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Читать книгу: «Das Buch des Kurfürsten», страница 3

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Vier

Alle Kanzleiknechte dienten allen Behörden, die in der Landkanzlei unterhalb des Schlossbergs ihren Sitz hatten.

Heute Abend gab es nur einen, der allen diente.

Und der heißt Philipp Eichhorn, dachte Philipp grimmig. Der Rest hatte sich versteckt wie Schaben, die in Holzritzen huschen. Nickel, dieser Scheißhaufen, ließ ihn den Rundgang durch die drei Hauptgeschosse der Kanzlei allein machen. Eigentlich ein Unding, er sollte dies wirklich Vizekanzler Culmann melden. Was, wenn er auf einen Eindringling stieße? Gut, das war noch nie vorgekommen, aber dennoch, es war einfach besser, zu zweit zu sein. Zumal derzeit die unterschiedlichsten Gestalten in der Stadt unterwegs waren.

Was sollte es. Er war ohnehin fast durch. Und es war noch nicht sieben Uhr, da war er sicher. Halb sieben vielleicht.

Vor einer Weile hatte er Registrator Heberer hinausgelassen. Er war in die Registratur gegangen, um zu fragen, ob er Tinte und Schreibzeug wegräumen sollte. Heberer hatte gerade eine Kiste auf seinen Schreibtisch gewuchtet und, als er seiner ansichtig wurde, gerufen: „Briefe der Oberpfalz. Zu sichten für die bevorstehende Abreise. Was sagt man dazu?“

Philipp hatte Mitempfinden ausgedrückt angesichts der zu bewältigenden Arbeit. Aufarbeitung und Sichtung der alten Bestände des Archivums seien schon aufwändig genug. Nun noch diese zusätzlichen Bürden. Behutsam hatte er den Registrator auf die Bedeutung des heutigen Tages hingewiesen. Da hatte Heberer ausgerufen: „Potzteufel, ja! Ich werde Schluss machen.“

Den Worten hatte er die Tat folgen lassen, ein rechter Mann, dieser Heberer, der umso leutseliger mit Philipp umging, seit er erfahren hatte, dass Philipp aus Hockenheim kam, wo er einen Freund hatte, den dortigen Schultheiß nämlich.

Philipp hatte anschließend den Rundgang begonnen, obwohl er wusste, dass Advokatus Schöner noch über den Rechenbüchern saß. Er wollte zeitig fertig werden. Den Ostflügel hatte er am schnellsten durchschritten. Rats- und Hofgerichtsstube lagen ohnehin verlassen und die angrenzenden Schreibstuben ebenso. Die Räume des Kirchenrats im Westflügel hatte er anschließend überprüft, hatte über alle noch glimmenden Feuer Asche gestreut. Nun befand er sich im ersten Stock des mittleren Gebäudeteils, warf Blicke unter Tische, und das Licht seiner Laterne huschte über Holzkästen voller Briefe, über Truhen und Regale und über die Haftzettel an den Schränken der Sekretäre, die Verzeichnisse aller vordringlichen Sachen waren. Alles in bester Ordnung.

Er stieg die Treppe ins Erdgeschoss hinunter. Sollte er in die Rechenkammer gehen und Advokatus Schöner ans Heimgehen erinnern? Womöglich war er über seinen Büchern eingeschlafen. Sein Gegrübel war unnötig. Unten angekommen hörte er Schritte, ein Lichtschein huschte heran. Die Deckenlaternen waren gelöscht. Hans hatte dies genauso übernommen wie das Fegen von Treppe und Gasse vor der Kanzlei.

„Ah, du stehst schon bereit, Eichhorn, bestens.“ Mit diesen Worten reichte Advokat Schöner ihm die Laterne, um sich den Mantel umlegen zu können, den er über dem Arm getragen hatte. Der Mantel verhüllte alsdann Schmuckkette und Halskrause und wurde mit einem Seufzer geschlossen. Das Barett bereits auf dem Kopf, schritt der Doktor zur Tür.

Philipp stellte die Laternen neben sich auf den Boden, fischte den Schlüsselbund vom Gürtel und schloss dem Kanzleiverwandten auf. „Einen schönen Martinsabend, Doktor Schöner.“

Der Advokat hob die Hand zum Gruß und bedachte ihn mit einem Nicken, das „Ja, ja, schon recht“ heißen mochte, blieb auf der oberen Stufe stehen und sah müde in den noch immer fallenden Schnee. Er brummte etwas Unverständliches, während Philipp sich beeilte, eine Laterne wieder aufzunehmen, um dem Kanzleiverwandten die Stufen zu beleuchten. „Gebt acht auf den Weg, Advokatus Schöner. Wollt Ihr die Laterne nehmen?“

Schöner winkte verneinend ab, wünschte ihm eine gute Nacht und machte sich Richtung Kanzleigasse davon. Ein kalter Wind wehte Schnee in den Flur. Die Gasse lag verlassen und leuchtete weiß. Philipp schloss die Tür und ging mit den Laternen zurück in die Schreibstube. Feierabend! Jäh fiel ihm Nickel ein. Wut und Trotz wallten in ihm empor. Vermaledeit! Kannst mich mal, Hundsfott! Er würde den Teufel tun und sich bei Nickel abmelden. Der war sicher ohnehin schon zu besoffen, um noch an seine Anweisung zu denken. Philipp warf sich seinen Mantel über, löschte die Kerzen und verließ die Stube. Er verschloss das Rundbogenportal des leicht zurückgesetzten Gebäudeteils und ging die Stufen hinab.

Hinter dem Strebepfeiler zu seiner Linken löste sich eine Gestalt aus dem Dunkel.

Philipp schrak zusammen. Überrascht machte er einen Schritt nach rechts. So spät noch ein Bote?, dachte er unbestimmt, bis ihm deutlich wurde, dass der Umhang des Mannes nicht der eines Boten war.

Der Fremde warf ihm unter seiner Kapuze einen raschen, prüfenden Blick zu und raunte mit rauer Stimme: „Eichhorn, kommt hierhin.“ Er hob den Arm, die Geste wirkte eindringlich. Der Mann kannte seinen Namen? Philipp wunderte sich, folgte ihm. Drei knirschende Schritte bis zum Ersten der beiden rundbogigen Eingänge des östlichen Gebäudeteils der Kanzlei. Drei Schritte, die genügten, dass Philipp Unbehagen spürte, denn er bemerkte, wie der Mann flink die Gasse hinauf und hinunter sah. Philipp unterdrückte aufkommende Beklommenheit und bemühte sich um einen freundlichen Ton, als er sagte: „Die Kanzlei ist längst geschlossen, Herr, das wisst Ihr sicher. Wenn Ihr in Geschäften hier seid, kommt morgen früh wieder. Gegen halb acht Uhr. So es eilig ist, könnt Ihr auch um sieben bereits …“

„Spar dir das!“, unterbrach der Mann ihn harsch, und aus seiner Stimme sprachen Kraft und Autorität. Er reckte den Hals, sah zur Gasse, zurück zu Philipp. Der spürte einen Stich in der Brust. Er war angehalten, höflich zu sein. Plötzlich schlug dieser Grobian den Mantel zurück, und Philipps Blick fiel auf das Schwert an seiner Seite.

Er schluckte. Der Mann stand nah vor ihm, kein Schritt trennte sie, der Eingang war zu eng für zwei gleichzeitig. Was wollte er? Philipp sah ihm ins Gesicht – oder versuchte es jedenfalls. Doch die Gesichtszüge des Mannes blieben unter dessen tief heruntergezogener Kapuze verborgen. Philipps Gedanken stolperten übereinander. Gestalt und Stimme des Mannes ließen vermuten, dass er mittleren Alters war. „Wer seid Ihr, Herr?“ Philipp zwang sich weiterhin zu Freundlichkeit, obwohl ihm der Fremde deutlich zwielichtig erschien. „Ich bin Euch gerne behilflich, soweit es in meiner Macht steht“, sagte er und deutete mit einer Neigung des Kopfes seine Bereitschaft an, auch wenn sein Unbehagen wuchs.

„Es steht in deiner Macht. Es befindet sich etwas im Archivum der Kanzlei, das ich gerne hätte.“

Philipp runzelte die Stirn. „Im Archivum? Da müsst Ihr tagsüber kommen und mit Meister Heberer sprechen.“

„Sieh, genau das geht nicht“, antwortete der andere gepresst. „Du wirst ins Archiv gehen und nach dem suchen, was ich benötige.“

„Ich? Ich darf das Archivum nicht einmal betreten! Nur der Registrator und der Protonotar dürfen das.“

Der Fremde nickte, als sage Philipp ihm damit nichts Neues. Er legte die Hand auf den Schwertknauf. „Du holst das Lehenbuch Friedrichs des Dritten.“ Mit Verachtung rotzte er ihm den Namen des ehemaligen Fürsten hin.

Philipp wusste im selben Augenblick, dass sein Gefühl ihn nicht trog: Hier stimmte etwas ganz und gar nicht, der Mann war unlauter.

„Mein Herr“, sagte er und schluckte die aufkommende Angst hinunter, „dies ist gänzlich unmöglich. Könnt Ihr nicht morgen wiederkommen und Euer Anliegen mit dem Registrator besprechen?“

Blitzschnell packte der Fremde ihn beim Umhang und zog ihn an sich. „Ich sage nicht alles zweimal. Du gehst und bringst mir das Buch“, zischte er.

„Ich darf das nicht!“ Sofort hasste sich Philipp für den weichlichen Tonfall.

Wieder nickte der Mann, als wisse er dies hinlänglich. Er ließ ihn los.

„Euer Gebaren …“, setzte Philipp an, doch mit einer Geste brachte der andere ihn zum Schweigen.

„Du gehst zurück, suchst das Buch. Ich werde zur Stelle sein, wenn du herauskommst. Du übergibst mir das Buch. Dann entscheide ich – hör auf, den Kopf zu schütteln, hör zu! –, ob du noch etwas anderes, sagen wir: entleihen musst.“

„Bei meiner Seele, das werde ich nicht tun!“, fauchte Philipp. „Ihr seid toll, dass Ihr so etwas annehmt!“ So gefiel er sich schon besser. Er war wütend, trotz seiner Beklommenheit, und die Wut war seinem Ton anzuhören. Er würde doch nicht wider die Gebote seines Amtes handeln! Er schickte sich an, den Grobian einfach stehen zu lassen und auf die Gasse zu treten. Der andere versperrte ihm den Weg, indem er seine rechte Hand nah an Philipps linker Schulter gegen die Mauer stützte. Lederhandschuhe. Geruch nach Leder und Rauch.

Philipps Herz schlug schneller. Er fragte sich, ob er rufen sollte – und wenn, ob die Kollegen oben im Zwerchhaus ihn hören würden. Seine rechte Hand glitt zur Hüfte hinab, vermaledeit, das Kurzschwert am Gürtel nützte nichts unter dem Mantel.

„Denk nicht mal dran!“, drohte der andere leise. „Es gibt da nämlich ein gutes Argument für deine Hilfe.“

„Kein Argument der Welt kann mich zu einem Handeln bewegen, das gegen die Vorschriften ist!“

„Ich denke, du irrst.“ Seine Stimme war schneidend. „Braunes Haar, liebliches Wesen. Ein saftiges Weib.“

„Mein Weib?!“

„Nicht so laut, sollen deine Kollegen aufmerksam werden?“

„Was habt Ihr mit Hedwig …?“

„Sie ist, sagen wir, in Gewahrsam.“

„Gewahrsam?“, schrie Philipp. „Ge…“

Der Faustschlag traf sein Kinn. Sein Kopf schlug nach hinten an die Steinwand. Ein harter Schmerz zischte durch sein Hirn, Lichtpunkte tanzten vor seinen Augen.

„Ich sagte dir bereits, ich sage nicht alles zweimal.“ Er hielt Philipp an der Kehle fest.

Philipp schmeckte Blut im Mund. Das hier konnte doch nicht wahr sein! Er spuckte das Blut aus, als der Mann ihn losließ, sah aus den Augenwinkeln, wie der Fremde an einer Innentasche seines Umhangs nestelte. „Siehst du, ich weiß, dass du nicht tun darfst, worum ich dich ersuche. Deshalb geht es deinem Weib auch nur so lange gut, wie du bereit bist, deine Bedenken zu überwinden und zu tun, was ich verlange.“ Bei den letzten Worten hielt er Philipp einen Ring vor die Nase.

Hedwigs Ehering! Philipp griff hastig danach.

Der Mann zog die Hand zurück. „Nicht so hurtig, junger Freund!“ Er schien zu lachen, es klang wie ein Keuchen.

„Was wollt Ihr? Was habt Ihr vor?“, presste Philipp wütend hervor, obwohl er wusste, dass es keinen Sinn hatte. Er hatte Hedwig. Er hatte … Oh Herr, was war mit Juli?

„Meine Tochter?“ Mehr Krächzen als Worte.

„Noch wohlbehalten bei der Mutter.“

Philipp atmete schwer. Sein Verstand weigerte sich zu verstehen, was er da hörte. Das konnte nicht sein. Er sah zu dem durch die Kapuze verhüllten Gesicht. Seine Augen fragten: Warum? Aber er würde keine Antwort erhalten. Natürlich nicht.

„Das Lehenbuch Friedrichs. Oder du bekommst den Finger zum Ring.“

Philipp hörte die Drohung. Er musste seine Beine zwingen, standhaft zu bleiben und nicht unter ihm nachzugeben. In seinem Kopf nur Durcheinander. Konnte er den Kerl niederschlagen, ihn überwältigen, ihn prügeln, bis er ihm sagte, wo Hedwig und Juli waren? Ohnmächtige Wut, sie schmeckte bitter in seinem Mund.

„Überredet?“

Philipp schwankte. Jemand hatte ihm den Boden unter den Füßen weggezogen.

Fünf

Hedwig. Juli.

Mehr Wörter passten nicht in seinen Kopf. Mit zitternden Händen schlug Philipp den Feuerstein, um eine Laterne zu entzünden. Er saß auf dem Boden in der Schreibstube, die kurz zuvor noch so etwas wie sein Zuhause gewesen war.

Hedwig. Juli.

Wo waren sie? Ging es ihnen gut? Was, wenn nicht? Der Gedanke brachte ihn schier um den Verstand. Er sah Hedwigs Gesicht vor sich, ihre Augen, blau wie Kornblumen, das braune Haar, das im Talglicht einen Glanz wie von polierten Kastanien hatte. Ihre Oberlippe mit dem kleinen Knubbel in der Mitte. Wenn sie zornig war, machte sie immer eine Schnute, und der Knubbel wölbte sich über die untere Lippe. Manchmal konnte er nicht anders, er küsste sie einfach auf dieses Schnutenmäulchen. Dann musste sie lachen. Dann lachten sie beide. Er hätte aufheulen mögen wie ein verletzter Wolf. Sie hatten so sehr darauf gepocht, dass man auch aus Liebe heiraten und ein Bündnis gründen konnte, das Bestand hatte, ja, dass ihre Liebe Bestand haben würde! Und nun wollte man ihm dieses Glück fortnehmen? Irgendwo dort draußen lauerte ein Hundsfott, der ihm sein Weib und seine Tochter genommen hatte und darauf wartete, dass er etwas täte, was er nicht tun durfte und nicht tun wollte. Von einem Augenblick zum nächsten war seine Welt aus den Fugen geraten.

Hart schlug er den Feuerstein, Funken stoben in den Zunder. Er entzündete den Kerzendocht, schloss das Glastürchen der Laterne. Er neigte den Kopf, hielt ihn gesenkt, krallte die Finger hart ins Haar. Am Hinterkopf bildete sich eine Beule, sie tat weh. Auch sein Kinn schmerzte von dem Faustschlag, und im Mund hatte er den Geschmack von Eisen.

Grundgütiger Vater im Himmel! Was soll ich tun? Hilf mir!

Sämtlichen Schreibern und Sekretären war es verboten, aus Kanzlei, Rechenstube und den anderen Behörden ohne Erlaubnis Schriftstücke herauszugeben. Niemand durfte etwas für sich selbst kopieren, behalten oder gar mit nach Hause nehmen. Er selbst am allerwenigsten. Als Kanzleiknecht durfte er zwar die Schreibstube betreten, etwas, das außer ihm nur Großhofmeister, Kanzler, Marschall und die Schreiber durften, aber in das Archivum durfte er nicht. Die Geheimhaltung der kurpfälzischen Akten wurde ernst genommen. Er durfte ja nicht einmal die Boten hineinlassen, sie mussten in dem ihnen zugewiesenen Raum warten. All dies hatte er mit Eid vor Großhofmeister, Kanzler und Oberrat bei seiner Bestallung geschworen.

Und nun sollte er genau dies tun? Er sollte einen Diebstahl begehen. Er würde alles verlieren, was er sich erarbeitet hatte. Gab es eine Möglichkeit, dem auszuweichen? Fieberhaft überlegte er. Er könnte sagen, dass er den Schlüssel für das Archivum nicht gefunden habe. Aber er hatte oft genug gesehen, wie Registrator Heberer ihn abends in der Lade verwahrte. Und er war sich mit einem Mal sicher, dass der Hundsfott dort draußen dies wusste. Dessen gesamtes Gebaren wies darauf hin. Er hatte gewartet, bis er, Philipp, aus der Kanzlei kam. Er hatte gewusst, dass er herauskommen würde, er nächtigte ja nicht in der Kanzlei. Auch seinen Namen kannte er. Er hatte Hedwig und Juli entführt, um ihn zu Einbruch und Diebstahl zu zwingen. Das bedeutete, er wusste, wo sie wohnten, hatte ihr Leben ausgespäht. Also war diese Sache von langer Hand geplant.

Er schlug die Faust auf den Steinboden, auf dem er hockte. So ein Hurensohn! So ein elender, scheißdreckiger Hurensohn! Sich vorzustellen, wie er hinter ihm oder Hedwig herschlich … Plötzlich hielt er inne. Wo hatte er Hedwig verborgen? Hatte er sie bei sich, hatte er sie irgendwo in der Nähe der Kanzlei versteckt? Womöglich hatte sie wenige Schritte von ihm entfernt gekauert und hatte mit anhören müssen, was man von ihm erzwang, hilflos, gefesselt, den Mund verstopft mit einem schmierigen Lappen, damit sie nicht schrie. Er geriet außer sich, wenn er sich das vorstellte. Er würde dem Strauchdieb nachher folgen. Er würde – jäh überfiel ihn ein anderer Gedanke: Was, wenn der Fremde einen Helfer hatte, der Hedwig bewachte? Denn nie und nimmer würde sie stillhalten. Es sei denn … Er rang nach Atem. Juli. Das Herz wollte ihm die Rippen sprengen.

Gegen zwei würde er nicht ankommen. Was sollte er tun? Hilfe? Die Kollegen? Wieder schlug die Faust auf den kalten Steinboden. Käme er mit Gefolge, der Spitzbube hatte es ihm eindringlich zugezischt, bevor er in die Kanzlei zurückgegangen war, käme er mit Gefolge, verriete er auch nur ein Wort des Vorhabens … Philipp schluckte. Er hatte nicht zu Ende sprechen müssen.

Es gab keine Hilfe. Er musste tun, was man von ihm verlangte, wollte er Hedwig und Juli lebend wiedersehen.

Er stand auf. Lauschte. Still.

Vorsichtig öffnete er die Tür zum Vorraum, spähte hinaus. Schlich durch den Vorraum bis zur Registratur an dessen Ende. Er trat ein, ging zum Schreibtisch, auf dem noch Heberers Kiste mit den Oberpfälzer Briefen stand. Ein Griff in die Lade, der Schlüssel, die Tür zum nebenan liegenden Gewölbe aufschließen. Mit klopfendem Herzen drehte er sich um, äugte in die Stube zurück, lauschte erneut.

Dann betrat er das Archiv. Die gesamte hintere Längsseite wurde von Holzregalen eingenommen, in denen Holzkisten lagerten. Kalt war es, es roch modrig, nach Verputz und dem alten Holz der Truhen, Leder. Philipp leuchtete Wände und Boden ab. Rundum dasselbe Bild: Regale an den Wänden. Kisten und eiserne Truhen auf dem Boden, die durch mehrere Schlösser gesichert waren. Der Boden war mit Holzbohlen ausgelegt, damit keine Feuchtigkeit die wichtigen Akten verdarb. Er hob wahllos den Deckel einer Holztruhe, die ihm am nächsten zur Linken am Boden stand. In Leder gebundene Bücher, zu Packen gebundene Papierseiten. Obenauf ein Papier. Er hielt es an die Laterne. Es war eine Auflistung dessen, was sich in der Truhe befand. Soweit er sehen konnte, enthielt die Kiste Akten aus jüngerer Zeit, 1594, 1593. Philipp wusste, dass im Archiv auch jene Sachen lagerten, die man im laufenden Tagesgeschäft nicht mehr benötigte. Er ging zum linken Ende des Raumes. Hier sah er Truhen aus Holz, die an den Seiten dick mit abgewetztem Leder bespannt waren. Er ging in die Knie, leuchtete mit der Laterne hinein, erkannte Schriftrollen, sah rote Siegel an braunen Bändern. Eine Rolle auf der anderen. Geruch nach altem Pergament und altem Siegelwachs stieg ihm in die Nase. Das Verzeichnis, das auch hier nicht fehlte, gab eine fein säuberlich geschriebene Übersicht über den Inhalt des Kastens. So wurde vermieden, dass man immer alle Briefe herausnehmen musste. Es sagte ihm, dass in der Truhe alte kaiserliche Privilegien lagerten. Erbverträge und dergleichen, noch aus uralten Zeiten. Schätze der Kurpfalz.

Das brauchte er nicht. Er erhob sich, drehte sich um sich selbst. Wo lagerten die Kopialbücher? Sie waren ja nicht gerade klein. Und es mussten unzählige sein, denn für jeden Kurfürsten wurde ein neues Kopialbuch von jeder Art angelegt. Soweit er wusste, gab es vier verschiedene Arten. Das „perpetua“ enthielt die Abschriften jener Urkunden, die er soeben in der lederverkleideten Kiste gesehen hatte. Es gab eines, das „ad vitam“ hieß, es gab die Dienerbücher, in denen die Bestallungen festgehalten wurden. Und es gab die Lehenbücher. Die enthielten die Lehensbriefe der kurpfälzischen Vasallen. Reichsritterschaft.

Philipp merkte, dass er zu zittern begann. Was bedeutete dies? War der Verhüllte ein Ritter? Was hatte er vor? Wozu brauchte er das Kopialbuch?

Die Kopialbücher wurden sorgfältig gehütet, denn sie waren wichtig. Was, wenn jenes, das er holen sollte, gerade in Benutzung war, was durchaus vorkam, wenn es etwas zu klären gab. Er wusste, dass der Registrator eine Liste jener Schreiber führte, die eines der Bücher entliehen hatten. Und Lehenprobst Zweifel, der ebenfalls in der Registratur tätig war und die Lehenssachen bearbeitete, hatte ein ebenso wachsames Auge auf die ihm anvertrauten Unterlagen. Philipp hätte schreien mögen. Seine rechte Hand schmerzte, sein Kopf tat weh. Er durfte hier nicht sein. Er wollte hier nicht sein. Nachdenken. Er kannte die Sorgfalt, mit der Heberer arbeitete, um dem Durcheinander des Archivums Herr zu werden. Immer wieder klagte er über die Anstrengung, die es kostete, die alten Bestände in eine Ordnung zu bringen. Zwar standen Truhen und Kästen halbwegs sorgfältig in den Regalen und auf dem Boden, dennoch konnte Philipp keine bestimmte Gliederung erkennen. Er ging einige Schritte, leuchtete in den rechten hinteren Teil des Raumes, sah dort Säcke lagern, deren Ausbuchtungen darauf schließen ließen, dass auch sie Schriftrollen enthielten. Zwischen den Säcken standen Truhen, die in schlechtem Zustand waren, ihr Holz war an vielen Stellen morsch und faulig. Manche waren übereinandergestapelt, und im Laufe der Zeit waren einige der unteren Kisten eingebrochen von der Last jener über ihnen, müde vom Tragen. Philipp wurde zunehmend unruhiger. In dieser Ecke verschwendete er seine Zeit. Doch erst wenn er dem Entführer das Buch gebracht hatte, würde er erfahren, was weiter geschähe. Wann er Hedwig und Juli wiederbekäme. Und wie.

Er wandte sich der gegenüberliegenden Ecke zu, leuchtete gewissenhaft die Regalreihen ab. In Augenhöhe vor sich hob er den Deckel eines Kastens – und fand, was er suchte. Im spärlichen Lichtschein erkannte er das Register, das ihm sagte, dass hier die Kopialbücher lagerten, die zu Regentschaftszeiten Ludwigs VI. angelegt worden waren, des Sohnes und Nachfolgers Friedrichs III. In den Reihen darüber standen wohl die Kisten mit den noch älteren Registerbüchern. Philipp stellte seine Lampe auf den Boden, hob den Kasten herunter und zerrte ihn ein wenig nach rechts auf eine andere Truhe zu, wobei er über das laute, schleifende Geräusch erschrak. Er hielt inne, lauschte.

Er hörte das Blut in seinen Ohren rauschen.

Sonst Stille.

Schließlich griff er die Lampe, stellte sie auf die Nachbartruhe, öffnete den Kasten und durchsuchte ihn. Dann hielt er es in Händen. Ledereinband mit gepresstem Druck, Verschlussbänder aus Leder. Das Lehenbuch Friedrichs III. Eine Auflistung jener Vasallen, denen damals ihre Lehen zugeordnet worden waren. Nachdenklich blickte er auf das dicke Buch in seinen Händen.

Was wusste er über die Ritterschaft und das Lehenswesen? Ein Lehen war etwas, ein Dorf, eine Burg oder Zölle, das ein Lehensmann von seinem Lehensherrn, in diesem Fall dem Kurfürsten, geliehen bekam. Er wurde mit einem Lehensbrief in das Lehen eingesetzt. Dafür schwor der Lehensmann dem Lehensherrn einen Treueeid. Den Empfang der Güter und dass er den Eid geleistet hatte, beurkundete der Lehensmann durch ein Lehensrevers, das er an den Lehensherrn übergab. Er durfte das Lehen besitzen und nutzen, jedoch nur mit Zustimmung des Lehensherrn veräußern. So war es seit ewigen Zeiten, so war es bis heute. Damit niemand vergaß, wer wann von wem welches Gut oder Dorf als Lehen erhalten hatte, wurden Bücher darüber geführt, die eine Übersicht über die landesherrlichen Besitzungen gaben: die Lehenbücher.

Dies konnte nur eines bedeuten: Der Verhüllte, der draußen irgendwo auf ihn lauerte, war wirklich ein Vasall. Oder handelte im Auftrag eines Vasallen. Philipp dachte an die ledernen Stulpenhandschuhe, verschlissen, fleckig … Warum wollte er das Kopialbuch haben? Er wollte … etwas ändern? Das konnte er doch nicht wagen! Die Kopialbücher waren sauber zu führen, man durfte keine Veränderungen vornehmen. Allein der Registrator, so wusste Philipp von Heberer, durfte, wenn er Mängel entdeckte, Berichtigungen einfügen.

Nicht so viel nachdenken, Philipp Eichhorn, gemahnte er sich. Je weniger du weißt, desto besser. Bring ihm das Buch, es geht um das Leben deines Weibes! Tue, was er verlangt, und du wirst Hedwig und Juli wiedersehen.

Entschlossen packte er Buch und Laterne und wandte sich der Tür zu. Er betrat die Schreibstube der Registratur – und zuckte jäh zusammen. Stimmen im Flur.

Rasch schloss er die Tür zum Gewölbe, blickte sich hastig um, legte das Kopialbuch zuoberst in die Kiste mit den Oberpfälzer Briefen auf Heberers Schreibtisch.

Dann löschte er die Kerze in der Laterne, duckte sich neben einen Schrank. Keine Sekunde zu spät.

Die Tür zur Stube ging auf.

„Dieser dreckige Hurensohn!“

Nickel!

„Dem werd ich morgen was flüstern!“, polterte der obere Kanzleiknecht.

„Was willst du hier?“, lallte Michel Ley. „Ist doch nichts!“

„Dieser Hurensohn! Ich sag, der soll sich abmelden, und er tut’s nicht!“

„Weiß ich!“, brummte Ley.

„Also frag nicht, was ich hier will, Schafsarsch! Nachschauen muss ich! Ob alles seine Ordnung hat.“ Ein Grunzen. Licht huschte näher. Philipps Herz raste, er atmete flach.

„Lass mir doch nichts anhängen von dem!“

Ihm wurde heiß vor Anspannung. Wonach sah es wohl aus, sollten sie ihn hier entdecken, im Dunkeln, neben einen Schrank gekauert?

„’s riecht nach …“

„Maul!“

„Mein ja nur, es kann noch nicht lang her sein, dass er weg ist. Riecht nach eben gelöschter Kerze.“

„Heberer war noch hier, als ich hochging. Wird grad gegangen sein.“

Das Laternenlicht huschte gen Tür. „Wette, der hat den Rundgang nicht gemacht. Ich schwör dir, dem hau ich morgen die Fresse blau.“

Die Tür schloss sich. Dunkelheit flutete die Schreibstube.

Philipp atmete gepresst aus. Widersprüchliche Gedanken wirrten durch seinen Kopf. Alles verwirkt. Hätte er nicht soeben die Möglichkeit gehabt, sich Nickels und Michels Hilfe zu sichern? Er hatte es nicht getan. Er raufte sich einmal mehr das Haar. Nein, sinnlos, Nickel hätte zu Recht etwas Unlauteres vermutet, hätte er ihn hier ertappt. Und die Gelegenheit beim Schopfe gepackt, seine Wut gegen ihn auszuspielen.

Nein, er konnte nichts anderes tun als das, was der Entführer von ihm verlangte, solange er nicht wusste, wo Hedwig war.

Er trat aus der Kanzlei, schickte vorsichtig Blicke die Gasse hinauf und hinunter, ehe er abschloss.

Nichts. Niemand.

Das Buch trug er unterm Mantel, hielt es im Arm, dicht an den Körper gepresst.

Er stieg die Stufen hinunter. Noch immer schneite es, wenn auch nicht mehr so heftig wie am frühen Abend. Dort, wo Hans zuvor gefegt hatte, lag eine neue weiße Decke aus Schnee auf dem Pflaster.

Hedwig. Juli. Wo waren sie?

Eine Gestalt eilte um die Ecke von der Kanzleigasse her, geradewegs auf ihn zu, hob den Arm.

„Philipp!“

Kilian!

Den konnte er nun gar nicht gebrauchen. Aber da war sein Freund schon heran. Etwas außer Atem vom raschen Gehen, Atemwölkchen in die Luft stoßend und einen Geruch nach Pferd verbreitend. „Dachte mir, dass du noch in der Kanzlei bist. Wurde also spät, was?“

Kilian schob die Kapuze aus der Stirn und sah ihn an.

Philipp spähte rasch umher. Wo war der Fremde? Lauerte er in der Nähe und beobachtete, wie er mit Kilian sprach? Die Obere Kalte Talgasse lag verlassen.

„Was ist?“, fragte Kilian, hielt die gewölbten Hände vors Gesicht und blies warmen Atem hinein.

„Nichts.“ Sein Herz raste. Gäbe es eine Möglichkeit …?

„Ich war bei euch. Hedwig ist nicht da“, sagte Kilian, ließ die Arme sinken und trat auf der Stelle.

Und dann sah Philipp ein verstohlenes Lächeln in Kilians Gesicht aufflammen, und mit einem Schlag wurde ihm so elend, dass er am liebsten um sich geschlagen hätte.

„Sie ist wohl schon vorgegangen, was? Hat sie …?“

Kilian ließ seine Frage unausgesprochen, schaute verlegen zu Boden und scharrte mit dem Fuß im Schnee. Dann blickte er Philipp wieder an. In seinem Gesicht lag eine so offensichtliche Vorfreude, dass Philipp augenblicklich wusste, sein Freund hoffte, Hedwig habe Appel tatsächlich zum Mitkommen bewogen. Er ballte die Hand zur Faust, schluckte. Dachte daran, dass Hedwig nicht dort war, wo Kilian sie vermutete. Vater im Himmel, hilf mir doch!, flehte er still. Was soll ich tun? Kilian einen Hinweis geben? Er wagte es nicht.

„Was ist mit dir? Hattest du so viel Arbeit?“ Kilian legte eine Hand auf Philipps Arm und sagte froh: „Komm, bei einem Krug Wein vergessen wir für heute die Arbeit!“

Unwillkürlich zuckte Philipp etwas zurück. Unter seinem anderen Arm klemmte das große Buch. Er konnte Kilian nicht ansehen, sah hinauf zum Himmel, aus dem winzige Flocken fielen, blickte die Gasse entlang.

„Komm“, sagte Kilian noch einmal.

Philipp hörte seines Freundes aufkommende Besorgnis. Er schüttelte den Kopf.

„Was?“

„Ich kann nicht.“ Er wand sich innerlich. Was sollte er Kilian sagen? Geschrien hätte er am liebsten. Hedwig verschleppt, troll dich, Kilian …

„Philipp?“

Er sah Kilian an. Rang nach Worten. Fühlte Angst.

„Du hast doch was. Ist etwas nicht in Ordnung?“ Forschend sah Kilian ihm ins Gesicht. Kilian, sein freundlicher, ruhiger Freund, den er schätzte und liebte. Kilian, Julis Pate. Er sah Kilian an und wünschte, er würde weggehen. Verzweifelt dachte er daran, dass der Hundsfott irgendwo in der Nähe vielleicht hörte, wie er mit Kilian sprach. Was mochte er annehmen?

„Ich muss … ich muss noch“, stotterte er schließlich. „Ich muss noch etwas erledigen. Einer der Räte. Ich …“

Kilian nickte zu seiner linken Seite hin: „Das, was du da so verkrampft unter dem Umhang trägst?“

Philipp erstarrte.

„Nun schau nicht so entsetzt. Ich weiß, dass du keine Kanzleigeheimnisse verraten darfst. Musst mir nicht sagen, was du tun sollst.“ Verständnisvoll breitete er die Arme aus. „Auch im Marstall gibt es wegen der bevorstehenden Abreise des Hofstaates viel zu tun.“ Er schlug ihm leicht auf den Arm. Dann schmunzelte er. „Hei, Freund, alles klar. Ich gehe voraus und unterhalte dein Weib so lange.“ Sein verschmitztes, scherzhaftes Lächeln brachte Philipp fast um den Verstand.

Trotzdem nickte er wie zur Zustimmung, brachte ein schmales Lächeln zuwege, sagte: „Ja.“

Kilian machte einen Schritt von ihm weg, sah die Gasse hinunter, fragte nun doch, indem er zu ihm zurücksah: „Ist sie dabei?“

Falls Appel im „Schwert“ war, würde sie sich ebenso wie Kilian wundern, wo Hedwig bliebe.

„Ich glaube schon“, antwortete Philipp und hätte sich am liebsten die Zunge abgebissen. Er konnte es nicht fassen, dass er seinem Freund ins Gesicht log. Er wollte das nicht. Aber er log noch einmal, indem er mit abschließendem Unterton sagte: „Ich komme, sobald ich kann.“

Kilian lächelte ihm zu, verschmitzt und in Feierlaune. „Wir werden uns die Zeit schon vertreiben. Doch sieh zu, dass du dich sputest! Einem wie mir können die Weiber nicht lange widerstehen!“

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9783941408364
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