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Читать книгу: «Faber», страница 2

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Mit einem gewissen Stolz bemerkte er, dass er sich der milden Frühlingsstimmung nicht hingegeben hatte. Oft schon erschien es ihm, als hätte er die Aufgabe, einen Kampf zu führen; einen Kampf gegen das verordnete Leben, das ihm die Stadt als Ort des falschen Lebens in großen Werbelettern vor die Augen hielt. Er hasste ebenso diesen Ekel wie sich selbst dabei. Doch schien ihm das eine höhere Würde zu haben, als sich dem Strom hinzugeben, mit dem ihm die Stadt ihre Geschwindigkeit aufzwingen wollte. Ihm war, als erkenne er sich bei diesem Gedanken in seinem eigenen Treiben selbst; als schaue er in einen sehr klaren Spiegel. Gerechtfertigt und auf eine unbestimmte, weil ungewohnte Weise, zufrieden erreichte er die Universität, betrat den Flur der chemischen Fakultät, entschuldigte sich bei einigen wartenden Studenten für seine Verspätung und begann seine Sprechstunde in einer ganz menschlichen Stimmung, die so mancher als Frühlingsgefühl hätte beschreiben mögen. Entsprechend energetisch und belebt arbeitete er die wartende Menge ab. Hier eine korrigierte Hausarbeit, dort eine Beratung für eine Versuchsreihe, für den einen Literaturempfehlungen, für den anderen Tadel ob der Art, wie er seine Studien betrieb. Es ging alles sehr schnell und ungewöhnlich gut vonstatten. Normalerweise hasste er diese Sprechstunden. Vieles kam ihm trivial vor. Er musste über Dinge reden, die er schon unzählige Male durchdacht und abgeschlossen hatte, wenngleich sie für jeden seiner Studenten doch ein neues Problem waren. Das verlangte ihm viel Geduld ab. Vor allem aber waren ihm die Sprechstunden verhasst, weil es auch die Fälle gab, in denen er gezwungen war, zu tadeln und zu streiten, in denen er auf Unverständnis stieß und sich darum ganz menschlich geben musste, was er nur ungern als Teil seines Berufes betrachtete, weil er gerade dafür nicht diesen Beruf ergriffen hatte. Heute aber war es anders. Mühelos bewältigte er diese Situationen höchster Kontingenz. Es ging schnell. Und sogar dort, wo es normalerweise einen Disput hätte geben müssen, brachte er Humor auf. Er schaute in interessierte, glückliche, in manche dankbare Augen. Er spendete sogar Trost und munterte auf, wo es Schwierigkeiten gab. So verbrachte er Stunden, die wie mit einem Wimpernschlage vergingen.

Als er die Menge abgearbeitet hatte, blieb noch einer übrig. Ein dunkel und etwas außer der Mode gekleideter Student, dessen Alter nicht abzuschätzen war und den er zuvor noch nie gesehen hatte. Ihn umgab eine spürbare Leere, als dämpften sich die Eindrücke um ihn herum. Auch die Straßengeräusche schienen ferner zu klingen als bisher. Er spürte einen schwachen Widerhall in sich, den er aber nicht zuordnen konnte. Etwas Unruhiges regte sich in ihm und er hatte das Gefühl, auf der Hut sein zu müssen. Schließlich begrüßte er den Dunklen und bat ihn in sein Zimmer, dessen Tür er offenließ. Dieser setzte sich und fing ohne Umschweife an zu reden.

„Das Frühjahr scheint uns doch manchmal zu verstellen. Wir fühlen uns gut. Wir fühlen Lebenskraft. Wir packen Dinge an, die wir eigentlich hätten liegen lassen wollen. Wir entschließen uns sogar dazu. Doch das Merkwürdige dabei ist – und das beschäftigt mich schon gefühlte Ewigkeiten –, dass es sich so anfühlt, als wäre es unser Entschluss, unser Gefühl, als wären es gar wir selbst, die sich aufraffen. Dabei hätten wir zu anderen Zeitpunkten keinen Finger gerührt. Und das führt mich zu der Frage, mit was für einem Phänomen wir es hier eigentlich zu tun haben. Ich meine, woher wissen wir eigentlich, wer wir sind, wenn wir innerhalb von 365 Tagen in so ganz gegensätzlicher Weise denken, fühlen und entscheiden können? Ich frage mich ferner, ob es sich hierbei überhaupt um ein natürliches Phänomen handeln kann. Die Natur arbeitet nach festen Gesetzen. Lässt man Natrium und Chlor miteinander reagieren, so bekommt man Kochsalz. Uralte Salzvorkommen beweisen, dass das schon vor tausenden von Jahren so war. Erhitzt man eine Flüssigkeit, wird sie zu Dampf, kühlt man sie ab, kondensiert sie und wird wieder flüssig. In den einen Prozess muss man Energie stecken, aus dem anderen Prozess kann man Energie ableiten. Nichts vermag hieran etwas zu ändern. Aber der Frühling“, sagte er mit einem Lachen, das Faber unbehaglich war und das er als deplatziert empfand, „aber der Frühling macht irgendwie alles neu.“

„Arbeiten Sie über Salze oder über Jahreszeiten?“ Er wurde etwas ungeduldig.

„Beides“, entgegnete der Dunkle. „Beides. Es ist wie mit so vielen Dingen, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben. Oftmals führen die Dinge ein über lange Strecken unbemerktes Dasein; egal, wie wichtig sie eigentlich sind. Und dann tritt an einer ganz anderen Stelle durch einen fast schon chaotischen Zufall etwas anderes ins Dasein und sorgt dafür, dass das eine in ungewohnt klarer Weise ins Bewusstsein dringt und Konturen bekommt, die es vorher nicht hatte. Was ist schon Kochsalz! Ewig, beständig und gerade dadurch unauffällig. Und der Mensch? Vergänglich, weniger beständig und sich selbst gerade dadurch auffällig. Treffen beide aufeinander, bekommt Salz auf einmal Geschmack, den es vorher nicht hatte. So ist das Leben selbst; eine Chemie, die auf Bestehendes zurückgreift und dabei Neues schafft. Man möchte meinen – und oft hoffen wir das ja gerade in den Naturwissenschaften –, dass der Bereich der Natur einmal geschaffen ein fixer Bereich ist. So war es nie! Die Schöpfung ist nicht abgeschlossen, sondern findet in jeder Sekunde statt, indem Dinge einander begegnen, die vorher noch nie einander begegnet sind. Und in eben dieser Begegnung entstehen neue Gesetze, von denen sich zukünftige Begegnungen derselben Art fortan nicht mehr freimachen können.“

„Dafür gibt es einen Ausdruck, Kontingenz. Wollen Sie mir bitte Ihr Anliegen mitteilen. Ansonsten möchte ich Sie nicht länger aufhalten“, versuchte er höflich, aber bestimmt, seinen Standpunkt zu verdeutlichen.

„Gab es bereits eine Chemie Ihrer Beziehung, als Sie Ihre Frau kennenlernten?“ Bei dieser Frage war es, als griffe der Dunkle ihm ins Innerste und als hielte er es zwischen zwei Händen fest umklammert. „Oder entstand nicht das Geschick dieser Beziehung erst in dem Augenblick, da sie zu existieren begann? Zwei junge und frisch promovierte Akademiker treffen am Beginn des 20. Jahrhunderts aufeinander. Sie sprühen vor Tatendrang. Angefüllt mit Idealen und der Faszination auf Ihrer Seite für eine Frau, die es ebenfalls geschafft hatte. Sie konnten sich in dem anderen gleichsam wiederfinden. Bestätigungsprobleme hat man in solch einer Konstellation nicht. Diese beiden taufrischen Moleküle wirft man nun in den Erlenmeyerkolben, wo sie gewissen Standartbedingungen unterworfen sind; die ja nun wirklich nicht vorhersehbar waren. Familiengründung mit Hochzeit und Kindern, standesgemäßer Auftritt an den Öffentlichkeiten, entsprechendes Ambiente, in dem man auch Gäste empfangen kann. Gestatten Sie mir die eine kleine rhetorische Frage! Haben Sie wirklich geglaubt, Ihre Frau bliebe an Ihrer Seite immer dieselbe? Nein! Mit Ihrer Liebeserklärung haben Sie Masse und Valenz Ihrer Frau verändert; freilich in einer Art und Weise, die nur in Verbindung mit Ihnen möglich war. Sicherlich haben Sie damit nicht ihren Kern verändert, der fortan sein Recht forderte und dieses merkwürdige Hin-und-Her von Anziehung und Abstoßung hervorgerufen hat, das Sie beide dort hingebracht hat, wo Sie heute stehen.“

Er war starr. Alles, was der Dunkle sagte, fühlte sich an, als stamme es aus einem uralten Wissen, das so alt war wie die Gesetze der Chemie selbst. Die Starre erfasste Brust, Nacken und Verstand und verband sich mit einem Gefühl, das irgendwo zwischen Angst und Neugier angesiedelt war. Der Dunkle redete über eine Beziehung, die er eigentlich nicht kennen konnte und doch zu verstehen schien. Er brachte diese Beziehung unter die ehernen Gesetze der Chemie und machte ihm unmissverständlich klar, wohin diese Beziehung hatte laufen müssen. Stück für Stück setze sie sich vor Fabers innerem Auge zusammen als ein zeitloses Gebilde, als ein Molekül mit seinen begrenzten Entwicklungs- und Veränderungsfähigkeiten. Seine Ehe schrumpfte in seiner Vorstellung zu einem unendlich kleinen und bedeutungslosen Etwas zusammen, das bereits in seiner Entstehung sein kolossales Scheitern enthielt.

„Sie rauben mir meine Zeit“, versuchte er mit einem letzten Rest von Widerstand gegen den größer werdenden Einfluss des Dunklen vorzubringen, wobei er merkte, dass seine Stimme dabei ungewöhnlich schwach war und keinen gewohnten Widerhall in seinem Büro fand, als sauge der Dunkle ihre Energie in sich hinein. Und als wenn er von der Bedeutung dieser Worte lebte, erheiterte sich der Dunkle mit leuchtenden Augen, atmete tief ein wie ein Mensch, dem man in einem Gespräch ein wichtiges und sehnsüchtig erwartetes Stichwort gegeben hat und entgegnete:

„Gewissermaßen haben Sie damit Recht. In einer gewissen Weise haben Sie sie mir aber auch angeboten. Ich bin schon vor langer Zeit auf Sie aufmerksam geworden“, wurde er jetzt offener. „Sie tauchten sozusagen in meinem Horizont auf und wurden in diesem immer deutlicher, als sich die Zeichen dafür verdichteten, dass Ihnen Ihr Leben zu entgleiten begann oder, wie ich es viel lieber sage, wo Sie sich dazu entschlossen haben, den Entwicklungen Ihres Daseins freien Lauf zu lassen. Ich sage das lieber, weil ich in dieser Hinsicht gerne positiv denke. Denn es gehört schon einiges dazu, seine eigenen Kräfte an die Welt abzugeben und ihr den Hauptteil am eigenen Geschick zu überlassen. Wenn Sie aber Ihre Kräfte der Welt übergeben, bleibt die Frage, was mit der Zeit geschieht, die hierbei entsteht. Sie haben damit ein schier unendliches Potenzial an ungenutzten Möglichkeiten entstehen lassen, von denen ich mich offen gestanden stark angezogen fühlte, was allen Wesen so geht, die sich mit der Zeit immer nur am Rande ihrer ansonsten eher zeitlosen Existenz befassen dürfen.“

„Wer … sind … sie?“, entfuhr es Faber in einer letzten großen Anstrengung, bei der er nicht einmal genau hätte sagen können, ob sie aus seinem Inneren oder aus der Gegenwart des Dunklen herrührte. Er wollte es sicherlich wissen. Doch kam dieses Wissen-Wollen aus einer Verbindung, die sein Innerstes in den Worten des Dunklen mit ebender Schicksalhaftigkeit einging, von der der Dunkle die ganze Zeit in einer Weise geredet hatte, als würde sie damit erst entstehen. Und als wäre dieser Gedanke sichtbar außerhalb seiner selbst gewesen, griff der Dunkle ihn auf:

„Ich bin der, mit dem du heute eine Verbindung eingehst. Unsere Geschicke haben sich in dem Augenblick miteinander verwoben, da du deine Zeit im Alkohol aufzulösen begonnen hast. Sowenig nämlich wie Energie kann die Zeit verloren gehen. Sie kann nur geordneter oder chaotischer werden. Gewissermaßen gibt es einen Zeiterhaltungssatz. Und wenn es Kräfte gibt, die für die Ordnung der Zeit stehen, mit einem Anfang und einem Ende und einer möglichst geraden Verbindung vom einen zum anderen, so stehe ich für die Unordnung der Zeit. Anfang und Ende sind mir gleichgültig. Ich liebe es, in der Zeit herumzurühren und für Verwirbelungen zu sorgen, wo es nur geht.“

„Warum?“, fragte Faber mit einer größer werdenden Klarheit, die daher rührte, dass er sich jetzt auf den Einfluss des Anderen einließ.

„Weil – und hier ist mir das Klischeehafte meines Gedankens fast peinlich – weil daraus so viel Neues entstehen will; wirklich neues, das den Namen des Neuen auch verdient. Nicht nur mit neuer Schale, sondern auch mit neuer Substanz; nicht nur mit neuem Aussehen, sondern auch mit neuen Regeln.“

„Wie soll das gehen? Soll ich mich zu Tode saufen?“

Der Dunkle zog die Stirn verständnislos zusammen. „Das wäre freilich der gerade Weg“, sagte der Dunkle mit einem Anflug von Humor. „Du könntest es, wenn dir dieser spießbürgerliche Weg der liebere ist, auch bewerkstelligen, indem du dir eine Kugel durch den Kopf jagst. Die geladene Waffe dazu hast du ja schon in deinem Nachttisch liegen. Damit würde uns aber wertvolle Zeit verloren gehen. HANS!“, rüttelte ihn der Dunkle auf. „Es gibt so viele Möglichkeiten, sich gegen die Zeit zu stellen und wirklich neu anzufangen. Du musst dich dazu nicht umbringen. Ich kann dir Wege zeigen, aus dem Leben zu springen, ohne dass du dich dazu selbst aufgeben musst.“

Mit seinem Namen hatte man ihn schon lange nicht mehr angesprochen. Und ihm war jetzt auch bewusst geworden, dass der Dunkle längst bei dem sehr unüblichen Du angekommen war. „Wie soll das funktionieren?“

„Durch meine Gastfreundschaft. Ich vermag in der Zeit mehr zu bewerkstelligen, als du dir jetzt noch vorstellen kannst. Die Welt ist voll von verlorenen Seelen. Bei manchen ist schon in der Schulzeit, bei andern schon mit der Geburt die eigentliche Zeit abgelaufen, weil sich dort nichts mehr zu bewegen vermag und bei manchen sogar der Verfall schon in den ersten Jahren einsetzt. Wir leben in einer Zeit der Fremdbestimmung, der Obrigkeitshörigkeit, der Kaisertreue, der Amtsgläubigkeit. Der Deutsche kommt nur zu sich selbst, wenn er sich in einer größeren Ordnung wiederfinden darf. Über dies hinaus vermag er nicht sich eigenständig zu orientieren. Muss er es trotzdem, fühlt er sich verloren, und zwar im wahrsten Sinne dieses in seiner Bedeutung inzwischen sehr verblassten Wortes. Das war schon immer so, wird immer so sein. Und es wird in der Zukunft sogar noch schlimmer werden. Aber das ist ein anderes Thema, das auf einem ganz anderen Blatt Papier verhandelt werden wird. Tatsache ist, dass die Zahl derer, die schon früh das Zeitliche segnen, schier unendlich ist. Du kennst sie aus deinem Berufsalltag. Es sind die Studenten, die ohne wirkliche Begeisterung für ihr Fach studieren, sich mit Stoff füllen, Prüfungen absolvieren, weil sie das Gefühl haben, dass sie das müssen ohne wirklich zu wissen, warum das so sein muss. Es sind die Schüler, die in der Schule herumsitzen und brav alles tun, was man von ihnen verlangt; die Schüler, die das Sprechen verlernt haben und es auch nicht lernen wollen. Infolge dessen stehen sie in mehr als spärlichem Austausch mit der Umwelt und wirken recht tumb; mit der Zeit werden sie das meistens auch. Ich will nicht lamentieren, aber wir leben in einer Welt, die so eingerichtet ist, dass die eigentlich vitalen Kräfte der Menschen nicht recht zum Ausdruck kommen dürfen, weil man es ihnen zuhause nicht anerzieht, weil man es in der Öffentlichkeit verbietet, weil man es im Berufsleben nicht fordert, weil das Leben heute nur aus Rollen und damit aus Hüllen besteht, die es auszufüllen gilt. Alles ist auf Erhaltung und Bewahrung ausgerichtet, auf Akzeptanz und Hinnehmen. Die wirklich verändernden Kräfte werden mit größtem Argwohn betrachtet, weil deren heilsames Wirken, das sich häufig erst nach Generationen offenbart, von den meisten Menschen nicht ansatzweise für möglich gehalten wird. Viele haben Glück und dürfen ihre Hülle mit Leben füllen und mit einer gewissen Vollständigkeit. Zu viele aber haben das Glück nicht und beschränken schon früh ihr Leben nur auf das Notwendigste. Und ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass deren Leben im Grunde schon in der Kindheit vertan ist.“

„Was für eine düstere Vision das ist, die du da schilderst.“

„Düster ist sie für den, der das Leben bisher nur von der Seite des Lebens kennt. Glaubst du daran, dass der Mensch eine Seele besitzt?“

„Ich weiß es nicht. Gewiss gibt es etwas Innerliches an uns Menschen. Aber …“

„… man kann es“, fiel ihm der Dunkle ins Wort, „leider nicht im Labor durch einen passenden Versuchsaufbau nachweisen, nicht wahr?“

„Wie soll man hier Gewissheit erlangen? Es würde alles ändern. Wenn wir wüssten, dass der Mensch eine vom Körper unterschiedene Seele hat …“

„… dann wäre die Welt um ein paar Bausteine reicher und ihr Wissenschaftler hättet neues Land gewonnen, das es zu erforschen gilt. Eine Gewissheit mehr, die euch spätestens in dem Augenblick um den Verstand bringt, da ihr merkt, dass sie mehr neue Probleme schafft, als man damit lösen kann. Denn wenn man weiß, woraus eine Seele besteht, heißt das noch lange nicht, dass man sie damit auch besser versteht. Ein verrückter Mensch bleibt ein verrückter Mensch, auch wenn man nun weiß, dass dies nicht auf stoffliche Ursachen zurückzuführen ist, sondern alleine eine Sache der Seele ist.“

„Was schlägst du vor? Mir scheint, du weißt bereits die Antwort und möchtest mir einen Vorschlag unterbreiten.“ Hans hatte sich schnell an die Vertrautheit des Du gewöhnt, erschrak aber auch angesichts des Maßes an Bereitwilligkeit ein wenig, mit dem er sich auf die Andeutungen des Dunklen einließ. Dieses Du drang tiefer in seine Seele, so schien es ihm. Sollte er auf einem erneuten Sie bestehen?

„Ich biete dir eine Erweiterung der Beobachtungen, mit denen du bisher kaum über den spärlichen Bereich der Empirie deines Labors hinausgekommen bist. Ich biete dir die unmittelbare Erfahrung an. Ich kann es dir ermöglichen, dein Leben, das hier an ein Ende gekommen ist, an fast jedem beliebigen Ort fortzusetzen, bis du seiner satt und überdrüssig es selbst beenden möchtest.“

„Fast?“, fragte er misstrauisch.

„Es gibt wie überall Einschränkungen und Opfer, auf die man sich einlassen muss.“

Hans wohnte dem Gespräch eher in einer passiven Haltung und in einer hypothetischen Einstellung bei. All das, was der Dunkle zu erzählen hatte, fühlte sich ernst und tiefgreifend, ja aufwühlend an, aber doch auch unwirklich. Es war wie eine gute oder zumindest berührende Lektüre, die man sobald nicht weglegen mochte, weil sie etwas mit einem anstellt und Erwartungen weckt. Daher ließ er sich auf all das Phantastische ein, das er hier zu hören bekam; auch wenn es jetzt Andeutungen von Verbindlichkeiten gab.

„Ich kann dir anbieten“, fuhr der Dunkle fort, „dein Leben in einem neuen, frischen Körper fortzusetzen; in einem jungen Menschen, einem jener Menschen, von denen ich eben geredet habe. Freilich würde das auch bedeuten, dass du dich auf ein wirklich neues Leben einlässt. In dem Augenblick, wo du als neuer Mensch, das erste Mal die Augen öffnest, gibt es kein Zurück mehr. Du hast eine neue, wenn auch kürzere und noch offenere Geschichte, mit der du leben musst und die dich in jedem Augenblick deines neuen Lebens verfolgt und Forderungen an dich stellt. Du hast eine Familie mit neuen Beziehungen und Erwartungen. Du hast Lehrer und wirst eine ganze Reihe von Erfahrungen machen, die du bereits hast durchleben müssen. Du wirst plötzlich Freunde haben wie auch Feinde. Von alledem weißt du vorher nichts. Du wirst eventuell in einer neuen Umgebung leben, die du nicht kennst und die vielleicht sogar nicht die Eigenschaften deines Standes besitzt. Du wirst in neuen Kleidern gehen, in anderen Betten schlafen, von neuen Gerüchen umgeben sein, mit dem Gefühl eines neuen und ungewohnt sich anfühlenden Körpers leben müssen. Vielleicht wird dieser zäher, vielleicht aber auch empfindlicher sein.“

„Interessantes Gedankenexperiment. Ich hatte bis eben den Eindruck, du wolltest mir etwas anbieten, das verlockend und bestechend ist. Gibt es auch Vorteile?“

„Über all dem, das ich dir hier berichte, steht ein neues Leben, das du von Beginn an neu gestalten kannst; wohl bemerkt als die Person, die du jetzt bist: gebildet, klug, reif, erfahren, voll Witz, Verstand und Geisteskraft. Alles Eigenschaften, die du nun in einer Weise einsetzen kannst, die dir in deiner dahinwelkenden Gegenwart verwehrt ist. Du kannst neue Wege ausprobieren und alte Irrtümer vermeiden. Ferner hast du eine perfekte Tarnung: einen jungen und in seiner Welt bereits etablierten Körper mit einer Stimme, die alle kennen; nur eben bewohnt von einem Geist, der sich allen Anforderungen dieses noch unverbrauchten Lebens mit Leichtigkeit wird stellen können und sich dadurch ein ungeahntes Maß an Macht und Anerkennung erschließen wird.“

Hans lächelte leicht, weil er noch immer in einem Zustand zwischen Neugier und Ablehnung dieser Märchen verharrte und das Gefühl hatte, dass er sich behaupten müsste. Wobei dieses Bedürfnis nach Behauptung abgeschwächt war durch die Gewissheit, dass er eigentlich nichts mehr zu verlieren hatte.

„Es gibt aber auch ganz klare Grenzen und Forderungen, die ich dir nicht vorenthalten darf“, setzte der Dunkle seine Rede fort. „Du kannst dir sicherlich vorstellen, dass deine Seele mit deinem Namen sehr eng verbunden ist. Kein Name lässt sich in irgendeiner Weise klassifizieren. Er ist untrennbar – verzeih mir den Pleonasmus – mit einem Individuum verbunden. Würde man den Namen eines Menschen ändern, würde man damit auch seine Seele verändern. Jede Frau weiß dies, die nach der Hochzeit das erste Mal mit dem neu angenommenen Namen angesprochen dieses leichte Gefühl des Entwurzeltseins verspürt und eine Weile braucht, um die neue Luft, die sie atmet, als Teil ihrer eigenen Welt zu erkennen. Darum kannst du zwar dein Dasein in dem unverbrauchten Körper eines fast beliebigen jungen Mannes fortsetzen, aber die Auswahl ist dadurch begrenzt, dass er deinen Namen oder zumindest einen sehr ähnlichen tragen muss.“

„Ich glaube, das lässt sich einrichten“, entgegnete Faber zuversichtlich. „Gibt es noch andere Dinge, die du von mir verlangst?“, fragte er mit einer Zuversichtlichkeit, die zu erkennen gab, dass er nicht im Geringsten mit dem rechnete, was der Dunkle noch von ihm verlangen würde. Der Dunkle wurde sehr ernst und blickte mit einer Mischung aus Besorgnis und Mitleid auf Faber. Ihm war klar, dass er ihm nun eine hohe Hürde würde aufzeigen und gleichsam vor ihm aufstellen müssen.

„Es gibt noch ein Weiteres, das dir nicht leichtfallen wird, aber notwendig ist, damit du zeigst, wie ernst es dir mit diesem Handel ist. Ich hatte eben nicht nur angedeutet, dass es Einschränkungen gibt, sondern auch Opfer, die du wirst bringen müssen. Kurz gesagt: Wenn ich eine Menge Zeit in dich hineinstecke, muss ich sie mir an anderer Stelle holen können. Wenn ich deine Möglichkeiten, Leben zu gestalten ins schier Unendliche erweitere, muss ich an anderer Stelle Möglichkeiten endgültig vernichten dürfen. Deine Frau wird daher ihr Leben lassen müssen.“

Mit diesem Problem konfrontiert wurde Faber mit einem Mal klar, dass er dem Dunklen längst geglaubt hatte, was er ihm offerierte. Denn die Decke des Hypothetischen erwies sich hier als ein lediglich dekorativer Überwurf, der die Konturen dessen, was sich darunter befand, nicht verschwinden machen konnte. Bis zu diesem Augenblick hätte er sich als Vertreter einer eher instrumentellen Moralvorstellung beschrieben, als einen Pragmatiker, der Richtig und Falsch den Zwecken unterordnete, die man im Alltag zu verfolgen hatte. Am Nachmittag freilich war er eher amoralisch in einem nicht ablehnenden Sinne der Ignoranz. Dort war dann einfach nicht der Platz für Moral und die Welt zerfloss in die dumpfe Empfindung von Anziehung und Abstoßung. Wenn er trank, wurden Unterscheidungen weicher, fließender, unbedeutender. Nun aber sah er sich vor ein Problem gestellt, in dem es um ein Leben ging. Eine wirkliche Beziehung zu seiner Frau hatte er nicht mehr. Sie bedeutete ihm nichts mehr. Sie war der Teil seiner Vergangenheit, von dem er sich sukzessive entfernt hatte und den festzuhalten er mehr und mehr die Kraft und den Willen verlor; ein Teil, der zu seiner Geschichte werden und sich in seine Privatheit einbinden wollte. Gleichwohl war es aber auch der Teil, von dem er nun verstanden hatte, dass er dessen Wirkung auf ihn nicht zu beeinflussen vermochte. Streng genommen war er nicht einmal in der Lage gewesen, seine eigene Einflussnahme auf das gemeinsame Leben zu beeinflussen. Das war eine Gewissheit, die sich leicht in ein Gefühl des Vorwurfs umbauen ließ. Ohne den Einfluss seiner Frau wäre er unter Umständen niemals dort gelandet, wo er sich jetzt befand.

„Muss ich sie umbringen?“, fragte Faber und verdrängte dabei schon erfolgreich, dass er im Grunde von einer biographischen Episode mit der Unschuld einer chemischen Reaktion sprach.

„Aber nein!“, heiterte sich der Dunkle mit einer beinahe mephistophelischen Vergnügtheit auf. „Du musst sie nur freigeben. Alles andere erledigt sich quasi von alleine.“

„Wie wird das vor sich gehen?“

„Sie wird sich selbst umbringen. Alles, was du tun musst, ist deine geladene Waffe in deinem Nachttisch liegen lassen; an dem Ort, den sie kennt. Es wird zu einer Aussprache kommen. Ich werde das veranlassen. Schwierig ist es nicht. Sie ist auf ihre Weise eine gescheiterte Existenz. Sie war eine erfolgreiche Studentin; eine promovierte Chemikerin. Sie hat auf alle damit verbundenen Möglichkeiten deinetwegen verzichtet. Sie erträgt den damit verbundenen Groll nur, weil du erfolgreich bist und weil sie nicht weiß, was du tust. Wenn sie aber erfährt, dass ihr Verzicht vergeblich war, weil du mit Kampfstoffen experimentierst, mit Massenvernichtungswaffen, wird sie den letzten Faden, mit dem sie sich an ihr sinnentleertes Leben klammert, loslassen und den Abzug betätigen. Freilich wird sie dies in deinem Hause, vielleicht sogar vor deinen Augen tun, aber du wirst schuldfrei bleiben, denn dieser Abgang geht auf das Konto höherer Mächte, deren Wirken sich im Diesseits nicht nachweisen lässt.“

„Und wenn es nicht funktioniert?“

„Wird es! Für das Gelingen ist nicht entscheidend, wie du dich an dem Tag schlägst. Entscheidend ist dein Entschluss. Steht der fest, gibt es kein Zurück mehr. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Sie wird sich dann nicht im Anschluss an euer Gespräch umbringen, sondern später.“

„Wann?“

„Das willst du nicht wissen.“

„Ich habe das Gefühl, dass ich bereits mehr Wahrheit abbekomme als in den letzten drei Jahren zusammen. Da wirst du mir das letzte Quäntchen in dieser Sache nicht vorenthalten wollen!“

„So sei es. Du hast eine Menge an Entdeckungen gemacht. Manche davon nützen der Menschheit, manche nicht so sehr. Manche deiner Erfindungen wird einmal gut gemeint gewesen sein, jedoch ihre mehr als fatale Wirkung entfalten, die du nicht wirklich wirst begriffen haben, da du dein Anliegen damit für erledigt und gelöst halten wirst. Jedoch wird es deiner Frau, sollte sie dann noch am Leben sein, den Boden unter den Füßen wegziehen und ihr jeden Lebenswillen stehlen. Denn sosehr sie sich auch jetzt von dir entfernt. So groß die Distanz zwischen euch jetzt auch ist. Sie wird sich immer als ein Teil eurer Schicksalsgemeinschaft begreifen. Dazu hat sie zu viel in eure Verbindung investiert. Zu diesem Zeitpunkt würdest du gewiss längst das Zeitliche gesegnet haben und kein körperlicher Teil ihrer Gegenwart mehr sein. So dass du in jedem Fall von ihrem Ableben nur aus der Zeitung erfahren könntest.“

Faber wurde von einem grammatischen Strudel mitgerissen, der ihm teils durch seine Unverständlichkeit, teils durch seinen Mangel an Indikativ eine immer größere Sicherheit in dieser Sache suggerierte. Er hatte es in der Hand und konnte den Handel im Grunde nach seinem Gutdünken gestalten. Dass er es wollte, stand für ihn in diesem Augenblick außer Frage. Es war ihm nicht bewusst, dass der Dunkle ihn im Grunde mit einem einfachen Trick manipuliert hatte. Die Alternative, seine Frau zu opfern oder es nicht zu tun, wurde durch die Alternative, seine Frau durch eine direkte Konfrontation zum Selbstmord zu bringen oder nicht selber anwesend sein zu müssen, ausgetauscht. Er könnte sich also sogar davonstehlen, wenn ihm das lieber wäre.

„Wie geht das vor sich? Muss ich irgendwas unterschreiben oder per Handschlag einwilligen?“

„Aha, ich sehe, da hat jemand in der Schule gut aufgepasst! Schon oft hat die Literatur versucht, meinesgleichen nachzugestalten. Aber wenn ich ehrlich bin, war ich nie gut getroffen. Ich ziehe es vor, das Offensichtliche nicht unnötig durch Zelebration zu festigen. Unterschriften, vielleicht durch Blut, Handschlag, mystische und magische Rituale, Zauberformeln und dergleichen sind für Menschen mit verminderter Denkfähigkeit. Sie benötigen etwas, das sie sich vorstellen können, damit es wahr wird; sowie die Hostie, die ihnen ihre Gerechtigkeit glaubhaft macht oder eine Nationalhymne, die ihnen gemeinschaftliches Verbundensein ins Hirn singt, weil man es plötzlich zu fühlen meint. Die Wirklichkeit hat ihren Ursprung alleine in deiner Entscheidung. Einen Vertrag schließt man nicht durch eine Unterschrift, sondern durch das Wollen der Regeln dieses Vertrages. Merke dir das bitte! Dazu benötigt man kein Blatt Papier und erst recht keinen goldenen Füllfederhalter. Ob du Teil des Vertrages bist, wirst du immer daran erkennen, dass du ein Teil einer Welt bist, die sich durch deinen Entschluss verändert.“

Wann war man entschlossen? Woran merkte man, dass man sich zu etwas entschlossen hatte? Hans Faber versank für einen Moment in Gedanken und merkte nicht, dass der Dunkle verschwunden war. War er wirklich gerade einen Vertrag mit einem Mephisto eingegangen? Er musste bei dem Gedanken schmunzeln; einerseits, weil es ihm noch unwirklich erschien, andererseits, weil er dem Dunklen einen Namen gegeben hatte. Wie war das noch gleich? Gut getroffen hatte ihn die Literatur nie? Dazu gehörte zweifellos ein Name. Nun gut! Aber das war doch nur menschlich, wenn wir eine Bezeichnung brauchten. Nein, eine Bezeichnung war das aber nicht. Es war ein Name. Dahinter steckt immer ein Subjekt; jemand, der Entscheidungen treffen und den man dafür verantwortlich machen kann. Hans sah recht klar, was der Dunkle mit seiner Lektion hatte sagen wollen: Er bot sich als Vehikel der Zeitlichkeit an. Darüber hinaus hatte er offensichtlich nichts zu bieten. Das Ja zu einem Vertrag lag in den Händen dessen, der sich dazu entschloss und damit in dessen Verantwortlichkeit. Und sobald man in Anerkennung dieses Vertrages durch sein Entschlossen-Sein etwas in der Welt veränderte, hing man in der Sache, war man ihr verhaftet. Entschlossen-Sein war das Gegenteil von Zweifel. Entschlossen-Sein zeigte sich immer schon in der Tat, in der Zielstrebigkeit, aber auch im Zulassen. Er fand das alles umso banaler, je länger er darüber nachdachte. Und weil es so banal war, wurde ihm auch klar, worin die Verlockung der Macht lag, die ihm der Dunkle in Aussicht stellte. Wer vermögend war, konnte sich über die moralische Anklage hinwegsetzen, je mehr Macht man besaß, desto weniger Anklage würde einem begegnen. Für einen kurzen Augenblick fragte sich Faber, ob der Dunkle ihm an Ende nicht eine Falle gestellt hatte. Aber so schnell, wie dieser Gedanke kam, wischte er ihn auch wieder beiseite und schüttelte dabei lächelnd den Kopf. Zu unwirklich schien ihm noch all das, was er gehört hatte. Zu fern, um es als greifbar zu begreifen.

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9783750218291
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