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Читать книгу: «Das Buch des Kurfürsten», страница 7

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Rotnase ließ ihn los.

„Genug jetzt!“, befahl der andere. Er hatte nahe der Feuerstelle herumgekramt, jetzt legte er ein großes Buch auf einen Baumstumpf und winkte ihn heran. Er schlug das Buch auf, blätterte zu einer Seite weiter und zeigte darauf. Ryss konnte die Schrift im schwachen Feuerschein kaum erkennen. Auch um welche Art Buch es sich handelte, vermochte er nicht zu sagen. Von der Größe her allerdings schien es nichts Alltägliches zu beinhalten.

„Ein Radiermesser stellen wir. Du musst mit äußerster Umsicht vorgehen. Hernach wird eine Behandlung erforderlich sein, die das Papier glättet, es in eine Art, sagen wir, jungfräulichen Zustand versetzt.“ Der Schmallippige grinste tatsächlich anrüchig. „Wir haben dafür vorgesorgt.“ Er wies auf Ryss’ am Boden verstreute Habseligkeiten. „Aber sicher findet sich zudem in deinem Zauberkasten Geeignetes.“

„Ich bin Krämer, kein Alchemist!“, widersprach Ryss und bereute es sofort, da Rotnase drohend an seine Seite trat.

„Schon gut!“, wehrte er ab. „Gestattet eine Frage mir?“

Die beiden verständigten sich einmal mehr mit Blicken, und Ryss, bemüht, dass es nicht wieder wie eben mit ihm durchging, sagte: „Ich nehme an, ich kann ziehen meiner Wege, wenn meine Aufgabe ist erfüllt?“

„Du wirst so lange bei uns bleiben, wie wir dich brauchen. Danach kannst du gehen“, bestimmte der Braunhaarige.

Ryss verneigte sich. Sie werden den Teufel tun und mich ziehen lassen, dachte er.

Da begann der Säugling zu keckern und Rotnase fuhr zornig herum. „Wenn das wieder losgeht, werf ich es ins Feuer!“

Sie sahen alle drei zu dem Mädchen hin, das aufschluchzte und eilig das Kind zu beruhigen suchte. Hastig schnürte sie ihre Kleidung auf und begann, es zu stillen. Ryss kaute seine Unterlippe. Damo!, wo war er da nur hineingeraten?

Elf

Der erste Glockenton von Heiliggeist hallte über den Marktplatz, weitere folgten, es schlug Mittag. Philipp lehnte an der Rathausmauer. Er hatte das rechte Bein angewinkelt und stützte den Fuß am Mauerwerk ab. Über seinem Kopf stoben laut flatternd die Tauben vom Balkon auf, der über die gesamte Stirnseite des Rathauses verlief. Benommen starrte er auf das Gewirr aus Schragentischen, Menschen, Hunden und Hühnern vor sich. Er gewahrte den langen braunen Mantel einer Bürgersfrau am Stand eines Goldschmieds, die Puffärmel, den hohen Kragen, der in die Halskrause mündete, die Kinn und Haaransatz im Nacken bedeckte. Er sah die rote Feder auf ihrem kleinen Barett bei jeder Bewegung ihres Kopfes wedeln. Wie konnte sie nur so sorglos um eine Kette feilschen, wo seine Welt doch aus den Angeln gehoben war? Wie konnte nur alles den gewohnten Gang gehen, wie konnte der Metzger so gleichgültig wie eh und je Schweinehälften in Stücke hacken, wie der Kammmacher so selbstverständlich am Horn herumfeilen? Er hatte ein solches Mühlrad im Kopf! Zu seiner Angst und Sorge um Hedwig und Juli kam die Wut darüber, was vorhin in der Kanzlei vorgefallen war. Er legte den Arm vor den schmerzenden Magen, fühlte sich noch ohnmächtiger. Er hatte sich gezwungen, seine Aufgaben mit dem gewohnten Fleiß zu verrichten, doch als wäre die ständige Besorgnis nicht genug, dass man das Fehlen des Kopialbuches entdecken könnte oder man ihn bei der morgigen Rückgabe des Buches ertappen würde, hatte ihn auch noch Nickel übel zugerichtet. Wieder sah er vor sich, wie dieser Teufelsbraten mit dem Besen auf ihn zukam, ihm den Stiel so hart in die Magengrube stieß, dass er einknickte.

„Scheißhaufen!“, zischte Nickel. „Du widersetzt dich nicht noch einmal meiner Anordnung!“ Rasch und zackig schlug Nickel ihm die Faust ins Gesicht. Philipp wankte, er war darauf nicht gefasst gewesen. Und noch ehe er sich wehren konnte, kam der zweite Schlag, der dritte. Philipp ging in die Knie, rang nach Luft. Nickel zog ihn hoch, stieß ihm den Besen vor die Brust. Streitsucht quoll aus jeder Geste des oberen Kanzleiknechts. Er brachte sein Gesicht nah an Philipps. „Ich sag ja, ich hau dir in die Fresse! Raus jetzt! Fegen!“

Das Herz schlug ihm vor Wut bis zum Hals, und er ballte die Hand zur Faust, als er daran dachte, wie er hinausgetorkelt war. Er hatte die Zähne zusammengebissen, durch den Schmerz geatmet und gefegt. Scheißnickel. Eine Stunde später hatte er den ihm zugeordneten Amtleuten ein kleines Mahl von der Garküche am neuen Markt gebracht. Jetzt hatte er selber Mittag, stand hier am Rathaus, ohne zu wissen weshalb, und sog die kalte Luft ein. Nachdenken. Die Schmerzen nicht beachten. Gab es etwas, das er tun konnte? Wieder und wieder überlegte er. Sich jemandem anvertrauen, vielleicht doch dem Vizekanzler? Es kam nicht infrage. Er würde es nicht über sich bringen, die unverzeihliche Tat zu offenbaren, die er begangen hatte. Um seine Familie zu retten, musste er schweigen – und bis morgen ausharren. Das brachte ihn schier um den Verstand. Dazu kamen die Schmerzen. Brust und Kehle taten weh, desgleichen sein Magen. Sein Gesicht war angeschwollen. Er sollte sich ausruhen. Aber daran war nicht zu denken, er würde ohnehin keine Ruhe finden.

Dann, ohne dass er wusste, woher der Anstoß dazu kam, setzten sich seine Füße in Bewegung, er wandte sich nach rechts, ließ die Verkaufstische des Marktplatzes links liegen und hielt auf die Untere Straße zu, die nördlich an Heiliggeist vorbei Richtung Fischmarkt führte. Spatzen stritten sich bei den Bäckerbuden an der Kirche im Schneematsch um heruntergefallene Krümel. Vorsichtig ging er auf dem unebenen Pflaster weiter. Karren, Vieh und Menschen hatten einen schmutzigen Pfad in das Weiß gefurcht. Als er den Fischmarkt am westlichen Ende der Kirche überquerte, vermied er den Blick nach links, wo die Haspelgasse nach wenigen Hundert Schritten in die Hauptstraße mündete und geradewegs auf das Beliersche Haus wies. Als ob er nicht ohnehin unablässig an Hedwig denken würde. Und daran, dass der Finsterling ihren Namen kannte und ihren Ring besaß. Wut raste durch seine Eingeweide wie ein Feuerball, vermischte sich mit den Körperqualen, und Philipp musste achtgeben, dass er nicht strauchelte und in den Matsch fiel. Ablenkung!, sagte er sich, während er auf den Brunnen am Heumarkt zuhielt. Der Anblick von Pferden würde ihn ablenken. Philipp passierte den Brunnen und folgte dem ansteigenden Schlenker der Gasse nach links, wo sie vor dem Mitteltor mit der Hauptstraße zusammenlief. An dem quadratischen Torturm drängten sich noch mehr Leute, Studenten vornehmlich, denn links vom Tor in der Grabengasse lag die Universität, das erst vor vier Jahren vollendete Collegium Casimirianum, und gleich daneben das Sapienzkolleg. Hier hatte man Sand ausgestreut, weil sich die Hauptstraße nach Westen hin leicht absenkte. Pferdeäpfel und Schweinekot mischten sich mit dem Matsch zu einer braunen Sudelei. Der Torwächter indes sorgte für ein fließendes Durchkommen in beide Richtungen. Philipp überquerte die Brücke und erreichte die westliche Vorstadt auf der anderen Seite des Grabens. Der Stadtgraben entlang der alten westlichen Stadtmauer war seit Langem zugeschüttet, der Teil des Grabens rechts vom Mitteltor jedoch, rundum von Mauern begrenzt, diente als Turnier- und Schießplatz. Man konnte ihn von der Straße aus nicht einsehen, ein mehrstöckiges Gebäude verhinderte die Sicht hinunter. Wehmütig dachte er daran, dass er zusammen mit Hedwig etliche Male auf dessen Aussichtsplattform gesessen und Wettspielen zugesehen hatte, die der junge Kurfürst auf dem Platz zu veranstalten liebte. Er passierte das Gebäude und die sich daran anschließende Backsteinmauer und bog schließlich rechts in die Untere Sandgasse ab. Kalter Wind fauchte ihm vom Neckar her ins Gesicht. An den Seiten der Eingänge der spitzgiebeligen Fachwerkhäuser türmten sich kleine Schneehaufen. Wieder wich er Leuten aus, die die Gasse heraufkamen und wie er in der Mitte gehen mussten. Dann stand er am Eingang zum Marstall. Der vorige Kurfürst Johann Casimir hatte das alte Zeughaus um den Marstall ergänzen lassen. Er war erst vor zwei Jahren fertiggestellt worden. Der Wächter ließ ihn passieren. Als er in den Innenhof trat, stieß er mit einem überraschten Pfiff die Luft aus. Welch ein Gewimmel, Gewieher, Gebell! Edle in gestreiften Kniehosen und pelzverbrämten langen Mänteln, Knechte in Wollkitteln, die dampfende Holzeimer schleppten. Helle Zelte in ordentlichen Reihen nahmen gut ein Drittel des geräumigen Hofgevierts ein. Man hatte schmalste Gassen zwischen ihnen gelassen, Stroh ausgestreut. Fässer und Holzkisten standen zwischen Schneehaufen, hier und da Holzgestelle, an denen Schwerter in Halterungen staken. Auf einem dicken Pfosten thronte ein Falke, vor einem Zelt färbte verschütteter Wein Stroh und Matsch rot. Bunte Wimpel wehten im Winterwind, Rauch kräuselte sich aus kleinen Feuern in Eisenpfannen gen Himmel, der Geruch mischte sich mit dem nach Pferden und Pferdemist, nach Leder und gebratenem Fleisch. Philipp wich zwei schwarzen Doggen aus, die sich im Spiel umkreisten, dass der Matsch aufspritzte, und hielt auf die Mitte des Innenhofes zu. An dessen östlichem Ende erkannte er zwischen Menschen und Zelten hinten bei der dicken Befestigungsmauer, die auf der anderen Seite den Turnierplatz am Graben begrenzte, Gäule in eigens dafür gezimmerten Stellplätzen. Er wusste, dass im kurfürstlichen Marstall gut einhundert Pferde Platz fanden. Dreihundert seien schon da, hatte Kilian gesagt. Und es sollten noch mehr kommen. Schon jetzt war das eine beachtliche Ansammlung. Philipp blieb inmitten des Hofes stehen. Um ihn her ein Gerufe und Gesumm aus unzähligen Kehlen. Er sah hinüber zu dem aus Buckelquadern erbauten Zeughaus. Es lag links von ihm, zum Neckar hin, und von dessen beiden Wehrtürmen am Fluss konnte er von seinem Standort aus lediglich die obersten Spitzen der Turmhelme sehen. Strebepfeiler stützten das Gebäude, in dem Versorgungsgüter und Ausrüstungen lagerten, mittig ragte ein Treppenhaus in den Hof, zwei Zeugwärter kamen herunter und riefen einem Knecht, der Schnee von den Stufen fegte, eine Anweisung zu. Rechts von ihm erhob sich der zweigeschossige neue Bau des Marstalls. Wahrlich, ein bewundernswertes Gebäude. Dreistöckige Spitzengiebel, zwei schlanke Treppentürme mit zwiebelartigen Hauben, kunstvoll gearbeitete Säulen an der – sicherlich fünfzig Ruten breiten – Vorderseite, eine doppelläufige, steinerne Freitreppe in deren Mitte, unter der sich der Eingang zu den Stallungen befand. Eine Weile stand Philipp nur da und staunte, roch Stein, Rauch und Leder, hörte Gelächter und von irgendwoher gar das Quäken einer Sackpfeife. Er vergaß, was ihm Sorgen bereitete. Doch von einem Augenblick zum nächsten fühlte er sich inmitten all diesen Gewühls allein und elend. Ihm wurde mit einem Mal beklemmend zumut, und er spürte sein Herz heftig gegen die Rippen schlagen. Eine so jähe Angst griff nach ihm, dass alles vor seinen Augen zu verschwimmen drohte. Das Blut pulste ihm in den Ohren, seine Hände waren eiskalt, er wollte gleichzeitig weglaufen und zu Boden sinken. Niemals zuvor hatte er ein solches Gefühl erlebt, etwas kehrte ihn von unten nach oben, er schnaufte tief durch, hatte plötzlich die Stimme des Scheißkerls im Ohr, die „Atme!“ zischte. Er wankte und musste sich irgendwo anlehnen! Er sah ein Fass, hielt darauf zu, doch dünkten ihn seine Beine schwer wie Blei. Das Fass war ein aufgerissenes Maul, schwarz wie die dunkelste Nacht. Gleich würde er stürzen, Herr im Himmel, was war ihm nur? Zwei Schritte noch, dann erreichte er das Fass und lehnte sich dagegen, neigte den Kopf, um niemanden ansehen zu müssen, legte den Arm um die Leibesmitte, suchte ruhig zu atmen, um das Herzrasen zu beruhigen. Dennoch fühlte er sich, als müsse er schreiend durch die Reihen rennen, alsdann erschöpft im Matsch zusammenbrechen.

Es ist gut, Philipp Eichhorn, es ist gut, sprach er sich zu und gewahrte, wie sein Atem sich langsam beruhigte. Ein Knappe kam heran und fragte ihn, ob alles in Ordnung sei. Er nickte, hob besänftigend den Arm, sah auf. Die braunen Augen des Jungen erinnerten ihn an Kilians braune Augen. Da wusste er, warum er hergekommen war. Er brauchte Trost. Er brauchte die Nähe eines Freundes. Er versuchte ein freundliches Lächeln und stieß sich vom Fass ab. Er spürte den verwunderten Blick des Knappen im Rücken, als er auf den Eingang zu den Stallungen zuhielt.

Als er in das warme Innere eintauchte, wo der Geruch nach Pferd, Leder und Stroh naturgemäß am eindringlichsten war, merkte er, dass ihm bang davor war, Kilian möglicherweise erneut belügen zu müssen. Aber er hoffte, dies würde sich in Grenzen halten. Er hoffte, Kilian, begeistert von dem Umtrieb, der sich im Marstall darbot, würde ihm seine Wortkargheit nachsehen und selbst das Reden übernehmen.

Er fand seinen Freund am linken hinteren Ende vor dem Pferdestand einer Fuchsstute. Neben Kilian drückte sich dessen Kollege Georg dicht ans brusthohe Holzgatter, beide Hausknechte stützten die Unterarme auf die Kante, jeder biss von etwas ab, das wie Brot aussah, während sie das Tier betrachteten, kauten und gleichzeitig miteinander sprachen. Sie wandten ihm den Kopf zu, als er herankam. Die Stute schnaubte leise.

„Holla, Freund, da bist du ja!“, begrüßte ihn Kilian lächelnd.

Georg und er nickten sich zu, Philipp sah, dass es tatsächlich Brot war, dicke Schnitten, zwischen denen ein ebenso dickes Stück braun gebratenen Fleisches lag. Es roch vortrefflich und erinnerte ihn daran, dass er nichts gegessen hatte. Und das nicht nur, weil sein Magen von Nickels Stoß wehtat.

„Warum ist schon so viel Umtrieb hier?“, fragte Philipp. „Sind doch noch fast zwei Monate bis zur Abreise nach Amberg.“

Kilian zuckte die Schultern, während er an Georg vorbei auf ihn zutrat. „Eindrucksvoll, was?“ Er klopfte ihm auf die Schulter.

Philipp nickte zustimmend.

„Deine Fresse sieht bald aus wie Cronbergs Schamkapseln!“, feixte Kilian und drehte den Kopf zu Georg, der ebenfalls lachte.

Untermarschall von Cronberg war bekannt für seine Vorliebe für pflaumenblau und gelb geschlitzte Hosenlätze, und hinter vorgehaltener Hand machte man sich darüber lustig. „Dumm, wenn das Tor beim Heimweg plötzlich acht Fuß weiter links steht als beim Hinweg.“

„Wer denn Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen“, erwiderte Philipp und versuchte ein schiefes Grinsen.

„Hast du dich draußen umgesehen?“, fragte Kilian.

„Hm“, machte Philipp. Kilian biss von seinem Brot ab und sagte mit vollem Mund: „Seit Friedrich regiert und sie wieder an den Hof dürfen, laufen einige der Vasallen so aufrecht und so stolzen Schritts herum, als wollten sie mit ihren Scheiteln an die Sterne stoßen.“ Er machte eine entsprechende Geste und Georg lachte. Philipp fiel mit ein.

Kilian, von all dem Auftrieb angetan, fuhr fort: „Was glaubst du, wie stinklangweilig es hier sein wird, wenn erst einmal alle abgezogen sind und das lärmende Treiben vorbei ist?“

Philipp nickte unbestimmt. Als seine Augen die von Kilian trafen, merkte er, dass sein Freund von alledem nicht nur deshalb so vergnügt plauderte, weil er die Schwätzerei genoss, sondern auch, weil er ihn aufmuntern wollte. Wähnte er ihn doch in Gedanken bei Weib und kranker Schwiegermutter in Reilingen.

Er biss sich auf die Unterlippe. Das Gefühl, das ihn zuvor im Innenhof überfallen hatte, schien erneut aufkommen zu wollen. Er starrte auf die blaugelben Schabracken, die links an der steinernen Stallwand auf Holzböcken hingen, und kämpfte es hinunter. Ein heißer Klumpen Pech lag ihm im Magen. Er war unfähig, auch nur ein Wort zu sagen, spürte Leere, spürte Not, fühlte Schmerz.

Irgendwo lachte jemand laut, ein Gaul wieherte, ein Hammer, der auf Eisen schlug. Philipp zwang sich in die Wirklichkeit und sah Kilian an.

Und wie Kilian ihn ansah, da spürte er plötzlich Wärme im Bauch und wurde verlegen. Im Blick seines Freundes lag das Wissen um etwas Unausgesprochenes, das ihn einhüllte, und die Bereitschaft, für ihn da zu sein, wenn er ihn benötigte.

Er schluckte. „Ich muss los“, sagte er und verabschiedete sich mit einem Nicken.

Zwölf

Seit sie diesen Fremden gefangen und dessen Rucksack durchsucht hatten, herrschte eine eigenartige Spannung in der Hütte. Als wären die beiden Bösewichte darauf gefasst, dass er mit irgendeiner Zauberei grünbäuchige Dämonen herbeirief, die sie allesamt mit Stumpf und Stiel verschlangen.

Könnte er das? Unheimlich war er schon, mit allem, was er da in seiner Tasche hatte, dazu so bleich und so gänzlich in böses Schwarz gehüllt wie der Leibhaftige selbst. Wieder äugte Hedwig vorsichtig hinüber zur Feuerstelle. Ja, keine Frage, er war es. Sie hatte diese Stimme mit der seltsamen Färbung darin schon einmal gehört. Sie hatte dieses milchweiße Gesicht gestern Abend im Fackelschein des Belierschen Hofes gesehen. Jetzt sah sie es hier im Schein der Laternen und des Feuers. Wenngleich nur von der Seite, war sie sich doch gewiss, dass es sich um den Hausierer handelte, der ihr zugerufen hatte, sie sei hold wie die Sonne. Sie hatte es nicht vergessen. Sie hatte es gegen ihren Willen gern gehört. Auch wenn sie wusste, dass es nicht mehr gewesen war als ein Beutel voll Luft, eine Schmeichelei, damit sie ihm etwas abkaufte. Er war ein Schwätzer, ein Aufschneider, ein Schwindler. Das war nur allzu deutlich. Vor so einem nahm man sich besser in Acht. Nur – wie gelangte er in diese Hütte? Und wo lag diese Hütte? Wenn er sie gefunden hatte, warum fanden andere sie nicht? Wie viel Zeit mochte vergangen sein, seit ihn die Widerlinge vor ein großes Buch genötigt hatten und ihn zwangen, darin irgendeine Veränderung vorzunehmen? Zeit genug jedenfalls, so stellte Hedwig erstaunt fest, um zu bemerken, wie sich die schreckliche Angst auf eine Art beruhigte, die ihr Herz nicht mehr wie einen ins Netz gegangenen Fisch zappeln ließ. Mit dem schwarzhaarigen Fremden war Hoffnung in die Hütte geflattert. Sie war nicht mehr allein. Es war eigenartig, er war ja nicht vertrauenswürdig, doch war auch er nicht freiwillig hier. Er tat das, was sie von ihm verlangten, unter Zwang.

Still saß sie an die Hüttenwand gepresst, Juli im Arm, fuhr mit der Zunge über die wulstige Stelle, wo sie sich in die Wangenfalte gebissen hatte, und sann darüber nach, ob es einen Ausweg geben könnte. Die Männer hatten gesagt, sie ließen ihn gehen. Vielleicht, ja vielleicht wäre es ihm möglich zu verlangen, dass man sie ebenfalls gehen ließe?

Schlagartig verging diese Hoffnung, da ihr klar wurde, dass der Fremde sie den Männern zugehörig wähnen musste. Kein einziges Mal hatte er hergesehen. Er hatte sie überhaupt nicht beachtet. Er würde seinen Handel mit den beiden abschließen und froh sein, von dannen ziehen zu können. Die Verzweiflung kehrte zurück. Aussichtslos. Es war gänzlich aussichtslos. Tränen schossen ihr in die Augen, die umso heißer waren, da zuvor der Glaube an eine Wendung in sie geflossen war wie ein kräftigender Trank.

Bitte, gnädiger Gott, betete sie still, hilf mir. Rette mich und meine Tochter, lass mich nicht allein. Verzagt äugte sie hinüber zur Feuerstelle. Der Fremde kniete vor dem Buch, das auf dem Baumstumpf lag, und hantierte schweigend mit einem Gegenstand auf der Seite, während die beiden Schurken seitlich hinter ihm standen und sich leise unterhielten. Ihre Mienen waren finster. Vorne neben der Tür lag noch immer der Tote. Hedwig schaute sogleich wieder weg, es machte sie zu bang und ekelte sie zu sehr.

Drüben am Feuer regte sich etwas, der Fremde seufzte mit einem Mal tief, ließ die Luft mit einem Brummton fahren, der Erschöpfung anzeigte. Hedwig hob den Kopf nur so weit, dass sie unauffällig hinsehen konnte. Der Schwarzhaarige streckte beide Arme nach oben, lehnte sich zurück, reckte sich. Die beiden drehten ihm die Köpfe zu. Er verschränkte die Hände im Nacken und sagte mit Blick auf die Buchseite vor sich: „Das war Arbeit. Etwas zur Stärkung, das die Herren mir können anbieten?“ Er sprach leise und rollte das R, es klang kehlig und ein kleines bisschen herausfordernd.

Sie nahm die rasche Bewegung wahr, mit der der Anführer dem Rothaarigen in den Arm fiel und ihn daran hinderte, dem Fremden für seine freche Frage eins überzubraten. Ein unwirsches Knurren war die Antwort, der junge Mann schien es nicht zu bemerken. Er erhob sich und ging umher. Die beiden Männer betrachteten das Buch. Hedwig äugte zu dem Fremden hin. Er war schlank, dünkte sie etwas älter als Philipp und nur wenig kleiner als dieser. Seine schwarzen, fast schulterlangen Haare waren wellig, und er war bartlos. Er kreiste den Kopf im Nacken, lockerte die Arme, schüttelte die Beine. Dabei sah er nach oben, nach unten, zur Seite – nur in ihre Richtung sah er nicht. Ginge es nach seinem Gebaren, so war sie wohl unsichtbar. Zuerst entmutigte sie das. Dann ärgerte es sie. Er müsste sie doch einmal zur Kenntnis nehmen! Er hörte mit seinem Gezappel auf und trat zum Baumstumpf.

Der Anführer hielt ihm einen Trinkschlauch hin.

Der Schwarzhaarige zog den Pfropfen vom Mundstück, streckte den Arm und zeigte mit dem Trinkschlauch auf das Buch. „Schönschrift und Sorgfalt, gut lesbare Buchstaben …“ Er unterbrach sich und trank.

Hedwig konnte sein Gesicht nicht sehen, da er ihr den Rücken zuwandte, doch wieder klang sein Tonfall so, als würde er sacht mit dem Fehdehandschuh winken. Er setzte den Schlauch ab, drehte den Männern den Kopf zu. „Hier wird gelegt großer Wert auf saubere äußere Form. Ich hoffe, ich kann sie erhalten.“ Er wandte sich von den beiden ab, sagte: „Muss pissen“ und ging zur Tür.

Sie sah den Blick, den die Kerle miteinander wechselten.

Sie hatte keine Worte für das, was plötzlich in sie fuhr. Es fühlte sich an wie ein kräftiger Ruck, der sie durchzuckte, und er wandelte Hoffnungslosigkeit in Beherztheit, Angst in Kraft.

Die Stunden des Tunichtgutes waren gezählt.

Besser, sie gewann ihn dafür, gemeinsam zu entkommen.

Der Braunhaarige machte sich auf den Weg.

Er hatte bis zur Dämmerung gewartet, um den Toten fortzuschaffen. Der Rothaarige zwang den Fremden, die Leiche zusammen mit dem Anführer hinauszutragen.

Hedwig versuchte ihn auf sich aufmerksam zu machen. Ihm mit den Augen ein Zeichen zu geben. Er sah durch sie hindurch, als wäre sie Luft.

Prahlerischer Pillendreher!

Sie zupfte Haube und Haarkringel zurecht, stillte Juli und dachte nach.

Rot- und Schwarzschopf kamen zurück. „Weitermachen!“, knurrte der Rothaarige und deutete zum Arbeitsplatz am Baumstumpf.

„Ich habe Hunger“, sagte Hedwig leise.

Unsichtbar machen, sich still verhalten – es würde sie nicht retten. Also konnte sie sich genauso gut bemerkbar machen. Und dem Salbenverkäufer verdeutlichen, dass sie hier nicht dazugehörte, sondern gefangen gehalten wurde wie er.

Der Rote drehte sich zu ihr um. Das geile Grinsen in seinem Gesicht öffnete der Angst erneut die Tür. Hedwig schluckte und neigte den Kopf.

„Dann verdiene dir dein Essen“, raunte er, und sein Knurren wandelte sich zu einem widerlichen Zischen unzähliger Schlangenzungen.

Er trat einen Schritt auf sie zu und leckte sich brünstig die fleischigen Lippen. Sie sah seine schrägstehenden Augen, sah den roten Kinnbart, die Hand, die sich über die Schamkapsel legte und das, was drunter war, schüttelte.

Ihr Herz raste. Ihre Zähne schlugen plötzlich aufeinander, sie zitterte. Ihre Gedanken überschlugen sich. Den Blick gesenkt halten oder ihn ansehen? Schweigen oder eine standhafte Entgegnung geben? Gleich würde sie vor Furcht schreien oder weinen. Sie dachte daran, wie der andere, der nun tot war, ihr das Ohr geleckt hatte. Ekel wallte in ihr hoch, sie räusperte sich, musste husten. Nie im Leben würde sie das überstehen. Gütiger Herr, was nun, was?

„Mach dich nützlich. Kümmere dich um das Feuer.“ Sie wollte schon erleichtert sein, spürte jedoch, dass es nicht ausgestanden war.

Er packte sie an der Hinterbacke und schob sie zur Feuerstelle.

„Bitte … lasst das“, hauchte sie.

Ein dreckiges Lachen. Er deutete auf den kleinen Holzstapel in der Ecke. „Los doch. Ein Scheit nach dem anderen.“

Sie hörte die Gier in seiner Stimme flackern, kopflos vor Angst griff sie rasch zwei Scheite, warf sie nacheinander aufs Feuer. Funken stoben, es krachte und knisterte, als die rot glühenden unteren Scheite zusammenfielen.

Grob zerrte er sie herum, verpasste ihr eine Ohrfeige, dass ihr die Tränen in die Augen schossen und die Ohren klingelten. „Einzeln!“, befahl er.

Sie tat, was er verlangte. Bückte sich, um das Holz aufzunehmen.

„Bleib so!“

Sie erstarrte. Er trat hinter sie.

Dann spürte sie, wie ihr die Röcke hochgehoben wurden. Ihr wurde heiß vor Scham. „Bitte …“ flüsterte sie, wollte mit dem Arm den Stoff nach unten ziehen, er schlug drauf. Kalter Stahl. Oh bitte, lieber Gott, bitte nicht, flehte sie innerlich, als sie begriff, dass er das Schwert benutzte, um ihre Röcke zu lupfen. Sie Stück für Stück nach oben zu schieben. Den kalten Stahl an ihren wollenen Beinlingen entlang zu streichen. Ihr Herz raste, ihr brach der Schweiß aus. Die Angst riss sie mitten entzwei. Das Schwert glitt an ihren Schenkeln hinauf, er stach ein wenig zu, strich höher. Sie spürte, dass er noch nichts sehen konnte, was sie entehren könnte, doch war allein die Langsamkeit, mit der er tat, was er tat, die Genüsslichkeit, die ihm aus dem gesamten Wesen troff, so erniedrigend, dass sie zu weinen anfing. „Bitte …“ flehte sie erstickt. „Lasst mich doch. Bitte.“

Er lachte sein Vergnügen an ihrer Not mit einem hässlichen Krächzen heraus. Sie dachte daran, dass zwei Schritte entfernt der Fremde saß. Würde er dies geschehen lassen? Zusehen? Oder gar mitmachen?

Ein Grunzen, wie es der Teufel selbst nicht ekelhafter ausstoßen konnte, zeigte ihr deutlich den Gefallen, den der Rothaarige daran fand, sie derart zu demütigen. Das Feuer knisterte, das Holz knackte. Und zwischen ihren Schenkeln schwebte eine Waffe. Hedwig würgte an ihrer Angst. Gleich würde sie umfallen. Oder verrückt werden.

„Ma“, girrte Juli drüben auf der Decke. „Da“, machte sie.

Das brachte irgendetwas in ihr zurück. Kraft? Mut? Um Julis willen. Für Juli.

„Bitte, Herr“, wagte sie zu flüstern. „Lasst mich nach ihr sehen. Bevor sie wieder zu weinen beginnt.“ Sie verharrte in der gebückten Haltung, hatte Angst vor einem neuen Schlag. Und dann, jäh, ein Gedanke: Vor ihr die Holzscheite. Was, wenn sie ein Großes nähme, herumwirbelte, es ihm ins Gesicht schlug. Sie sah es vor sich. Er würde nicht darauf gefasst sein. Doch ihr Herz klopfte zu wild, sie überlegte zu lange, was, wenn sie ihn nicht träfe, wenn er auswich, sie nur seine Schulter streifte.

Sie nahm das Scheit und warf es aufs Feuer.

„Braves Mädchen. Noch eins!“, befahl er.

Und das Schwert hob den Stoff.

Tränen fielen auf ihre Hand, die nach dem Scheit griff.

„Dada“, blubberte Juli.

Etwas in ihrem Innern barst, als würden Fesseln mit einem kraftvollen Hieb durchtrennt. Sie wusste selbst nicht, wie es geschah, doch ruckartig richtete sie sich auf, die Röcke fielen, die Waffe drang nicht in ihren Leib, mit einer nie gekannten Entschlossenheit warf sie sich herum, hob das Holzstück, zum Schlag bereit, und schrie: „Hört auf, mich zu quälen!“

Er war tatsächlich zu verdutzt, um etwas anderes zu tun, als sie anzuglotzen. Und ein rascher Blick auf den Schwarzhaarigen ließ sie mit Genugtuung erkennen, dass sie endlich dessen Aufmerksamkeit gewonnen hatte. Das galt es auszunutzen. „Ihr verschleppt mich, haltet mich gefangen, und ich weiß nicht weshalb!“, schrie sie weiter. „Ihr quält mich, und vielleicht trachtet Ihr mir gar nach dem Leben! Was habe ich Euch getan, was?! Ich kenne Euch nicht!“

Sie zitterte.

Das Gesicht des Widerlings verfinsterte sich. „Bist ja eine Wildkatze. Wer hätte das gedacht!“, raunte er.

Ein Augenblick gefährlicher Stille, nur das brennende Holz knisterte.

Er holte aus, diesmal wich sie vor ihm zurück, trotzdem erwischte er sie und schlug mit dem Handrücken fest in ihr Gesicht. Sie taumelte rückwärts, verlor das Scheit und fiel auf das Holz. Kanten und Ecken bohrten sich schmerzhaft in ihre Seite.

„Das wagst du nicht noch einmal!“, zischte er.

Sie wusste, sie hatte seine Ehre verletzt. Sich vor den Augen eines anderen gegen ihn zu stellen, war nicht ratsam gewesen. Doch etwas in ihr hatte sich wie losgelassen angefühlt. Das, was jedes Wesen zum Überleben antrieb. Es hatte keinen Platz gelassen für Überlegungen. Verrenkt und keuchend lag sie da und starrte in sein wutverzerrtes Gesicht.

Juli fing an zu weinen. Jäh die Angst, dass er sich rächte, indem er ihrer Tochter nun doch etwas antat.

„Herr“, hörte sie wie aus weiter Ferne die Stimme des Schwarzhaarigen. „Lasst von ihr ab.“

Dankbar gewahrte sie, dass er sich ihnen zugewandt hatte. Sie sandte ein Flehen in seine Augen.

Der Rothaarige fuhr zu ihm herum, knurrte wütend: „Glotz nicht! Kümmere dich um deine Aufgabe.“

„Sicher“, nickte er und machte Anstalten, sich wieder abzuwenden.

Die Angst schwoll an.

Dann räusperte sich der Fremde, bat den Widerling mit einer Geste näher zu sich. „Ihr könnt vertiefen diese … äh … Angelegenheit“, raunte er. „Doppeltes Vergnügen. Ich habe Hilfsmittel. Wenn Ihr wisst, was ich meine.“ Mit dem Kinn deutete er in die Ecke, in der sein Rucksack lag.

Der Blick des Rothaarigen huschte von dem Fremden zu ihr und wieder zu dem Fremden. „Du meinst …?“

„Sicher!“, nickte der andere und lächelte ein gewinnendes Lächeln.

Ihre Erleichterung schmolz dahin.

Und mit ihr die Hoffnung.

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9783941408364
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