Er musste sich arrangieren und sich in sein neues Leben dreingeben. Er musste ausgetretene Pfade nutzen und sie weiten, eventuell einen zweiten Pfad beschreiten, von dem nicht jeder etwas wissen durfte.

Zunächst aber gingen die Tage dahin und Hans hatte Zeit, freie Zeit, die er jenseits der täglichen und klar geregelten häuslichen Pflichten für sich nutzen konnte. Irma war immer dabei. Er durfte grundsätzlich nicht ohne sie oder sie ohne ihn auf die Straße gehen. Der Grundsatz, dem diese Regel folgte, war für ihn nicht auszumachen ohne sich durch eine Frage zu verraten, die an die falsche Adresse gerichtet, zu viel Unwissen preisgegeben hätte. Also schickte er sich in diese Regelmäßigkeit.

Der erste Sonntag, den es rumzubringen galt, war voller Mühen. Man stand früh auf und Hans war schon auf den ersten Metern des Tages klar, dass es in die Kirche ging. Die hatte er lange nicht mehr von innen gesehen. Zu wenig entsprach sie seinem Leben, das von Anfang an auf Repräsentation ausgerichtet war und damit klaren und bisweilen starren Regeln folgte, für die man keine religiöse Vorschrift, geschweige denn Regel benötigte. Dasselbe galt für die Wissenschaft. Die Regeln, nach denen sie funktionierte, hatte der Mensch zu erforschen; zunächst nach denen, die man vorfand, später die nutzenorientierten Regeln, die sich bei der Anwendung ergaben, schließlich die gewinnorientierten, für die man neue Nutzen zu erschließen hatte. Es lebte sich leichter ohne einen ständigen Beobachter, den man vor allem nach den Gottesdiensten mit sich herumtrug. Eine merkwürdige Bindung, aber denen der Chemie nicht unähnlich. So wie auch das Bild von Atomen und Molekülen ein sehr fiktives war, weil noch niemand sie mit eigenen Augen gesehen hatte, funktionierte der rechnerische Umgang damit ganz gut und war sogar so zuverlässig, dass man nicht anders konnte, als diese Realität anzunehmen. Sie drängte sich einem auf und eröffnete einem Möglichkeiten. Bisweilen regelte sie sogar das eigene Leben. Bei der Religion war es nicht anders. Gott war eine Rechnung, die aufgehen konnte. Glaubte man an ihn, so durfte man sich seiner Gunst sicher sein und sogar all das Schlechte, das einem im Leben zustoßen konnte, durfte der Gläubige als Gunst verstehen. Gott hatte einen auf der Rechnung. Er unterhielt seine Schäfchen durch mehr oder minder schwierige Aufgaben, die man zu bewältigen, an denen man wachsen und sich zu bewähren hatte. Gab man die Bindung zu ihm hingegen auf, hatte man nichts mehr zu erwarten. Man war ein bindungsloses Atom in einem unüberschaubaren und chaotischen Universum. Aber man war ganz, dachte Hans mit einem Lächeln bei sich, und hatte einige Möglichkeiten mehr. Ein solches Atom war Hans jetzt, beinahe jedenfalls.

Er stand im Waschraum und sah sich das erste Mal bewusst im Spiegel. Zu einem gewissen Teil wurde ihm klar, warum es ihm erging, wie es ihm erging. Doch das etwas instrumentelle Verhältnis, das er aufgrund seines sonderbaren Status zu seinem Körper hatte, ließ ihn, was er sah, auch mit einer gewissen gelassenen Akzeptanz hinnehmen. Seine Augen hatten eine leichte Fehlstellung und ließen ihn ein wenig schielen, wodurch er etwas blöd wirken musste. Dazu kamen ungewöhnlich hellrote mittellang gehaltene Haare und ein dazugehöriges mit Sommersprossen übersätes Gesicht. Es mochte Kulturen geben, in denen man mit dieser Physiognomie etwas gewinnen konnte. Gegenwärtig war auf diese Weise an sozialen Erfolg nicht zu denken, jedenfalls nicht, solange man als Schüler seines Weges ging. Doch war dies gewiss nicht der letzte Körper, mit dem man zurechtkommen musste. Auch in dieser Sache würde Hans noch mit dem Dunklen in Verhandlung treten müssen. Doch zunächst ging es um ganz konkrete Dinge. Dieser Mensch dort im Spiegel musste für den Kirchenbesuch herausgeputzt werden. Das hieß, die Haare bändigen, die wild durcheinander standen und vor Fett glänzten. Unterschiedliche Pennälergerüche hatten beseitigt zu werden, so dass man sich unter die kirchliche Sonntagsgesellschaft mischen und eventuell sogar die eine oder andere Hand schütteln konnte.

Die ganze Kinderschar seiner neuen Behausung ging geschlossen und gemeinsam unter den gestrengen Augen der Derben zur Kirche. Die Kirche warf ihren langen Vormittagsschatten durch den Stadtteil und legte sich als kühler Schleier quer über die vielen und dichten Wohnhäuser. Auch über der Kindergruppe lag er und sorgte als auratischer Vorläufer dafür, dass hier heute Ordnung herrschte und man in zwei geordneten Reihen durch die Straßen laufen konnte. Irma hatte Hans wieder bei der Hand und hielt sie gewohnt fest. Man trat gemeinsam in die Kirche, während die Derbe alle an sich vorüberziehen ließ. Die Kinder fanden ihre offensichtlich gewohnten Plätze von alleine und warteten geduldig – dieses Mal alle – auf den Beginn. Einige von ihnen schienen dabei wirklich ungewöhnlich aufmerksam. Einige der jüngeren verharrten in einer Art Gehorsamsstarre und schienen mehr oder minder duldsam die ganze Liturgie über sich ergehen zu lassen. Irma lehnte sich etwas müde an Hans und schien zu träumen. Dabei wurde sie so still wie kürzlich am Weiher. Die Hand, die in der von Hans lag, entspannte sich, ließ sie aber nicht los. Einige der nahesitzenden Gottesdienstbesucher schienen das Bild zu bemerken und hießen es sichtlich gut. Der Anblick der Kindergruppe galt ihnen als etwas Vertrautes und so beließen sie es für diesen Augenblick bei einem betont sonntäglich christlichen Wohlwollen in ihren Mienen, mit dem sie ihren persönlichen Handel mit Gott betrieben. Hans hätte ihnen gerne ins Gesicht geschrien und ihm tanzte das Gleichnis vom Zöllner und Pharisäer vor Augen, das ihm sein früherer Sonntagslehrer vorhielt, um den zukünftigen Konfirmanden die Notwendigkeit eines ehrlichen, reinen und aufrechten Glaubens vor Augen zu führen.

Hans konnte nicht mitsingen. Weder sein Geist noch seine Stimme noch sonst irgendetwas in ihm wollte sich in die Feierlichkeit der Zeremonie fügen. Es passte einfach nichts zusammen. Aber zu seiner Beruhigung schien das hier auch niemand von ihm zu erwarten und so tat er es Irma gleich und beruhigte sein Gemüt und stellte sich innerlich auf eine Veranstaltung ein, die er an sich vorüberziehen ließ. Als „das Grab ist leer, das Grab ist leer“ verklungen war, trat ein strammer Mittfünfziger mit Nickelbrille und übermäßigem Oberlippenbart an den Altar und verlaß die Geschichte von der Erweckung des Lazarus durch Jesus.

Die Predigt begann und der Pastor verkündete seine Botschaft: „Ich möchte euch nicht von Wundern reden, denn an die kann man nur glauben. Ich möchte euch von den Dingen reden, die klar zutage liegen und derer wir gewiss sein können. Wie hat Christus Lazarus erweckt? Wir wissen es nicht. Wir können nur staunen. Doch ohne die Anwesenheit des Sohnes Gottes, dessen können wir gewiss sein, hätte er niemals wieder zurück ins Leben gefunden. Daraus können wir die eine Gewissheit ziehen: Das Leben gibt niemand außer Gottes Wohlwollen und Gottes Geist selbst. Und sollte sich jemand aufschwingen und das Leben versprechen und er ist kein Gott, dann seid misstrauisch! In diesem Sinne ist ein Arzt kein Gott. Er schenkt dir kein Leben. Er verlängert es vielleicht oder lindert dein Leiden. Auch ein Richter oder Herrscher, der einen Angeklagten begnadigt und vor dem Beil des Scharfrichters bewahrt, ist kein Gott. Denn er gibt einem nichts, dass er nicht schon hat. Dasselbe gilt für den reichen Bankier, der einen Menschen durch einen großzügigen Kredit aus einer schwierigen Lage hilft. Alles, was ein Mensch braucht, hat er bereits auch ohne das Zutun eines Menschen.

Was aber ist nun das, was Christus dem Lazarus geschenkt hat? Auch hier müssen wir nicht auf wunderträchtige Offenbarungen warten. Hier müssen wir dem vertrauen, was uns der Glaube sagt. Wenn einem Menschen durch die Hand des Höchsten das Leben geschenkt worden ist, dann ist das nicht das, was man als bloße Lebendigkeit versteht. Es ist nur dies eine Leben, das den Namen eines christlichen Lebens wahrhaftig verdient. Lazarus wird nach seiner Auferstehung nicht dasselbe Leben geführt haben wie zuvor. Sein Leben wird auf Säulen geruht haben, auf denen die Würde eines ewigen Lebens ruht. Da ist die Säule der Dankbarkeit, denn nur der Dankbare wird ein Leben führen können, dessen Wert er voll zu schätzen vermag. Da ist die Säule des Glaubens, weil ohne den Glauben man nicht ein Leben führt, sondern nur ein zufälliges Dasein fristet, das sich an nichts zu orientieren vermag. Da ist die Säule der Liebe. Denn ohne die Liebe wird das eigene Dasein klein und eng bleiben. Erst, was man mit dem Nächsten teilt und für andere aufopfert, wird zu einem vollgültigen Leben heranwachsen können. Und schließlich ist da die Säule der Einfältigkeit, denn nur der Einfältige wird sich seines Geschenkes, des Lebens, bewusst sein können, weil alles, was er tut und in Angriff nimmt, eines christlichen Geistes ist.

Nichts anderes außer dieser Säulen vermag ein Leben zu kennzeichnen, das ein von Gott gegebenes Leben ist und das man als das Leben eines in Gott und Christus auferstandenen Lebens bezeichnen darf, welches auch dann noch Bestand haben wird, wenn sich die Welt in der Weise wandelt, wie wir es heute vorfinden. Nur dieses Leben kann alle Wandlungen der Zeit um uns herum überstehen.“

Der Pastor sprach noch eine Menge Worte, aber gerade diese waren es, von denen sich Hans auf eine peinliche Weise berührt fühlte. Dass es Wunder geben konnte, hatte er schon zur Genüge erfahren. Darum hätte es ihn nicht gewundert, wenn diese Predigt von einer vorausschauenden Hand an ihn adressiert gewesen wäre. Aber ebenso fand er diesen Gedanken auch absurd. Denn auch in dieser Kirche galt nur das gesprochene und das gehörte Wort über eine ganz abstrakte Instanz, die sich nie einem Menschen zeigte und damit nicht beweisbar war. Der Dunkle war greifbar geworden, auch wenn er sich jetzt so ganz im Verborgenen hielt und Hans hier seine Runden drehen ließ und von irgendwo vielleicht zusah, wie bei einem Experiment, wie es Hans mit seinem neuen Dasein ging.

***

Seine Runden drehte Hans vornehmlich draußen auf der Straße. Freunde, die auf ihn warteten, hatte er offensichtlich keine, was er aber eher als Vorteil empfand, denn dadurch gab es für ihn kein zusätzlich zu verwaltendes Erbe seines Vorgängers. Lediglich Irma war immer an seiner Hand und sorgte für die eine oder andere orientierende Rahmenbedingung seines hiesigen Aufenthaltes. In den Straßen beispielsweise sorgte sie dafür, dass man ihn nicht für einen Jugendlichen hielt, der mit seiner freien Zeit nichts Besseres anzufangen wusste und darum mit Misstrauen zu betrachten war. Hier und da wurde das Paar sogar auf eine Weise begrüßt, die zu erkennen gab, dass man zum gewohnten Stadtbild gehörte. Inzwischen hatte Hans sich auch damit arrangiert, dass es ihn nach Hamburg verschlagen hatte. Er lebte jetzt in einem der hauptsächlich von Arbeitern bewohnten Stadtteile unweit der Stadtgrenze. Er hatte die Hanseaten mit ihrem Vorbehalt dem Bund gegenüber nie begriffen, fand sie von daher dumm, aber auf eine Weise auch egoistisch und verantwortungslos. „Dummdreist“, formulierte er vor sich hin, freute sich darüber, dass er ein neues Wort erfunden hatte und darüber, dass Irma dieses Wort mit einem anerkennenden Kichern quittierte. Hamburg roch anders als Berlin, zumindest in dieser Ecke. In Berlin roch es um diese Zeit nach Frühling, nach Sonne und nach Blattstaub; zumindest in dem Teil, den er zuletzt bewohnt hatte. Hier roch es nach Fisch, Käse und Wäsche, die man gerade zum Trocknen nach draußen gehängt hatte und je nachdem, wo man war, auch nach Pferden, die auf dem Hinterhof eines Schlachters auf ihr Ende warteten, nach Ölen und Farben, für die es keine Verwendung mehr gab oder nach Sägespäne. Die Luft war kalt und feucht, die Menschen neigten zur Unfreundlichkeit. Sie schienen jede Regung ihrer Umgebung als Störung zu empfinden. Zu einem guten Teil war dies aber auch dem Krieg geschuldet, der hier zwar nicht stattfand, sich aber durch einen vielerorts dezimierten Männeranteil schon bemerkbar machte und dadurch jenes Teiles, der üblicherweise für das Auskommen der Familien sorgte.

Hans fragte sich, ob man den großen Schlag, an dem er zuletzt in seinem Institut gearbeitet hatte, auch wirklich ausführen würde. Teil eines jeden Kampfes war die Erreichung der Überlegenheit. Solche Überlegenheit konnte durch physisch und psychisch wirkende Mittel erreicht werden. Sie war immer wirksamer und dauernder, je weniger rohe Kraft und je mehr geistigseelische Zwangsmittel Verwendung fanden. Giftgas. Er hatte eine tödliche Waffe kreiert, die jedes Heer in seiner Vorstellung unbesiegbar machen würde. Den Erfolg würde er nur aus der Ferne genießen können. Er hätte gerne selber die Hähne aufgedreht, die einen sorgfältig vorbereiteten Tod über ganze Frontabschnitte verbreiten konnten und darüber hinaus die technische Überlegenheit des eigenen Landes demonstrierten, mithin die Erkenntnis, dass man moderne Kriege nicht erst an der Front zu schlagen brauchte. Sie wurden am Schreibtisch vorbereitet und gewonnen. Hans empfand das als modern.

Irma sorgte nicht nur dafür, dass Hans vor Argwohn bewahrt wurde. Sie diente gleichermaßen als eine Orientierung in dieser neuen und unbekannten Umgebung. Wie so oft zog sie ihn und schien dabei zielstrebig. Ihr Aktionsradius war dabei ihrem Geiste entsprechend eher klein und begrenzt. Und wenn man es genau betrachtete, so schienen sie im Kreise zu laufen, denn sie gingen bereits das zweite Mal an einem Fischgeschäft vorüber, dessen Ausdünstungen Hans würgen machte. Er hatte nie etwas Besonderes gegen Fisch gehabt, auch wenn es ihn in seiner alten Heimat eher seltener und in begrenzterer Auswahl gab. Hier aber spürte er eine extreme Abneigung. Angesichts der Auslagen des Geschäftes wuchs in ihm die Vorstellung, ein Gewebe in den Mund zu nehmen, das von allem durchdrungen war, das man im Meerwasser finden konnte. Beinahe war dies für ihn gleichbedeutend mit der Idee, sich einen Tee mit Wasser aus der Kanalisation zuzubereiten. Fische formten sich in seinem Geiste zu den Schimmelpilzen der Meere. Sie wurden zu einer abstoßenden Lebensform, die ihre besondere Abartigkeit durch einen Verwesungsgeruch zu erkennen gab, den man so von keiner anderen Lebensform kannte.

Gerne hätte Hans die Runden, die Irma mit ihm drehte, ausgeweitet. Aber es erwies sich als schwierig. Zum einen, weil er sich selber nicht gut auskannte, seine eigene Orientierungsfähigkeit nicht gut ausgeprägt war und dies noch durch die für ihn völlig neue Welt verstärkt worden war. Viel größer war aber der Widerstand, den Irma selbst seinen vorsichtigsten Versuchen entgegensetzte, nur den kleinsten Umweg zu gehen. Und so signalisierte Hans mit einem deutlich verzogenen Gesichtsausdruck, als das Fischgeschäft ein drittes Mal in Sicht kam, dass er einen großen Bogen um es machen wollte und machte den Versuch, eine Straße vorher zum Ausweichen zu nehmen. Irma ließ dies nicht zu. Ihr sonst so gelöster Gesichtsausdruck verhärtete sich zu einem Ernst, den er an ihr das erste Mal sah. Sie blieb stehen und löste ihre Hand aus der seinen. Irgendetwas in ihm machte ihm deutlich, dass er sie hier nicht stehen lassen durfte, um weiterzugehen, und so kehrte er nach wenigen Schritten zu ihr zurück, nahm ihre Hand und ließ sich den weiteren Weg von ihr durch die Straßen im Kreise ziehen. Ihr Gesicht entspannte sich bald und mit der Sicherheit eines Uhrwerkes fand sie den Weg zum Heim in dem Augenblick zurück, als das Essen gerade seinen Weg auf den Tisch gefunden hatte.

Hans begann zu forschen. Forschen konnte er gut. Darin hatte er Übung. Alles, was er nicht erfragen konnte, musste er erforschen. Das bedeutete auch ein wenig Isolation, Innerlichkeit, aber das nahm er in Kauf. Er fing an bei den Gesichtern, mit denen er im Heim zu Tische saß. Dass es sich hier um einen Beitrag handelte, mit dem man bei Hagenbecks Völkerschau hätte punkten können, sofern sich diese nicht in Hamburg, sondern beispielsweise auf dem asiatischen Kontinent befunden hätte, wurde Hans in einem Gedanken, den er selber als etwas abfällig empfand, sehr schnell klar. Die Physiognomien ließen keinerlei Familienähnlichkeiten erkennen. Wer hätte auch eine solche Ansammlung von Grenz- bis Vollidiotischen zur Welt bringen können? Aber auch ein Heim konnte dies nicht sein. Dafür war es zu gut geführt und beherbergte gleichzeitig zu wenig Personal. Wenn man es genau betrachtete, arbeitete hier nur die Derbe. Bei vielen Dingen gingen ihr die Kinder zur Hand. Die relativ hohe räumliche Nähe zur Kirche und der Vertrautheitsgrad, den man im Umgang der Gemeinde mit den Bewohnern ausmachen konnte, sprachen dafür, dass man sich in einer kirchlichen Einrichtung befand. Gleichzeitig aber war die materielle Versorgung dafür zu gut. Eltern oder äußere Freunde oder Verwandte waren hier ebenfalls nicht wahrzunehmen. Die einzigen Personen, die hier zu sehen waren, sahen aus wie Lieferanten und sie brachten auch einiges. Die Bewohner, zu diesem Arbeitsbegriff entschloss sich Hans, hatten untereinander kaum bis wenig Verbindungen. Selbst die halbwegs normalen pflegten keinen innigen oder persönlichen Kontakt untereinander. Unter ihnen ging es animalischer und zumeist affektiv zu. Das Zusammenleben gestaltete sich wesentlich durch die klaren Regeln, die hier galten und den Alltag regelten. Dazu passte der raue Ton, den die Derbe benutzte, sowie die gelegentlichen Handgreiflichkeiten, mit denen im Wesentlichen geahndet, nicht aber präventiv für die Einhaltung von Strukturen gesorgt wurde, wenngleich dies doch zu den sichtbaren Folgen gehörte.

Wenn Hans es sich recht überlegte, so bestand die innigste und schon beinahe als freundschaftlich zu betitelnde Verbindung in diesem Haufen zwischen ihm und Irma. Hans musste sich sogar eingestehen, dass diese Verbindung extrem schnell über den Status einer bloß nützlichen Verbindung hinausreichte. Er schätzte dieses verrückte Wesen. Irma gab die Regeln vor, nach denen ihre gemeinsame freie Zeit zwischen Schule und Schlaf durchlebt wurde. Damit nützte sie ihm aber nicht nur einfach in dieser neuen Umgebung, sondern sie kam damit auch seinem Wesen ein ganzes Stück entgegen. Er musste nicht mit ihr reden und doch erwies sie ihm alle Freundlichkeit, die der Mensch nötig hatte. Sie stellte keine Ansprüche an eine Freundschaft, die zur Verkomplizierung hätten beitragen können, und war doch dankbar für seine bloße Gegenwart, von der er freilich mehr als genug hatte. Sie schaffte es sogar, ihm diese Dankbarkeit in aller Klarheit zu zeigen. Sie strahlte und jubelte, wenn sie ihn sah. Und auch wenn ihm das bisweilen unangenehm war, so fiel dies bei ihm doch tief in die Seele und weckte eine Regung, die er mit einer gewissen Überraschung aus tiefen Versenkungen aufsteigen sah. Doch Irma konnte noch mehr. Sie war einfach und unverstellt. Hans konnte sich der Reinheit ihres Ausdrucks sicher sein. Und wenn Hans ganz ehrlich war, so war ihm auch die körperliche Nähe nicht unangenehm. Irma hatte keine Distanz, die er zuletzt von allen Menschen in seiner Umgebung hatte erfahren müssen. Sie nahm ihn, wie er war, in seinem rotblassen Äußeren und seiner jugendlich unbeholfenen Art im Umgang mit Menschen. In dieser Hinsicht passte er perfekt in den Körper seines Vorgängers. Fast war dies ein auf seine Persönlichkeit zugeschnittener Neuanfang, der ihm hier gewährt wurde. Und fast schämte er sich angesichts dieser Wahrheit, die ihm bewusst machte, dass er von der Erforschung der Außenwelt zu der Betrachtung seiner selbst mit eben jener Haltung gelangt war, mit der er normalerweise chemische Vorgänge betrachtete. In dieser Unverschlossenheit nahm sie seine Hand so fest, wie es nur eben ging, und zog ihn mit sich. Und scheinbar wurde sie dessen nicht müde, wie auch Hans, der das dabei entstehende Gefühl des Gewollt-Seins sogar, ganz für sich genommen, genoss.

Am späten Abend ging es wieder daran zu warten, bis alle Jungen im Schlafsaal im Bett lagen und schlafbereit waren. Er hatte sich schon zwei- bis dreimal vorgenommen, einen von ihnen anzusprechen und die wortlose Routine zu durchbrechen. Bisher war ihm das aus einem bestimmten Gefühl heraus unmöglich gewesen. Das Gefühl, damit zwar keine der festen Regeln zu durchbrechen, aber doch gegen eine ungeschriebene Ordnung zu verstoßen, die für die Bewohner in irgendeiner Weise wesenhaft war, hielt ihn von diesem Vorhaben bislang ab. Doch an diesem Abend wollte er einen Versuch wagen. Als die abendliche Routine durchlaufen war und die Bewohner im Bett lagen, war es wieder an ihm, das Licht auszuschalten. Gewohnheitsmäßig tat er dies, knipste das Licht aus, legte sich in der Dunkelheit ins Bett und sagte „Gute Nacht zusammen!“. Weil sich daraufhin nichts regte, nahm Hans es hin mit dem Gefühl, wenigstens versucht zu haben, eine sprachliche Brücke zu den fremdartigen Bewohnern zu schlagen. Er hakte es gerade innerlich als erfolglos und doch zufriedenstellend ab, weil er sich damit keinen neuen Zwängen auslieferte, als ein Junge, der von der Derben mal mit dem merkwürdigen Namen Perlappe zur Raison gebracht wurde, mit einem zögerlichen und doch von unterdrückter und nichts Gutes verheißenden Albernheit durchdrungenen „Gute Nacht zusammen!“ antwortete und leicht prustend kicherte, was offensichtlich einen anderen von den jüngeren Bewohnern, dessen Namen Hans noch nicht kannte, als Aufforderung zu einem Spiel verstanden wurde und ihn zu einem in übertriebener und ebenfalls kindlich albernen „Gute Nacht zusammen!“ als Antwort veranlasste. Der erste übernahm den Ton und steigerte dessen Affekt aber noch um eine deutliche Nuance mit einem weiteren „Gute Nacht zusammen!“. Das ging in nervender, doch noch geringer Lautstärke einige Male hin und her, bis ein dritter, ein älterer, mit einer leicht stimmenbrüchig sich überschlagenden Stimme in das Spiel einstieg und bereits den nächsten dazu zwang, sich durch mehr Lautstärke bemerkbar zu machen. Die nächsten Einsteiger waren schon von den ersten, die ihren Spaß ohne Unterbrechung fortsetzten, nicht mehr zu unterscheiden. Und als sämtliche Knaben in diesem kakophonischen Chor in unerträglich gewordener Lautstärke sich in irren „Gute Nacht zusammen!“ und ebenso irrem Lachen amüsierten, merkte Hans erst, dass er bis auf den Namen von Perlappe offenbar noch gar keinen anderen Namen kannte. Hilflos versuchte er, den Haufen mit zunächst zaghaften Zischlauten, dann durch kurze Kommandos zur Ruhe zu bringen. Doch es half nichts. Hier waren Kräfte am Werke, die verbal nicht zur Ruhe zu bringen waren. Hans wäre am liebsten aus dem Bett gesprungen und hätte jeden einzelnen zur Ruhe geprügelt, aber damit hätte er sich nicht nur in ein unkontrollierbares Chaos begeben, sondern wäre gleichsam ein Teil davon geworden. In seiner Verzweiflung rief er den scheinbaren Verursacher dieses Ausbruches in dem Ton, den auch die Derbe benutzte, wenngleich er sich nicht auch deren Lautstärke zutraute: „Perlappe!“ – worauf der Haufen in einem Atemzug verstummte, die Geister zur Ruhe kamen und auch den Rest der Nacht ruhig blieben.

399
488,22 ₽
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610 стр. 1 иллюстрация
ISBN:
9783750218291
Издатель:
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