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Читать книгу: «Faber», страница 3

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Dunkel war es inzwischen geworden, früh am Abend. Das Gespräch erschien ihm in einer kurzen Weile verstrichen zu sein, tatsächlich mussten Stunden vergangen sein. War das ein Vorgeschmack auf die Macht über die Zeit, von der der Dunkle sprach? Wo war er überhaupt? Würde er ihm wiederbegegnen? Faber ordnete seinen Schreibtisch und dachte darüber nach, was er jetzt tun würde. Normalerweise war er um diese Zeit regelmäßig in einem Zustand, in dem er sich über solche Fragen den Kopf nicht mehr zerbrechen konnte; in einem Zustand, der er nur als dumpf, träge und langsam zu beschreiben war. Das war das ziemlich genaue Gegenteil von dem, was er jetzt empfand. Er fühlte sich leicht, er fühlte sich - erhaben. Ihm war, als würde er nicht wirklich in diese Welt gehören. Alles war wie in einem größer gewordenen Abstand. Er hatte den Geschmack von Alkohol auf der Zunge. Das war ein untrügliches Zeichen für den starken Appetit auf hochprozentige Getränke, die ihm Betäubung versprachen. Aber es bereitete ihm in diesem Augenblick keine Schwierigkeiten, dieses Gefühl zu ignorieren. Ganz im Gegenteil! In einem gewissen Sinne war es mit einem weiteren Hochgefühl verbunden, von diesem Appetit zu wissen, ihn wahrzunehmen, ihn ins Bewusstsein zu heben und ihm nachzuspüren. Es war ein kleines Kribbeln in den Mundwinkeln, das er nun auf die Zunge schob, beobachtete und seines Anspruches auf Befriedigung entledigte, bis nur noch eine leise Ahnung dieses Appetits übrig blieb und unter dem Einfluss eines sich öffnenden neuen Horizontes in Fabers Leben erstarb.

***

Einige Tage später stand er ratlos vor seinem Haus und sah seiner Gattin hinterher, die sich ohne zurückzublicken und mit wütendem und entschlossenem Schritt entfernte. Den Dunklen hatte Faber seit dem Treffen in der Universität nicht mehr gesehen. Und mit den Tagen stellte er sich immer häufiger die Frage, was nun eigentlich zu tun sei oder ob überhaupt etwas zu tun sei. Zwischendurch hatte er Phasen der Unsicherheit ob seines Vertrages und gelegentlich dachte er daran, sich wegen des Alkohols in Behandlung zu geben. Ebenso gut hatte er ja auch unter Wahnvorstellungen leiden können, unter einer Paranoia, in der sich gemäß der neuen psychoanalytischen Mode allerlei Wünsche Bahn brechen konnten und sich den halluzinativen Weg in die Welt der konkreten Erscheinungen suchten. Was lag aus dieser Sicht näher, als sich den Weg aus seiner Welt hinaus zu wünschen, ohne Sucht und ohne Sterben?

Er sah ihr hinterher und fühlte sich auf eine merkwürdig undurchschaubare Weise geprüft. War das der Fall, so musste er auf ganzer Strecke versagt haben, denn er hatte in den zehn Minuten, die sie vor seiner Tür stand und keinen Einlass begehrte und in denen sie die meiste Zeit ebenfalls schwieg, keinen einzigen Laut über die Lippen gebracht. Er konnte nichts sagen. Er hätte gerne die Wahrheit gesagt, aber diese lag weit außerhalb des in diesem Augenblick Mitteilungsmöglichen und sie hätte ihn für verrückt gehalten oder geschlossen, dass er sie verachtend zum Narren halten wollte. Doch was hätte er sonst sagen sollen? Jede andere Äußerung wäre eine leicht zu entlarvende Lüge gewesen und für sie in diesem Moment ein Eingeständnis seinerseits, dass er einen schweren moralischen Fehltritt begangen hatte, über den sich nicht einmal offen reden ließ. Denn offenbar wusste sie – woher auch immer – längst Bescheid über das, was er beruflich gerade tat. Sie verdeutlichte ihm ihre Vorstellungen von Berufsethik und machte ihm klar, dass sein Tun mit diesen nicht vereinbar war. Sie hielt ihm vor, sich als Wissenschaftler dem Geld und einer zweifelhaften Sorte von Erfolg verschrieben zu haben. Sie bezeichnete seine Arbeit als faustisch, als eine Perversion der Wissenschaft. Er würde all das, was er erreicht hatte und wofür ihm jede Ehre gebührte, entwerten und mit Füßen treten.

Er wusste sehr genau, wovon sie sprach. Sie redete in Resten noch mit einem Faber, den es so nicht mehr gab. Seit einiger Zeit hatte er seiner Arbeit eine andere Richtung gegeben. Hatte er bis vor Kurzem noch in nutzenbringender Weise daran gearbeitet, aus Luft Pflanzendünger zu gewinnen, so konzentrierte er sich jetzt darauf, die Luft als Träger des Todes zu verwenden. Und bei dieser Arbeit stieß er auf ein hohes politisches Interesse an seinen Ergebnissen, die sich nicht nur in einem gewissen Maß an Renommee in der Politik auszahlte, sondern auch finanziell einiges an Möglichkeiten für ihn und sein Institut barg, weshalb man ihn dort auch gewähren ließ, solange es mehr Nutzen versprach als Schaden.

Ebendies hatte sie ihm zum Vorwurf gemacht und bemerkenswert war, dass sie ihm den moralischen Vorwurf machte, obwohl seine Arbeit bislang noch von keinem sichtbaren Erfolg gekrönt war. Es ging ihr um Werte und deshalb hatten sich ihre Welten damit endgültig geschieden. Er konnte dies in ihren Augen sehen, in denen nichts als der klare immerwahre Ernst sich ausdrückte, dem er nichts entgegenzusetzen hatte. Sie hatte Recht. Und ein paar Jahre vorher hätte er dies auch noch akzeptieren können. Nun musste er ihr nachblicken in dem Gefühl, versagt zu haben, aber auch in dem Gefühl der Erleichterung, das mit der Tatsache einherging, dass sie sich nun endgültig von ihm abgewendet hatte. Er musste ihr nichts mehr vormachen und war gleichzeitig der Notwendigkeit enthoben, sich selbst in eigenen Worten zu erklären. Sie war jetzt der Träger eines Willens, der alles Weitere zu seinem Vorteil besorgen würde. Das fühlte sich bequem an. Er musste innerlich keine größeren Bewegungen machen.

Als er nachdenklich die Tür schloss, klatschte im Nebenzimmer jemand regelmäßig in die Hände. Der Dunkle empfing ihn mit einsamem Applaus, begeisterten Augen und einem gönnerhaft breiten Grinsen, das quer über sein ganzes Gesicht lief und den Ohren etwas Spitzes gab. „Bravo!“, rief er. „Braaaavo! Das hast du gut gemacht.“

Faber verstand nicht. Machte der Dunkle sich über ihn lustig? Ein wenig trübte dieser erste Ärger über diesen Auftritt das Wiedersehen, das er eigentlich erhofft hatte. Denn immerhin verschaffte ihm dieses Wiedersehen Gewissheit darüber, dass er doch nicht ganz vom Verstand verlassen gewesen sein konnte, und gab seinem Verhalten in den letzten zehn Minuten einen Sinn.

„Du hast es geschafft. War doch gar nicht so schwer, oder? Nimm Platz! Wir müssen jetzt über die Details deiner Zukunft reden.“

Auch hier konnte Faber nicht angemessen reagieren, weil er nicht wusste, wovon der Dunkle sprach. Zu stark war noch das Gefühl, gerade alles andere als erfolgreich gewesen zu sein.

„Du verstehst nicht, was du gerade gemacht hast, weil es sich nicht so anfühlt, wie sich in deiner Welt Erfolg anfühlt, habe ich Recht?“

Faber nickte in der Erwartung, dass der Dunkle ihn aufklärte. Also fuhr dieser fort: „Die Menschen denken immer, man könne nur entschlossen handeln. Aber das ist Unsinn. Man kann ebenso entschlossen schweigen, stillstehen, die Dinge entschlossen so sein lassen, wie sie sind, die Dinge entschlossen so geschehen lassen, wie sie geschehen. Man benötigt dafür noch nicht einmal Prinzipien. Das ist gewissermaßen eine Metaphysik von einem nicht alltäglichen Standpunkt aus. Die meisten Menschen denken, die Welt, in der wir leben, sei das Resultat all unserer großartigen Leistungen. Das ist ein tiefer Irrtum. Unsere Welt ist in der gleichen Weise das Resultat all unserer Schwächen und Fehlleistungen, all unserer Versäumnisse. Lernen, so denken die meisten, sei immer ein positiv gerichteter Prozess; und zwar automatisch. Was für eine gewaltige Fehlleitung pädagogischen Denkens! Wir lernen ständig auch solche Dinge, die sich gegen uns wenden werden und die nicht gut für uns sind. In derselben Weise denken Menschen auch über ihre Tugenden und Begabungen und nicht zuletzt über das, was man als Fortschritt bezeichnet. Aber genug des Dozierens! Du hast dich wacker geschlagen! Du hast dich ihr nicht in den Weg gestellt. Und – das ist das Wichtigste – du hast nicht versucht, einen anderen Eindruck von dir zu erwecken, als den, den sie bereits von dir hatte. In ihren Augen bist du das, was du bist; oder zumindest, was du jetzt zu werden im Begriff bist. Du hast nicht versucht, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Sie durfte dir verdeutlichen, als was du gerade erscheinst. Das nenne ich geradlinig! Tüchtig! Sehr tüchtig, mein Guter!“

Faber verstand, worin sein Erfolg bestand. Um sich auf die Seite des Dunklen zu schlagen, musste man nicht in besonderer Weise tätig sein oder gar für etwas kämpfen und einstehen. Es reichte, sich dem zu Erwartenden nicht in den Weg zu stellen. Das war schon Entschluss. Es kam ihm etwas dürftig vor, wenig romantisch und erst recht nicht heldenhaft, zumal der Dunkle auch angedeutet hatte, dass in seiner Welt sogar der Misserfolg eine Art von Fortschritt sein konnte. Es fühlte sich an, als hätte man in dieser Einstellung lediglich einen Teil seines Stolzes zu opfern.

„Um aber nun zum Geschäftlichen zu kommen“, fuhr der Dunkle unbeirrt fort. „Du wirst deine erste Reise antreten und musst nun wählen, wohin sie ungefähr gehen soll. Sobald du dies getan hast, geschieht alles andere von ganz alleine.“

Erstes Kapitel – März 1915

Er erwachte langsam wie aus einem tiefen Schlaf, ohne wirklich geschlafen zu haben, mit einem Kribbeln im Gesicht, ganz ähnlich dem, das man hat, wenn einem die Füße eingeschlafen sind und langsam wieder aufwachen. Er öffnete die Augen, fühlte seine gefalteten Hände, seine gerade ausgerichteten Füße und seinen gespannten Rücken und die harte Pultkante unter seinen Ellenbogen. Mit diesem Gefühl verband sich ein latentes, aber spürbares Gefühl der Angst, von dem er nicht wusste, ob es durch die Gegenwart oder durch eine starke Erinnerung ausgelöst wurde. Als die Punkte vor seinen Augen mit dem Kribbeln in seinem Gesicht aber langsam verschwanden, wusste er sofort, dass es sich hierbei um einen Reflex handeln musste; einen Reflex auf seine Körperhaltung, die er nur an einem einzigen Ort in seinem Leben in eben dieser Art einzunehmen hatte und die er zu einem Teil seiner Überlebensstrategien in dieser Institution gemacht hatte und die ihn zumindest phasenweise vor den harten Züchtigungen bewahrte, die er im Falle der Nichtbeachtung so oft zu erdulden hatte.

Es hatte sich nichts geändert in den letzten – wie viele eigentlich? – Wochen, Monaten oder Jahren. Sein Blick wanderte vorsichtig und ohne einen Mangel an Aufmerksamkeit für den dozierenden Lehrer erkennen zu lassen, durch den Klassenraum. An der Wand ein Bild, das er in leicht veränderter Form schon aus wesentlich früheren Tagen kannte: der Kaiser mit diesem übermäßig lebendigen Blick, der für die kleinsten Schüler einen Schrecken darstellte, weil vor ihm sogar die Väter in die Beuge gingen, und für die älter werdenden immer mehr zum Spiegel ihres Wesens wurde, zu einer beständigen Prüfung, inwieweit man in dieses Wesen hineinwuchs und vor ihm bestand. So oder so ließ es sich nicht vermeiden, dass man zu ihm ein Verhältnis entwickelte. Der Rest des Mobiliars war spartanisch und es war sehr kalt.

Der Lehrer sprach über eine neue zu erlernende Schrift, die mit sofortiger Wirkung die alte und viel zu stark verzierte Kurrentschrift ablösen sollte. Er schrieb, oder besser, er malte einige Wörter an die Tafel, da auch ihm diese Schrift noch nicht leicht von der Hand zu gehen schien. Grobschlächtig war sie, einnehmend und sehr begradigt. Hatte sie etwas mit den Menschen zu tun, zwischen denen er sich jetzt befand? Die nun folgenden Schreibübungen, mit denen diese Schrift erlernt und eingeübt werden sollte, fielen ihm zum Glück nicht schwer. So konnte er sich mit der Umgebung vertraut machen, sich eingewöhnen, sich die Namen seiner Mitschüler einprägen, so gut es eben ging. Vielleicht gab es sogar bestehende Beziehungen, denen er nun gerecht werden musste.

Hans beruhigte sich bei dem Gedanken ein wenig, dass der Lehrer zu der eher dozierenden Sorte gehörte. Er hatte schon eine ganze Reihe von ihnen ertragen müssen. Grob ließen sie sich in zwei Gruppen einteilen. Die einen – wie dieser hier – dozierten gerne und ließen damit die Schüler weitgehend in Frieden. Die anderen waren die Unbequemen. Sie liefen mit dem Notenheftchen durch die Klasse und riefen wahllos Schüler auf, die ihre erworbenen Kenntnisse preiszugeben hatten. Bei diesem blieb man offensichtlich unauffällig. Er lief zwar durch die Reihen, doch nur, um den Fortschritt in den Übungen zu überwachen und deren reibungslosen Fortgang im Auge zu haben. Auch an Hans ging er vorüber; jedoch stockte er hier kurz, zog prüfend wie auch verwundert die Augenbrauen hoch und ging mit einem leise gemurmelten „überraschend … überraschend …“ weiter.

Hans realisierte zunehmend die neue Situation und machte sich klar, welche Probleme sich als die wichtigsten Herausforderungen für diesen Tag herausstellen würden. Sich Mitschüler vom Halse halten, bei denen man noch nicht wusste, wie man sich gewöhnlich verhält. Wahrscheinlich musste man am besten Situationen vermeiden, in denen man Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnte. Wovon hängen gängige Wiedererkennungsmerkmale ab, wie etwa der eigene Gang oder natürliche Gesten, die man macht? Was kennen die Mitschüler von einem, wodurch könnte man sich verraten? Wie war bisher das Verhalten im Unterricht und welches Ansehen hatte man hier überhaupt? Das waren naheliegende Fragen, die gleichzeitig für schnell zu lösende Probleme standen. Aber sie bezeichneten nur das zeitlich Vorrangige. All dies, was sich hier bot, war nichts im Gegensatz zu dem, was nach der Schule auf ihn wartete; ein Zuhause. Wie sollte er sich dort verhalten? Wie waren seine Eltern? Wie sprach man dort? Welche häuslichen Gewohnheiten gab es dort? Und wo war es? Wie kam man nach Hause? Die Lage war schwieriger, als er sie sich vorgestellt hatte. Und er fragte sich, ob der Dunkle sich dabei etwas gedacht hatte oder ob er sich einen Scherz mit ihm erlauben wollte. Gewiss war der Dunkle so etwas wie ein Vertreter, ja Statthalter des Chaos mit bisweilen merkwürdigem Humor. Aber würde er ihn einfach so ins Chaos der Orientierungslosigkeit stürzen? Dafür war er zu interessiert an diesem Handel gewesen. Außerdem handelte er ja gewissermaßen mit Zeit und Hans durfte sich als eine Investition betrachten, die dem Dunklen nicht egal sein durfte. Jedenfalls glaubte er, dies in den letzten Unterredungen gespürt zu haben, auch wenn ihm dabei nie wirklich deutlich wurde, worum es dem Dunklen eigentlich ging.

Ihn beschlich Angst, eine Angst, die stärker war als die durch die bekannte Schulsituation hervorgerufene. Sollte er schon so früh auffliegen, bedeutete dies eine Katastrophe. Wahrscheinlich würde man ihm Wahnsinn attestieren, ihn in ein Heim oder sogar eine Irrenanstalt geben, noch bevor er sein neues Leben in Angriff hätte nehmen und all seine Möglichkeiten ausschöpfen können. Oder war das vielleicht der Weg, den der Dunkle für ihn bereit hielt? Welche Möglichkeiten barg der Weg eines Verrückten? Hans musste grinsen und innerlich lachte er dabei kurz auf, so dass es als ein kurzes Schnaufen hörbar und vom Lehrer vernommen wurde, der in diesem Augenblick neben ihm innehielt und ihm verdeutlichte, wo er stand: „Na, der Herr Stollberg hat ja heute ein außergewöhnliches Frohgemüt, das er für uns an den Tag legt. Nicht nur, dass er seine Aufgabe auf das Akkurateste anfertigt, als wollte er sein Leben ändern. Darüber hinaus trägt er eine Miene vor sich her, die er uns bislang nicht einmal an den sonnigen Tagen hat zeigen wollen. Da macht sich wohl schon der Frühling bemerkbar!“

Keiner lachte und Hans hatte alle Aufmerksamkeit seiner Mitschüler. Das war die Situation, die er sich nicht gewünscht hatte, aber für die er auf eine Weise auch dankbar war. Denn jetzt wurde ihm alles ein wenig klarer. Er hatte wohl einen Stand in dieser Klasse. Man war es offensichtlich gewohnt, von ihm selbst in einfachen Angelegenheiten enttäuscht zu werden. Ferner war man von ihm keine Fröhlichkeit gewohnt. Beides rätselhaft und beunruhigend, zumal man sich hier einer leichten Schätzung nach doch sicherlich mindestens in der Untersekunda, vielleicht sogar in der Obersekunda befand, was die nächsten Tage bestimmt noch enthüllen würden. Nichtsdestotrotz eine Rolle mit einer gewissen Klarheit, auf die man sich einfacher einstellen konnte als auf einen angesehenen Primus, von dem alle Welt ständig Höchstleistungen erwartete. Dass auf diese Bloßstellung keinerlei Reaktion von Seiten der Mitschüler kam, beunruhigte ihn. Entweder war der Lehrer aus irgendeinem Grund gefürchtet oder aber, was schlimmer wäre, man war der Gemiedene, der Sonderling und jedermanns Prügelknabe. Dann freilich hatte man die Schule noch vor der letzten Stunde zu verlassen.

Hans erwägte, unter einem Vorwand die Schule früher verlassen zu können. Er konnte sich beim Lehrer krankmelden und ein Leiden vortäuschen. Aber da gab es noch etwas, das sich hierbei ungut anfühlte. Hans wusste in diesem Augenblick noch nicht, was es war. Er schaute aus dem Fenster. Wie spät mochte es sein? Eine geschlossene Wolkendecke verdeckte den Himmel und erklärte die ungemütliche Frühlingskälte. In welcher Gegend mochte er gelandet sein? Wo in aller Güte sprach man angesichts dieser Temperaturen von einem Frühling, der sich bemerkbar machen könnte? Schemenhaft konnte man die Schatten erkennen, die die Bäume des Schulhofes warfen. Ob es lange oder kurze Schatten waren, war nicht auszumachen, desgleichen nicht, um welche Himmelsrichtung es sich dabei handeln könnte. Aber was sollten diese Nachforschungen auch bringen?

Er hatte nicht bemerkt, dass er unter diesen Betrachtungen seine Schreibübungen aus den Augen verloren hatte. Der Lehrer schon, der wieder neben ihm stand und dessen schreckliche Allgegenwart in dieser Stunde unangenehm wurde. „Sie haben heute die einmalige Gelegenheit“, begann er in einer sarkastisch hohen Stimmlage, „in einer Übung zu glänzen, die Ihnen am Ende eines wahrlich harten Schultages Arbeit auf Volksschulniveau ermöglicht. Aber dieses Angebot, das Ihnen unsere Anstalt heute unterbreitet, scheint Ihnen der Mühe nicht Wert zu sein. Stattdessen blicken Sie lieber in die Natur. Da Sie dies aber heute mit offenen Augen tun, möchte ich von einem Angebot meinerseits absehen, Ihnen das vollständige Erlernen der neuen Normschrift im Zuge einer verlängerten Schulzeit zu ermöglichen. Sie werden dies allerdings zuhause tun dürfen, indem Sie einen Aufsatz von zehn Seiten verfassen. In diesem werden Sie die Vorteile aufmerksamer und ununterbrochener Mitarbeit in der Schulstunde darlegen und dabei die neue Schrift verwenden. Um den Lerneffekt zu steigern, werden Sie darauf zu achten haben, jeden der neuen Buchstaben zu verwenden.“

Das saß. Hans kannte nun nicht nur seine Rolle. Er kannte seine Persönlichkeit wie auch das Verhältnis des Lehrers zu dieser, wenn auch bis jetzt noch zu andeutungsweise, als dass man sich eine klare Vorstellung hätte herleiten können. Aber er wusste nun so viel, dass er auf irgendeine Weise ein Sonderling in der Klasse war und dass darüber offenkundig eine stillschweigende Übereinkunft zwischen Lehrern und Schülern in dieser Anstalt bestand – und dass in dieser Hinsicht eine große Herausforderung auf ihn wartete.

Die vorerst größte stellte sich aber mit dem Klingeln ein. Artig und in einem vertrauten Gleichschwung legten die Schüler ihre Bücher unter die Pulte. Er wunderte sich ein wenig darüber, wie automatisch und beinahe im selben Takt mit den anderen er dies immer noch zu erledigen vermochte, so dass er hiermit nicht weiter auffiel. Danach brach im Vergleich hierzu ein wahrhaftes Chaos aus. Denn die Schüler stürmten, sobald die Pulte leer waren, ungeordnet aus der Klasse, was der ansonsten sehr aufmerksam wirkende und auf Ordnung, ja Sorgfalt bedachte Pädagoge gewähren ließ. Hans hielt es für ratsam, sich den geometrischen Mittelpunkt in der aus dem Eingang stürmenden Menge zu suchen, der ihm ein Höchstmaß an Anonymität und Unbehelligtheit garantieren konnte. Außerdem musste er dann nicht den Ausgang aus dem verwinkelten Schulgebäude suchen, sondern er konnte einfach mitfließen. Alles Weitere würde sich hoffentlich draußen ergeben. Das Beste war, man schlug möglichst bald die entgegengesetzte Richtung der eigenen Mitschüler ein, so dass man baldigst mit möglichst wenig von ihnen – besser sogar keinem – konfrontiert war.

So ging es ohne weitere Probleme bis vor die Tür und dann auf die Straße, wo Hans dann deutlich wurde, dass eine unsichtbar lenkende und vorsorgende Hand alles Weitere offensichtlich bereits geregelt hatte. Ein lautes und übermäßig helles Quieken zog die Aufmerksamkeit von Hans auf einen Punkt am Rand der Straße, wo ein von einem Fuß auf den anderen hüpfendes Mädchen ihn offensichtlich freudig begrüßte. Die Tatsache, dass niemand anderes auf das Mädchen achtete, beruhigte ihn in doppelter Hinsicht. Denn so wusste er, dass dies für ihn keine Gefahr bedeutete und außerdem war es offensichtlich allen bekannt. Er steuerte auf das Mädchen zu. Niemand sonst war mit den ungestümen, aber dennoch eindeutigen Gesten gemeint als alleine er. Offensichtlich wurde er abgeholt, wodurch sich die Frage nach dem Nachhauseweg hoffentlich erübrigte. Er näherte sich unsicher dem Mädchen, das auch, als er signalisierte, verstanden zu haben, weiter von einem Bein auf das andere sprang, nicht müde werdend und dabei ohne Unterbrechung hohe und immer fremdartiger wirkende Töne, aber keine artikulierten Laute oder Worte von sich gab.

Hans erkannte schnell, dass es sich um ein behindertes Mädchen handelte, zu dem er offensichtlich eine enge, vielleicht sogar familiäre Beziehung haben musste. Denn waren die Laute auch nicht artikuliert, so waren sie dennoch eindeutig freudig, herzlich und ihm gewidmet. In diesem Augenblick wurde ihm bewusst, dass er von seinem eigenen Aussehen noch nichts wusste. So war es ihm nicht möglich, eventuelle Familienähnlichkeiten zu entdecken.

Das Mädchen kam ihm nicht entgegengelaufen. Die Möglichkeit bestand. Es war dort alleine und wurde von niemandem gehalten. Die Szenerie war umso ungewöhnlicher, als dass es eh schon undenkbar war, eine Geistesschwache unbeaufsichtigt in der Öffentlichkeit stehen zu lassen. Als er näher kam, bemerkte er in dem Gebaren des Mädchens eine große Ungeduld. Sie streckte ihm lachend die Hand entgegen, die er nur widerwillig nahm, war er diese Art von Begegnung doch bisher nicht gewohnt. Doch ließ er sich auf das Angebot ein, weil es für ihn auch etwas in dieser Situation Erleichterndes hatte. Immerhin löste dies in diesem Augenblick mehr Probleme, als er alleine hätte bewältigen können.

Sie nahm ihn an der Hand und zog ihn ohne Zögern von der Schule weg durch eine ihm vollkommen unbekannte Gegend. Ihre Beharrlichkeit erinnerte Hans an einen Hund, der seinen Weg kannte und seinen ganzen Dienst in die Erledigung einer Gewohnheit stellte. Es ging eine gute Stunde zu Fuß durch lange Alleen und Straßen, die jenen, die er aus Berlin kannte, ähnelten und darauf hindeuteten, dass es ihn in eine größere Stadt verschlagen hatte. Auch hier fuhr zwischen den üblichen Pferdegespannen schon eine auffällige Menge an Automobilen durch die Straßen. Das Mädchen zog ihn in eine Gegend, in der die Häuser merklich höher und dichter wurden. In der Ferne war die Elektrische zu hören. Es hatte ihn offenbar in den Norden verschlagen. So war das ihm vertraute Milieu der Stadt zu erklären, aber auch die Dunkelheit in den Häuserschluchten und nicht zuletzt die intensiven Gerüche, die er hier vernahm.

Das Mädchen zog ihn weiter, es ging noch durch einige schmale und mit hohen Häusern verbaute Straßen. Hans holte die Erinnerung ein, dass er Menschen eigentlich nicht wirklich mochte und dass er schon eine so lange Zeit vor seiner – wie sollte er es nennen? – Reise eher die Isolation gesucht hatte. Zwiesprache hielt er eigentlich nur in dem stabilen institutionellen Rahmen seiner Vorlesungen und Forschungen, wo es im Grunde nicht der Mensch, sondern die Chemie war, die das Zusammenwirken der Menschen bestimmte. Dass er sich nun auf etwas vollkommen Neues würde einstellen müssen, wurde ihm angesichts dieser Enge menschlicher Behausungen und menschlichen Treibens bewusst. Ein Satz aus einem der neueren Romane, der ihn sehr angesprochen hatte, für dessen vollständige Lektüre er aber keine Geduld hatte aufbringen können, kam ihm in den Sinn: „So, also hierher kommen die Leute, um zu leben, ich würde eher meinen, es stürbe sich hier.“ Die Stadt erschien ihm nicht wirklich wie das Milieu, in dem sich der Mensch als Mensch wiederfinden und ein seinem Wesen entsprechendes Dasein führen konnte. Die Stadt war für ihn eher der Ort, an dem sich ein instrumenteller Geist verwirklichte, der ebenso anonym war wie der Mensch, mit dem man hier massenhaft unter einem Himmel lebte. So anonym wie der Dunkle, kam Hans in den Sinn. Vielleicht war gerade die Stadt dessen eigentlicher Wirkungskreis. Hier hatte das Chaos eine erschreckende Präsenz, der Niedergang lauerte hier massenhaft hinter jeder Ecke. War es nicht hier, wo ein Brand 1842 große Teile der Stadt zerstört hatte? Auf dem Land hätte so etwas im Normalfall lediglich einen Hof mit allen dazugehörenden Gebäuden dahingerafft. Aber hier schien es ihm, als wäre alles im großen Stil möglich, auch der Niedergang. Degenereszenz an jeder Ecke. Da unterschied sich hier nichts wesentlich von Berlin.

Andererseits hatte dies aber auch etwas Beruhigendes – und darum kreisten seine Gedanken immer wieder. Denn gerade diese Umgebung war es, in der jeder so sehr mit sich selbst beschäftigt war, dass hinreichend wenig Aufmerksamkeit für ihn übrig bleiben würde; ihn, der jetzt in der Hülle eines Pennälers die Straßen durchquerte; auf Beinen, die ihn nie zuvor getragen hatten. Lediglich eventuelle Nachbarn, die Mitschüler und natürlich die eigene nun neue Familie waren es, denen er hier eine glaubhafte Rolle würde vorspielen müssen. Wobei sich ein Teil der neuen Familie offenkundig schon erledigt hatte. Das irre Mädchen, das ihn durch die Straßen zog und ein überraschend geringes Maß an Aufmerksamkeit in der Umgebung weckte, hatte bisher noch keine Fragen gestellt und würde dies gewiss auch weiterhin nicht tun. Wahrscheinlich konnte sie nicht einmal sprechen oder irgendeine Art von Beziehung zu Menschen aufbauen. Sie machte es ihm also leicht.

Der weitere Teil lebte hinter einer dunklen und im Norden des Reiches offensichtlich beliebten Rotklinkerfassade. Hans wurde in die Richtung eines bemerkenswerten Gebäudes gezogen, dessen regelmäßige und große Fenster denen der Schule glichen, in der er gerade erwacht war. Die Eingangstür erreichte man über einen halbrunden Treppenaufgang und es hätte ihn nicht gewundert, wenn hier ein Bediensteter die Tür geöffnet hätte. Vor der Tür blieb das Mädchen stehen und rührte sich nicht. Offensichtlich war es an Hans, um Einlass zu bitten. Er betätigte eine Klingel und wartete, bis sich hinter der Tür etwas regte. Man ließ ihm keine Zeit, einen ersten Eindruck zu erhaschen. Eine riesige Hand packte ihn an den Schultern, zerrte ihn augenblicklich durch die Eingangstür und verdrosch ihn mit einer erschreckenden Routine. In einer Ecke des dunklen Flurs kam er wieder zu sich. Das Mädchen stand noch immer bei ihm und schaute still zu ihm herunter. Es bückte sich grinsend und zog an einem Band, das um seinen Hals hing, bis ein Schlüssel zum Vorschein kam. Dann ging es den Flur entlang und verschwand in einer der zahlreichen Türen. Hans fragte sich, wann er den Dunklen wiedertreffen würde. Er hatte viele Fragen.

Welche Verbindungen zu den Mitgliedern der hier lebenden Familie es aufzubauen galt, blieb in der Folge auf eine angenehme und vieles erleichternde Art offen. Ein Ruf nach seinem Namen von einer weiblichen Stimme, deren Schroffheit ihn an die Hand erinnerte, durch die er zuvor verdroschen worden war, holte ihn an einen langen und von Kindern unterschiedlichen Alters besetzten Tisch inmitten einer gekachelten Waschküche. Es war laut und kalt, es roch nach Seife, Essen und verschwitzten Kindern. Bei Tisch ging es ungezügelt zu. Man schlug sich, verteilte Tritte unter dem Tisch und schnitt Grimassen. Eine derbe Frau trug unterdessen das Essen auf. Sie rief einige Anweisungen in den Raum und versuchte leidlich Ordnung herzustellen. Die Kinder reagierten kaum auf sie und dies schien ein Teil des hier als normal empfundenen Geschehens zu sein. Sie tat jedem auf, worauf jedes auf mehr oder minder umständliche und ein nur sehr geringes Maß an Kultiviertheit zeigende Weise mit dem Essen begann. Lediglich das Mädchen am Tischende, das Hans als seine Schulwegbegleitung erkannte, und ein weiteres ihr ähnliches saßen schweigend vor ihren Tellern und warteten.

So fand Hans sich also in einer Umgebung wieder, die bevölkert war von einer rund zwanzigköpfigen Schar Geistesschwacher jeder denkbaren Abstufung. In seinem Verstand begann sich die bange Frage zu regen, ob er ein Teil dieser Horde war und welche Rolle ihm zukam. Doch auch hier sah er wieder die Vorteile. Diese Kreaturen schienen kaum Notiz von ihm zu nehmen und keine zwischenmenschlich herausfordernden Ansprüche an ihn zu stellen. Es gab schwere und nahrhafte Kost und es schien, als habe er hier eine Bleibe. Ferner war er offensichtlich an einer normalen Schule, wenngleich man dort sonderbar auf ihn reagierte, vielleicht sogar an einer höheren Lehranstalt mit naturwissenschaftlicher Ausprägung. Alles in allem schien er also in ein Milieu geraten zu sein, das keine besonders hohen Erwartungen an ihn stellte. Er schien einen Körper zu tragen, der keine besondere schauspielerische Leistung von ihm abverlangte. Weder müsste er einen adoleszenten Jungspund spielen, noch einen Idioten zum Besten geben. Beides hätte gleichermaßen über dem gelegen, das zu leisten er im Stande gewesen wäre. Offenbar war es zunächst an ihm, unauffällig zu sein. Fast bewunderte er den Dunklen, der für einen Vertreter seiner Art ein bemerkenswertes Feingefühl im Umgang mit einer menschlichen Seele an den Tag legte. Und doch hatte er das Gefühl, dass er auf der Hut sein musste, um nicht entdeckt zu werden.

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