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Читать книгу: «Das Buch des Kurfürsten», страница 4

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Er hob den Arm zum Gruß und verschwand im Dunkel der Gasse.

Zögernd tat Philipp einige Schritte Richtung Kanzleigasse. Der Fremde hatte gesagt, er käme auf ihn zu. Wo war er?

Er spähte vor sich. Schnee bedeckte das Pflaster, die Dächer, erhellte die Nacht. In der Ferne vor ihm schimmerte weißlich der waldige Hang am Friesenberg. Wo waren Hedwig und Juli? Und was würden Kilian und die Freunde denken?

Er erschrak, als sich eine dunkle Gestalt aus dem Schatten an der Ecke des Kanzleigebäudes löste und auf ihn zukam.

„Du hast es?“

Philipp nickte. Merkte, dass er zitterte. Angst bohrte sich in seine Eingeweide wie ein gefräßiger Wurm. Eine schreckliche, beschwörende Angst, die ihm Fragen in den Kopf hämmerte. Was, wenn der Strauchdieb Hedwig und Juli längst getötet hatte? Wenn er nun auch ihn an Ort und Stelle niedermetzelte und mit dem Buch verschwand?

Er bezwang sich, hörte sich raunen: „Das Buch nur gegen mein Weib und meine Tochter!“

„Komm!“, befahl der Mann lediglich knapp.

Er ließ Philipp vorangehen Richtung Friesenberg. Rechter Hand kleine Häuser, schief, schneebedeckt und dunkel. Zwischen zweien ein freies Grundstück. Der Fremde bedeutete Philipp, die Gasse zu verlassen. Geröllbrocken, eine weiß bestäubte, fast mannshohe Hecke. Philipps Herz schlug schneller. Hatte der Hundsfott Hedwig und Juli hier verborgen? Ein Kopfrucken, er sollte Hecke und Steinhaufen umrunden. Bang war ihm, so bang, dass Hedwig hier läge, und dann jäh das Erkennen, dass sie nicht hier war, als er auf der anderen Seite von Gesträuch und Geröll anlangte. Eine Laterne blinzelte am Boden. Der Mann hatte sie gänzlich mit Schnee umhäuft, sodass ihr Licht nicht zu sehen war. Nicht für jemand, der die Gasse entlang kam und einen Blick herüberwarf. Hinter der Laterne lag etwas nah bei dem Steinhaufen. Ein Bündel? Ein Sack?

„Das Buch!“

„Wo sind mein Weib und meine Tochter?“ Philipp zwang seiner Stimme einen gebieterischen Ton auf. „Ich werde es Euch nicht geben, wenn Ihr mir nicht …“

Sein Gegenüber schlug lediglich den Umhang zurück und deutete auf sein Schwert. Mit der freien Hand forderte er wortlos das Buch. Philipp verstummte, zog es unter dem Umhang hervor und reichte es ihm.

„Du begreifst schnell, Eichhorn“, sagte der Fremde, während er das Buch entgegennahm. „Du machst besser keine Dummheiten, während ich einen Blick hineinwerfe.“ Er hockte sich neben der Laterne in den Schnee. Zog die Lederhandschuhe aus. Schlug das Buch auf und hielt es schräg an das Licht. Eine Urkunde fiel heraus, er hob sie auf, schüttelte sie, betrachtete sie. Legte sie zurück.

Philipp schmeckte kalte Schneeluft auf den Lippen. Wonach suchte der Verhasste? Und warum? Mit einer Seelenruhe, wie es schien, blätterte er in dem Kopialbuch, ging Seite für Seite sorgfältig im blassen Lichtschein durch.

„Setz dich“, forderte er mit einem Mal zischend und ohne aufzusehen.

„Oder was? Metzelt Ihr mich sonst nieder? Habt Ihr das auch mit meinem Weib getan? Wo ist sie? Was habt Ihr ihr angetan?“

„Du bist besser leise und setzt dich.“

Zögernd ließ Philipp sich im Schnee nieder. Sein Herz raste, während er zusah, wie der andere Seite für Seite mit dem Finger entlangfuhr. Schließlich nickte er unmerklich, klappte das Buch zu. Sah unter der Kapuze zu ihm her.

„Du musst nicht noch einmal zurück.“

Anschreien hätte er diesen Sauhund mögen, dass er dies mit Sicherheit auch nicht getan hätte! Aber er musste seine Erregung und seine Verzweiflung hinunterschlucken, zitternd und fast toll vor Wut, denn er wusste, er hätte es getan.

Er neigte den Kopf. Rieb sich die Augen. Hedwig. Juli.

„Ich werde das Buch mitnehmen“, hörte er den anderen raunen. „Aber du hast sicher Verständnis dafür, dass es wieder in die Kanzlei zurückmuss. Und zwar so, wie es herauskam: ohne Aufsehen zu erregen. Das wird dir nicht sonderlich schwerfallen. Dieser Tage ist es umtriebig in der Kanzlei.“

Philipp begriff einmal mehr, dass der jetzige Zeitpunkt absichtlich gewählt worden war. Die Übersiedlung des Hofstaats hielt die Amtleute auf Trab. Er hörte ein Geräusch und sah auf. Der Fremde zog das Bündel zu sich, das hinter ihm gelegen hatte, es war ein Ledersack. Er zurrte ihn an den Schnüren auf und nahm etwas heraus, das in Lappen gehüllt war. Es war ein kleines tönernes Gefäß mit einem Deckel, er stellte es neben sich in den Schnee.

Was hatte er vor? Philipp war auf der Hut. „Wo ist mein Weib?“, fragte er und ließ ihn nicht aus den Augen.

„Dazu kommen wir jetzt.“ Der Mann packte das Buch in den Sack. „Eselsweg. Oberhalb des ‚Blauen Huts’, die Scharte in der Stadtmauer.“ Unter der Kapuze drehte er Philipp den Kopf zu.

Zum Zeichen, dass er verstand, nickte Philipp unmerklich.

„Übermorgen, wenn dieser Scheißungar kommt, drängt sich sämtliches Volk in der Stadt. Tischzeit in der Kanzlei ist von zehn bis eins. Du kommst um zwölf dorthin …“

Philipp sprang auf. „Übermorgen?!“, stieß er hervor.

Ein schwarzer Schatten zischte auf ihn zu, der Faustschlag ins Gesicht ließ Philipp rückwärts taumeln. Er hob die Arme in Abwehr, ein Schlag in den Magen. Er japste nach Luft, krümmte sich, sackte zusammen. Fiel auf die Knie, schlang die Arme um die Leibesmitte. Hörte sich keuchen. Ein Schmerz wie tausend eiserne Nadeln, als sein Schopf gepackt wurde, der Kerl ihn an den Haaren mit sich schleifte, sodass er auf Knien hinter ihm herrutschen musste, mit den Armen rudernd in grotesken Verrenkungen. Mit einem Ruck ließ er ihn los, und Philipp schlug mit dem Gesicht in den Schnee.

Ein gebieterisches Zischen dicht über ihm. „Übermorgen Buchübergabe am Eselsweg. Du bringst es zurück in die Kanzlei. Danach Wiedersehen mit deinem Weib in der Jakober Vorstadt. Ich sag dir noch wo.“

Philipp keuchte. Schnee, kalt wie eine Maske aus Eis, schnitt ihm ins Gesicht. Er drückte sich auf den Unterarmen hoch, hob den Kopf an.

Wieder packte der andere ihn an den Haaren, zog den Kopf daran in die Höhe, dass er vor Schmerz aufstöhnte. Dicht an seinem Ohr die verhasste Stimme. „Keinen Knecht, keine Büttel. Du allein. Oder dein Weib treibt im Neckar.“

Philipps Gesicht brannte vor Kälte und von dem Faustschlag, er roch Leder, feuchtes Wolltuch, Schnee.

„Verstanden?“

Er wurde losgelassen, damit er Zeichen geben konnte. Er nickte schwach, rollte sich auf die Seite, stützte sich auf den Ellbogen. Hustete. Fühlte sich hilflos wie ein Wurm und hasste diesen Sauhund dafür. Den Hals durchstechen wollte er dem, seine Überlegenheit aus ihm herauswürgen mit eigenen Händen. Der schwarze Schatten hatte sich von ihm abgewandt und machte sich an dem Tongefäß zu schaffen. Philipp versuchte sich aufzusetzen. Er ächzte, alles tat ihm weh. Und dann war die dunkle Gestalt wieder heran, Philipp wollte die Arme hochreißen, als der Arm des anderen sich von hinten um seine Kehle schlang. Er hörte das gurgelnde Geräusch, das er machte, als der ihm die Luft abpresste, seine Hände krallten sich in den Unterarm des Mannes, wollten ihn fortziehen. Etwas Feuchtes wurde ihm auf den Mund gepresst, er hörte den anderen „Atme!“ zischen. Hart und erbarmungslos hielt er ihn, und Philipp rang verzweifelt nach Luft, sog den fremden Geruch ein, merkte, wie er erschlaffte und ihm die Sinne schwanden.

Sechs

Die Schenke war zum Bersten voll.

Die Herberge hieß „Zum Schwert“. Mit Mühe hatte er ein Zimmer im Obergeschoss erhandelt, das er mit drei anderen Reisenden teilte, zwei Mann je Bett. Er hatte erst dann daran gedacht, in den Pilgerquartieren vor der östlichen Stadtmauer eine preisgünstigere Unterkunft zu suchen, als die Stadttore längst geschlossen waren. Dumm. Er wäre zwar noch hinausgekommen, aber hinein, falls sein Bemühen vergeblich gewesen wäre, nur noch nach Zahlung eines gehörigen Batzens Sperrgeld, wie sie es hier nannten. Das hatte er nicht wollen. Also war er in die Stadt zurückgekehrt und hatte in dieser Herberge eine Bleibe gefunden. Seit vier Tagen hielt er sich in Heidelberg auf, doch konnte er es sich auf Dauer nicht leisten, ausschließlich in Wirtshäusern abzusteigen. Nicht, dass er kein Geld hatte. Aber der Winter begann eben erst. Ohne eine angemessene Unterkunft konnte es schnell teuer werden.

An zweien von vier Tagen hatte er in dieser geizigen Residenzstadt nicht das eingenommen, was er ausgab. Selbst in dem steinernen Bürgerhaus mit den stattlichen vier Stockwerken über dem Erdgeschoss, den vielen Fenstern, den zahllosen Bildwerken dazwischen, den Medaillons, Wappenzeichen und goldverzierten Inschriften bis hinauf in das oberste Giebelgeschoss, von denen er im Dämmerlicht lediglich hatte „amicitia“ ausmachen können – selbst in diesem offenbar beträchtlich wohlhabenden Haus war er weder eine Kräutermischung noch ein Sälbchen losgeworden. Er hatte danach in jenem Viertel, das sie Oberes Kaltes Tal nannten, noch an zwei, drei Häusern geklopft. Doch weil es längst dunkel war, hatte man ihn auch dort nur mürrisch davongejagt. Einer gar, ein Wichtigtuer mit Mützenbrille, ein Gelehrter wohl, hatte ihm ins Gesicht geschimpft, dass Hausieren und Feilhaben fremder ausländischer Krämer weder in Städten, Flecken noch Dörfern gestattet noch zugelassen, sondern bei Verlust ihrer Waren verboten sei. Er hatte ihm außerdem, die Faust nach ihm schüttelnd, hinterhergebrüllt, dass Landfahrer, Würzverfälscher und andere fremde und unbekannte Hausierer keineswegs geduldet, sondern außer dem Gebiet gewiesen werden sollen. Er hatte zugesehen, dass er Land gewann. Myn diawl! Die hier mit ihrer vermaledeiten Landesordnung! Der hatte sie ja fast auswendig dahergeschrien. Andererseits musste er zugeben, dass sie milder war als die Bestimmungen in seiner Heimat. Dort galt das englische Gesetz. Und nach dem sollten Landstreicher schwer gepeitscht werden und den Knorpel des rechten Ohrs mit glühendem Eisen durchbohrt bekommen. Hierzulande wurde er nur hinausgeworfen. Und immerhin wäre es ihm erlaubt, zu ordentlichen Wochen- und Jahrmärkten – gegen Erlegung gewöhnlichen Stand-Gelds – seine aufrichtigen, unverfälschten, guten Waren feilzuhaben und um gebührlichen Wert zu verkaufen. Unverfälscht? Wer wollte schon das Wort auf die Goldwaage legen. Geheimnisvolle Zusätze waren das Salz seiner Medizinsüppchen. Ein Quäntchen Magie würzte seine Wunderpillen. Und damit war er bislang gut durchgekommen. Landesordnung hin oder her – er war doch kein Marktschreier!

Ryss sah sich verhalten um, während er die kräftige Ochsenschwanzsuppe aus einer Holzschale löffelte. Um ihn her herrschten Ausgelassenheit und Sinnenfreude. Er saß mit fünf Männern, etwa in seinem Alter, an einem Tisch. Einer, jünger als er, mit freundlichen braunen Augen und kinnlangem, welligem braunem Haar saß ihm gegenüber und reichte ihm einen Kanten Roggenbrot.

Ryss nickte dankend und widmete sich seiner Suppe.

Besser nicht so viel reden, lieber nachdenken, was er nun tun sollte.

In Frankenthal, später in Speyer, hatte er erfahren, dass Heidelberg dieser Tage besonders umtriebig und bevölkert wäre. Der hiesige Fürst unternahm in Kürze eine große Reise. Adelige, Boten, Amtleute, Huren und Musikanten würden sich in der Stadt tummeln. Eine solche Auswahl an zahlungskräftiger, vor allem aber an leichtgläubiger Kundschaft würde er nicht alle Tage auf einem Haufen haben. Also war er hergekommen. Aber das große Stück vom Kuchen hatte er bisher nicht abbekommen. Die Schaulustigen waren längst nicht so zahlreich, wie er gehofft hatte. Oder sie verkrochen sich in warme Löcher. Und die Bürger hielten ihm ihre vermaledeite Landesordnung vor und kauften nichts. Es war wohl doch besser, er machte sich in den Odenwald auf. In einer der zahlreichen Burgen würde er sicher die ein oder andere leichtgläubige Hausherrin mit locker sitzendem Geldbeutel finden. Und in Dörfern war man, wie überall, wo man stadtfern lebte, sicher froh um Abwechslung.

Außerdem – zufrieden tunkte er mit dem Brot die restliche Suppe aus dem Teller – außerdem waren die Mägde auf dem Land … nun, auf ihre eigene Art und Weise gastfreundlicher. In einem Stadthaus boten sich wenig Möglichkeiten, einem wie ihm eine Bleibe für einige Nächte zu gewähren. Auf dem Land hingegen gab es mindestens ein Plätzchen im Stall. Dort fand man ihn oftmals viel zu unterhaltsam, um ihm nicht später, wenn man einen Krug Bier herausbrachte samt Brot und Käse, die mit dunkler, fremdländisch klingender Stimme geraunten Schmeicheleien zu glauben und die Schenkel zu öffnen.

Besser also, er zog weiter. In irgendein Ritternest, das nicht zur Pfalz gehörte, und das, wie er gehört hatte, demnach nicht deren Gesetzen unterlag. Und zwar morgen in aller Frühe.

Sieben

„Warum diese Umstände? Und dazu noch ein Balg!“

Bisher hatte sie nur ein Auf und Ab von Lauten wahrgenommen, unverständlich, gedämpft. Doch auf einmal hörte Hedwig das Gesagte deutlich. Ein Mann sprach. Es hörte sich an, als hätte er Öl in der Kehle.

Wabbelige Grütze in ihrem Kopf, der schmerzte. Unklar die Gedanken. Doch jetzt diese Wörter, die sie verstand. Sie musste sich nur mühen, ihren Sinn zu begreifen. Wo war sie? Alles dunkel. Sie merkte, dass sie fror. Kälte von unten. Lag sie auf kaltem Boden? Aber sie hörte doch Feuer knistern. Irgendwo links von ihr. Sie drehte den Kopf ein wenig, die kleine Halskrause schabte am Kinn, die wollene Haube verrutschte. Sie versuchte die Augen zu öffnen. Die Lider schienen schwer wie Blei.

„Das Balg ist lästig. Wo wir sie …“

„Wir brauchen sie!“

Ein zweiter Mann, blechern schepperte seine Antwort.

Sie rührte sich. Spürte ihre harten Brüste, sie taten weh. Ihr Mantel war irgendwie hinderlich, sie wollte ihn zurechtziehen, merkte, dass sie die Arme nicht bewegen konnte – und begriff jäh, dass Fesseln ihr in die Handgelenke schnitten, dass der Druck auf Augen und Schläfen von einer Binde herrührte. Da erinnerte sie sich: die Untere Gasse, der Schatten, ein Mann – ein Magenstich: Juli!

„Von einem Balg war nicht die Rede. Ist hinderlich. Erhöht die Gefahr.“

„Halt’s Maul!“

Sie versuchte sich aufzurichten, stützte sich mit den gefesselten Händen ab.

„Man hätte es gleich in den Neckar werfen sollen!“

„Dass dich der Teufel schände! Halt endlich’s Maul!“

Hedwig keuchte, sie hörte eine Bewegung, ein leises Rasseln, dort, wo das Feuer knisterte und knackte.

„Sie kommt zu sich.“

Ein Luftzug, Geruch nach Schweiß und Leder. Jemand kam an sie heran. Knie knackten, als er neben ihr in die Hocke ging. Sie hörte Atmen. Sie öffnete den Mund. Der war wie ausgedörrt, sie musste sich räuspern.

„Bist also bei dir?“

Eine Stimme, dünn wie flach gehämmertes Blech.

Herzklopfen. Wo war ihre Tochter? Sie wollte sprechen. Ihr Mund war pelzig und trocken.

„Mein Kind!“, hauchte sie.

„Dein Balg ist hier.“

Sie streckte die zusammengebundenen Hände aus, tastete blind umher. Ein winziger Ton, ein Säuglingskeckern. Sie ertastete das Bündel, vielleicht hatte er es ihr auch herangeschoben. Sie fühlte das Schaffell, in das Juli gewickelt war. Zog ihre Tochter zu sich heran, befühlte das Gesichtchen. Warm, lebendig. Sie begann zu zittern. Tränen stiegen auf. Wer waren die beiden Männer?

„Wasser …“, bat sie.

„Wirf den Trinkschlauch rüber!“

Ein wabbeliges Geräusch.

Hart packte er sie am geflochtenen Haarkringel und riss ihr den Kopf nach hinten. Das Horn am Trinkschlauch war kalt und roch schlecht. Wasser floss ihr in die Kehle, sie verschluckte und benässte sich.

„Teufel auch!“, fluchte die Blechstimme neben ihr.

„Bind ihr die Arme frei. Soll sie selber saufen.“

„Geh mir nicht auf den Sack!“

„Dann spiele weiter milde Schwester.“

„Maul.“

Grob riss er ihre Arme hoch und zerrte an ihren Fesseln. Er musste wissen, dass er ihr wehtat. Sie hörte ihn durch den Mund atmen, ächzen fast. Scharf sog sie Luft durch die Zähne, als er den Strick mit einem letzten festen Ruck löste. Dem Lachen, das er dabei ausstieß, hörte sie die Lust am Quälen an. Der Schlauch wurde ihr in die Hände gedrückt. Sie ließ ihn fast fallen, so sehr schmerzten die Handgelenke. Wieder knackten die Knie, als der Mann sich erhob. Der, der weiter weg war, lachte. Hässlich, boshaft, pappig. Dann schien er näherzukommen. Sie hörte Schritte, gedämpft, ein Lehmboden also. Eine Hand umklammerte den Trinkschlauch, die andere fasste nach Juli, sie wagte nicht zu trinken, wollte aus diesem stinkenden Schlauch ohnehin nichts mehr trinken. Die Schritte erstarben, nah bei ihr ein Raunen, seimig, ölig: „Mutter und Kind. Du hast mich doch nicht absichtlich hinters Licht geführt? Lediglich von einem Weib war die Rede.“

Hedwig krallte die Finger in Julis Schaffell und kämpfte gegen die Angst.

Kleidung raschelte, etwas rasselte, klirrte leise. Ein Schwertgehänge?

„Heiheihei, mein Freund. Finger weg!“, grollte es gallertig.

„Wenn du nicht augenblicklich dein Maul hältst, stopf ich es dir!“, schepperte die Blechstimme.

„Und wenn du mich noch einmal anfasst, hack ich dir die Hand ab!“

„Dass dich der Teufel schände. Ich geh pissen!“

„Schon wieder?“, kam es hämisch.

Eine Tür wurde aufgerissen, sie quietschte. Eiskalte Luft blies herein, Schneegeruch. Hedwig zitterte. Ihre Brüste waren prall, sie müsste Juli stillen, ein Wunder, dass ihr Kind nicht nach der Brust verlangte. Oh lieber Herr im Himmel, hatten sie sie ebenfalls betäubt?

„Denk drüber nach, während du dein Würstchen an die Luft hängst. Ein Balg macht es schwieriger. Erhöht die Kosten.“

Die Tür wurde zugeschlagen.

Hedwig wagte kaum zu atmen. Sie spürte, dass der Zurückgebliebene auf sie herabschaute. Sie spürte seine verschlagene Art und schauderte. Warum hatte man sie verschleppt? Was hatten sie mit ihr vor? Ihr Herz hämmerte wilde Schläge. Entsetzen und Angst fuhren ihr in den Magen.

„Jung bist du.“

Sie hörte, wie er herantrat. „Gesund wohl, was? Schade drum.“

Ein Luftzug, als er sich zu ihr herunterbeugte. Der roch auch so: fettig, ranzig. Er packte sie am Kinn. „Süße Schnute!“

Seine Finger drückten ihren Mund spitz zusammen, so sehr, dass es wehtat, sie stieß einen ängstlichen Laut hervor. Heiß schossen ihr Tränen in die Augen.

„Furcht, was?“ Er sog scharf die Luft ein, raunte ihr ins Ohr, leise und schmierig: „Kann sie riechen, die Furcht. Riecht bei jedem anders und doch auf eine Weise immer gleich. Wie schwere Luft vorm Gewitter.“

Mit einem Laut des Entsetzens zuckte Hedwig zurück. Er hatte ihr seine Zungenspitze ins Ohr gesteckt! Sie wischte mit dem Ärmel über die eklige Nässe.

Ein widerliches Lachen. „Jammerschade, wirklich.“

Hedwigs Herz raste. Sie hörte, wie die Tür aufging.

Der andere kam zurück.

„Hast du deine Duftmarke an die Tanne gesetzt?“

„Dass dich der Teufel schände, weg von ihr.“

Der neben ihr erhob sich. „Weshalb? Ein bisschen Spaß mit ihr …“

„Zur Hölle, ich sagte, wir brauchen sie.“

Furcht machte ihre Kehle eng. Juli begann zu weinen.

„Da hast du’s. Das Balg plärrt.“

„Weib, bring’s zum Schweigen!“, befahl der andere.

Unter Tränen öffnete Hedwig den Mantel, fingerte an der Schnürung ihres Wamses, das sie über dem Hemd aus warmem Wollgewebe trug, öffnete Hemd und Unterkleid. Ihre Finger waren kalt, Gänsehaut überzog ihre Brust. Sie drehte sich zur Seite, damit sie den Männern den Rücken zukehrte. Sie befühlte das Bündel, nahm Juli hoch, murmelte, um sie zu beruhigen. Nicht mehr als erstickte Laute. Sie gab ihrer Tochter die Brust. Stille im Raum. Vielleicht sahen sie zu. Vielleicht sahen sie weg. Ein nie gekanntes Gefühl der Hilflosigkeit bemächtigte sich ihrer, und während sie Juli stillte, weinte sie. Man hatte sie verschleppt. Warum nur? Lösegeld? Philipp war kein reicher Mann. Philipp! Oh, was mochte er denken, wo sie war, was ihr widerfahren war? Oder hatten sie auch ihn gefangen? Plötzlich fielen ihr Schauergeschichten von Mördern und Unholden ein. War es das, was ihr bevorstand? Sollte sie verschleppt werden? Wollte man sie verkaufen? Immer wieder hörte man, dass Menschen gewaltsam fortgeschafft wurden, um andernorts furchtbare Arbeiten zu verrichten, an denen sie nicht selten zugrunde gingen. Ihre Gedanken überschlugen sich, sie merkte, dass ihr der Atem stockte, und sie holte tief Luft.

Juli begann, den Mund hin und her zu bewegen, ein Zeichen, dass sie genug von der Brust hatte. Hedwig nahm sie ab und legte sie an die andere. Es dauerte nicht lange, da hörte Juli auf zu schmatzen und zu saugen und schlief ein. Hedwig legte sie auf ihren Schoß und schloss ihre Kleidung. Was nun? Sollte sie etwas sagen oder besser den Mund halten? Die Männer schienen sich von ihr entfernt zu haben, still war es, nur das Feuer knackte und knisterte. Schließlich hielt sie es nicht aus, sie verharrte in ihrer abgewandten Haltung und wagte zu fragen: „Warum haltet Ihr mich gefangen? Mein Mann und ich sind nicht reich. Wir können Euch nichts bezahlen.“

„Du bist auf andere Weise nützlich.“

„Wie kann ich Euch nützlich sein?“

„Frag nicht so viel!“

Dieser ölige Widerling, schon beim Klang seiner klebrigen Stimme spürte sie seine schleimige Zunge im Ohr. Sie fühlte sich hilflos ausgeliefert, und die Tränen kamen erneut. „Bitte“, flehte sie. „Mir ist kalt, ich habe eine kleine Tochter, ich …“ Sie bedeckte das Gesicht mit den Händen und schluchzte. Sie war ein Weib, und man hatte sie in einer bestimmten Absicht hierher gebracht. Es war bedeutungslos, was sie sagte, worum sie flehte. Aber sie konnte ihre Angst nicht bezähmen, und so fragte sie mit tränenschwerer Stimme: „Mein Mann, weiß er, dass ich hier bin? Wartet Ihr auf ihn?“

„Mädchen, halt’s Maul.“

Was hatten sie mit Philipp getan?

„Aber was nur wollt Ihr von uns?“, rief sie so verzweifelt, dass Juli aufwachte und zu weinen begann.

Sie tastete nach dem Kind, hob es an den Busen, wiegte es.

„Himmelarsch, mach, dass es Ruhe gibt, Weib!“

Sie küsste das warme Gesichtchen ihrer Tochter, benetzte es mit ihren Tränen. Sie müsste sie frisch wickeln. Juli stank. Das hatte sie zu Hause tun wollen. Doch sie war nicht zu Hause. Sie wusste nicht, wo sie war. Sie wusste nicht, warum sie hier war. Sie wusste nicht, was ihr bevorstand. Die Angst saß in ihren Eingeweiden wie ein Ungeheuer. Sie hörte das Knacken des Feuers, das Grummeln der Männer. Was hatte der eine zuvor gesagt? Sie sei nützlich? Wie konnte sie nützlich sein? Sie grübelte, und als sie vor lauter Angst nicht mehr weiterkam, wagte sie schließlich zu fragen: „Welchen Nutzen versprecht Ihr Euch durch mich?“

Sie hörte Schritte, war dennoch nicht auf den Schlag gefasst.

Unter der Wucht wurde ihr Kopf in den Nacken geschleudert, die heftige Bewegung verursachte ein lautes Knacken. Heiß schossen ihr die Tränen aus den Augen.

Juli begann zu schreien.

„Eindeutig redest du zu viel, Holde! Halt’s Maul.“

Hedwig rutschte vor dem Mann mit der Blechstimme zurück, Strohhalme stachen ihr in die Handballen, dann spürte sie die Wand im Rücken. Sie lehnte sich dagegen und presste ihr Kind an die Brust.

Geräusche, Bewegung und ein eiskalter Luftzug ließen sie aus dem Schlummer hochfahren. Schneewaldgeruch.

„Er kommt.“

Juli begann zu weinen. Sie krähte, sie plärrte, sie hatte Hunger, und sie war schon viel zu lange eingewickelt. Hedwig tastete nach ihr, hob sie an die Brust, wiegte sie. „Scht, scht.“

Sie begann zu zittern. Vor Kälte. Und vor Hunger. Durstig war sie ebenfalls.

Eilige Schritte, die näherkamen. „Mach, dass es still ist!“, befahl die Blechstimme.

„Ich sag ja, das Balg erschwert die Sache.“

„Dass dich der Teufel schände, bring es zum Schweigen!“

Aber Juli schwieg nicht.

„Herr, ich …“

Der Schlag war so hart, dass sie sich in die Wangenfalte biss. Juli weinte nun noch lauter, obwohl Hedwig sie fest an den Busen gedrückt hielt. Von dort wurde sie ihr unsanft entrissen. „Nein, lasst mein Kind!“, schrie Hedwig. Die Furcht ließ ihren Herzschlag aussetzen. Juli brüllte. Und in ihr Gebrüll hinein schrie sie selbst: „Gebt sie mir. Lasst mich sie auswickeln, dann wird sie Ruhe geben.“ Oh Gott, was tat er mit ihr? Ihr Kind greinte umso lauter, je mehr es dem Grobian ausgeliefert war und Hedwigs Angst spürte.

Hedwig taumelte auf die Beine. Eine verzweifelte Kraft trieb sie an. „Bitte!“, flehte sie und streckte die Arme suchend aus.

„Was geht hier vor sich?!“

Eine neue Stimme. Hart und befehlsgewohnt. Ein weiterer Mann. Die Tür schlug zu.

Juli gab erstickte Laute von sich.

„Was treibst du da?!“

Fast besinnungslos vor Angst torkelte Hedwig umher, wimmerte, wehklagte.

Ein weiterer Schlag ließ sie zusammenbrechen.

Als sie wieder zu sich kam, spürte sie zunächst nur die Härte des Untergrundes und die Kälte. Dann das Loch im Bauch, das von Hunger und Angst gleichermaßen kam.

Sie hörte das Knacken von brennenden Holzscheiten. Ein Husten. Rascheln von Papier- oder Pergamentseiten. Und ein anderes, ein wohlvertrautes Geräusch dicht neben sich, ein Säuglingsschmatzen. Sie weinte vor Erleichterung, als sie das warme Gesichtchen ihrer Tochter ertastete, Juli aufnahm und an ihr Herz drückte.

Die Tür ging, kalte Luft wehte heran.

„Gehst verdammt oft austreten, Vetter.“

Das war die neue Stimme, die des dritten Mannes.

„Wo viel reinläuft, muss auch viel raus“, gab der andere zurück und lachte, so, als glaube er seine Worte selbst nicht.

„Sie ist bei Sinnen. Gib ihr Brot.“

Das klang fast fürsorglich.

„Wozu sie füttern?“, hörte sie die ekelhafte, ölige Stimme.

Scheinbar hatte der neu Hinzugekommene das Sagen, denn er erwiderte nichts, und trotzdem ergänzte der andere gleich darauf mürrisch: „Mein ja bloß.“

Etwas wurde ihr in den Schoß geworfen. Sie nahm es und biss hinein. Juli begann zu weinen.

„Da hört ihr es. Wieder plärrt das Balg. Lass nur jemand in der Nähe sein, der zu neugierig ist und meint, nach dem Rechten schauen zu müssen.“

„Quatsch nicht. Mach weiter.“

Das Brot war trocken, Hedwig schluckte hart an dem zerkauten Brei, sie nahm ihren Mut zusammen und sagte erstickt: „Herr, lasst mich sie auswickeln. Nehmt mir die Binde ab. Ich schaue auch gewiss nicht zu euch.“ Ihr Herz raste. Sie hatte es immerhin versucht.

Sie erhielt keine Antwort. Nichts geschah.

Juli weinte und stank, und Hedwig wünschte, sie hätte Honig und Mohn zur Hand, um sie zum Schlafen zu bringen, wie sie dies von Tante Barbara gelernt hatte, die ihre Tochter Sophia ebenfalls auf diese Art besänftigte, wenn sie nicht aufhörte zu plärren. Ihre Base war eineinhalb Jahre alt, und beim Gedanken an sie und ihre Familie stiegen die Tränen erneut in ihr hoch. Dann war einer dicht bei ihr, drückte ihren Kopf unsanft nach unten und band ihr den Lappen von den Augen.

Hedwig blinzelte. Der Raum schien in Licht getaucht – im Vergleich zu der Schwärze, welche sie die ganze Zeit umgeben hatte. Sie wagte nicht aufzusehen.

„Sieh zu, dass sie Ruhe gibt!“, befahl jener, der neu hinzugekommen war, aus dem gegenüberliegenden Winkel.

Der ihr die Augenbinde abgenommen hatte, stand noch schräg hinter ihr. Sie zwang sich dazu, ihn nicht wahrzunehmen, bemerkte nur helle lederne Hosen und Stulpenstiefel. Dahinter flackerte Feuer in einer Feuerstelle. Zusätzlich musste es Laternen geben, denn die Ecke, in der die beiden anderen Männer saßen, lag in gelbem Lichtschein. Hedwig schaute auf Juli, die sich in ihrem Schaffell und den Windeln, in die sie geschnürt war, nicht rühren konnte. Deshalb weinte sie so ausdauernd. Sie wollte die Ärmchen bewegen, mit den Beinen strampeln. Also begann sie, auf Juli einzuflüstern, sie sah nicht auf dabei, wusste den Mann noch immer hinter sich, gewahrte die dunkle Hüttenwand rechts von sich, die aus Lehm zu sein schien, hörte dahinter den Wind durch die Nacht streichen. Jetzt sah sie auch, dass sie auf einer verschlissenen Wolldecke kauerte, die auf dünn ausgestreutem altem Stroh lag.

Sie versuchte, das Augenmerk einzig auf das Auswickeln ihrer Tochter zu richten, nahm das Schaffell weg, das wollene Tuch. Dabei flüsterte sie mit Juli, die nur noch in Schüben keckerte, da sie die Augen ihrer Mutter sah, die die ihren festhielten, da sie die Stimme ihrer Mutter vernahm, die beruhigend auf sie einsprach, da sie merkte, dass das geschah, wonach sie so lauthals verlangt hatte. Hedwig löste die Windelschnur, mit der Juli von den Schultern ab bis zu den Beinchen umwickelt war. Dann nahm sie die Außenwindel fort, Juli krähte geplagt, strampelte. Der Gestank wurde beißender. Ohne aufzuschauen sagte Hedwig: „Bitte Wasser … und vielleicht … Ich hatte ein Bündel …“

„Bah, das stinkt ja!“, kam es von der Feuerstelle.

Der hinter ihr rührte sich, kurz darauf warf er den Trinkschlauch neben sie. „Das muss reichen“, befand er. „Hier, dein Zeug.“ Madame Beliers einst wohlverschnürtes Bündel landete neben dem ledernen Trinkbeutel. Sie hatten es durchsucht, Trageschnur und Leinenumhüllung waren lose, das dunkelgraue Wollgewebe zerwühlt.

Hedwig entfernte nun auch die Ärmelwindel, Juli lag nackt vor ihr. Der Boden war kalt, das Wasser war kalt. Sie konnte nur hoffen, dass es ihrer Tochter keinen Schaden zufügte. Ohne zu fragen, griff sie den Lappen, den man ihr von den Augen genommen hatte, tränkte ihn mit Wasser und säuberte Juli. Diese begann bei der Berührung mit dem kalten Nass erneut zu schreien. Verzweifelt flüsterte Hedwig auf sie ein, streckte ihr zwei Finger der anderen Hand hin, damit sie nach ihnen langen konnte – und erstarrte. Ihr Ehering war fort! Heiß schoss ihr das Blut in die Wangen. Ihr Ehepfand! Philipps Geschenk für das Eheversprechen. Hatte sie ihn verloren? Oder hatte man ihn ihr weggenommen? Juli nahm die Finger nicht, sie weinte, wenn auch nicht mehr so schrecklich laut, und drehte den Kopf hin und her. Wie aus weiter Ferne drang die ölige Stimme zu ihr: „Ich mach die Löschung. Von einem Balg war nicht die Rede. Die Bezahlung wird höher ausfallen müssen.“

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