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Читать книгу: «Das Buch des Kurfürsten», страница 5

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„Du nimmst, was vereinbart ist.“

„Es war schwer, Weib samt Säugling aus der Stadt zu schaffen. Erhöhte Gefahr erhöht die Besoldung.“

Ein trockener Knall, den Hedwig nicht einordnen konnte, folgte diesem Ausruf.

„Zwanzig Gulden mehr oder ich mach nicht weiter.“

„Der Teufel soll dich … Du wagst es?!“

Hedwig beugte sich vor, sprach leise auf Juli ein, die anhaltend greinte. Ihre Tochter war sonst ein ruhiges Kind. Dass sie jetzt weinte, lag nicht nur daran, dass sie zu lange eingewickelt gewesen war. Es lag an der Kälte, der sie ausgesetzt war, es lag an den lauten Männerstimmen, die sie erschreckten, und es lag sicher an der Angst, die sich von ihr, Hedwig, auf das Kind übertrug, dessen war sie gewiss. Mit zitternden Fingern umwickelte sie den Hintern der Kleinen mit dem Leinen, das als Umhüllung für das Wollgewebe gedient hatte.

Die Männer stritten nun lautstark. Hedwig versuchte angestrengt, nicht auf ihre Worte zu hören. Sie umhüllte Julis Oberkörper nur mit der kleinen Ärmelwindel, statt die Ärmchen darin fest einzuwickeln. Die Außenwindel, die als Nächstes käme, war kotverschmutzt, sie nahm stattdessen das Wolltuch, wickelte ihre Tochter locker hinein und verzichtete darauf, sie einzuschnüren. Jetzt blieb ihr nichts anderes übrig, als das neue Wollgewebe zu benutzen. Es war zu viel Tuch. Trotzdem umschlang sie den kleinen Körper mit der gesamten Menge und legte ihre Tochter auf das Schaffell. Langsam verebbte Julis Greinen.

Hedwig wusste nicht, wie sie sich nun verhalten sollte. Die Männer stritten, sie wagte nicht, sich zu rühren, behielt ihre Haltung bei und blieb mit ihnen zugekehrtem Rücken sitzen.

„Du Hundsfott bist nur auf deinen eigenen Vorteil bedacht!“ So dünn und blechern diese Stimme auch klang, jetzt, in Wut, hatte das Blech scharfe Kanten.

„Ach? Und zu wessen Vorteil machen wir das hier?“

„Auch du ziehst Nutzen daraus!“

„Der größer sein könnte. Nehmt’s von ihrem Eheherrn.“

„Wir zahlen die ausgemachte Summe. Punktum.“

Das sagte jener, der später erst hinzugekommen war.

Der Schmierige wollte also mehr Geld. Wofür? Was tat er dort am Feuer, wofür er Geld bekam? Und wofür er dieses viele Licht benötigte?

Ein Schaben, als würde ein Stuhl zurückgeschoben. „Scheiß drauf, ich hab genug von euch beiden Jammerlappen. Ihr sagt Ja oder ich verzieh mich. Seht doch zu, wer euch hilft.“

„Der Teufel soll dich … Du nennst mich nicht Jammerlappen!“ Etwas polterte, Gerangel entstand, Hedwig konnte nicht anders, sie musste den Kopf drehen und hinschauen.

Einer saß an einer offenen Feuerstelle auf einem Faltstuhl. „Hört auf!“, befahl er den beiden anderen, die sich in drohender Haltung gegenüberstanden. Der Größere kehrte ihr den Rücken zu, er hatte den anderen an der Kehle gepackt. Den sah sie halb von vorn, fettiges Haar, flusiges Gekräusel rund ums Kinn, und Augen, zusammengekniffen vor Wut. Er beugte sich nach hinten weg, suchte der Umklammerung auszukommen und stolperte über einen umgefallenen zweiten Faltstuhl. „Nur wenige Gulden mehr, Roth. Trägst sie sonst eh nur zu den Huren.“

Die Bewegung war fließend. Mit dem Ausruf „Hundsfott!“ stieß der Größere den anderen von sich, zog sein Schwert und stieß es ihm in den Leib.

Ungläubig glotzend sank der kleinere Mann zu Boden.

Hedwig schlug die Hand vor den Mund.

Der Dritte sprang auf. „Bist du von Sinnen!“ Er beugte sich über die zu Boden gesunkene Gestalt.

Blankes Entsetzen packte Hedwig. Sie presste Juli an sich und drückte sich in den Schatten der Hüttenwand. Der Niedergestochene hob einen Arm, röchelte, schließlich hustete er. Dann griff er sich mit einer matten Bewegung an die Seite. Blut färbte seine Finger. Der, der ihm das Schwert in die Seite gerammt hatte, stand breitbeinig da und glotzte auf ihn hinab. Hedwig sah ihn halb von hinten, halb von der Seite, viel hellbraunes Leder, Haare, die im Feuerschein rötlich schimmerten. „Das kommt, wenn man den Hals nicht voll genug bekommt, Scheißhaufen!“, stieß er hervor. Er war der mit der blechdünnen Stimme.

Der Dritte sah ihn an, wütend, vorwurfsvoll. Hedwig gewahrte sehr kurzes Haar, ein dünnes, dunkles Bärtchen um Kinn und Lippen. „Unbeherrschter Ochse! Steh nicht rum, hol was zum Verbinden!“, schimpfte er.

Dem am Boden fielen die Augen zu. Diesem Frettchen also gehörte jene widerlich ölige Stimme, die sie zu verabscheuen gelernt hatte. Stumpf vor Angst und Grauen starrte Hedwig hin. War er tot? Da drehte der Hellbraune sich um, kam auf sie zu. Hedwig hielt den Atem an. „Her mit dem Tuch!“

Mit zitternden Fingern kam sie seinem Befehl nach, wickelte es von Julis kleinem Körper. „Bitte!“, flehte sie, doch ihr versagte die Stimme. Juli würde erfrieren, wenn er ihr das warme Tuch nähme. Der Mann beugte sich herab. Mit grober Gleichgültigkeit riss er das Kind aus dem Gewebe, da ihre Finger zu langsam waren. Als sie die Brutalität sah, mit der er Juli einen Schlag verpasste, da begriff sie, wie taub und tot vor Pein, dass sie verloren war, dass ihr Leben und das ihrer Tochter keinen Pfifferling wert war, denn wenn der schon so toll war, seinen Kumpan niederzustechen, der ihm behilflich gewesen war – welches Schicksal erwartete dann erst sie?

Herbst 1595


Acht

Philipp hing schräg auf dem Stuhl in der Kammer, die Hedwig stolz „unsere Wohnkammer“ nannte.

Aber Hedwig war nicht da. Juli war nicht da.

Er starrte in die rußende Flamme des Talglichts auf dem Tisch. Sein Mantel war feucht, er zurrte ihn dennoch enger, kreuzte die Arme vor der Brust, aber warm wurde ihm nicht. Seine Finger waren eisig. Die Stube war kalt, dunkel. Er hatte kein Feuer in dem gusseisernen Gluttiegel entzündet.

Wie lange saß er hier, zerschlagen und niedergeschlagen? Er wusste es nicht. Jegliches Zeitgefühl war ihm abhandengekommen.

Knarren im Gebälk, er hörte das rasche Trippeln der Ratte im Fachwerk, die sie noch immer nicht gefangen hatten. Sonst war es still, auch Wittib Ringeler, die Vermieterin, plärrte unten im Erdgeschoss noch nicht mit ihren Kindern herum. Kein Gerufe, Gezänk und Gemach vom Jakober Tor her.

Philipp hatte kein Wort für das Gefühl, das ihm in Mark und Bein brannte. Wut? Es war mehr als das. Zorn? Es war mehr als Zorn. Hilflosigkeit? Ja. Schmerz? Grenzenlos und allumfassend, wie er ihn nie für möglich gehalten hätte. Julis Quengeln und Schmatzen, ihr Gebrabbel, das er frühmorgens vernahm, im Halbschlaf noch, wenn Hedwig sie stillte und leise mit ihr sprach. Das zufriedene Grunzen seiner Tochter. Nebenan in der Schlafkammer stand das Körbchen aus Flechtwerk, in das sie sonst gebettet lag. Leer. Wo war seine Tochter?

Philipp spürte, wie der Kloß im Hals sich löste. Er schluckte. Neigte den Kopf, bedeckte die Augen mit der Hand und weinte. Er konnte nichts dagegen tun. Es überwältigte ihn.

Nach einer Weile hob er den Arm und wischte sich den Rotz von der Nase. Nachdenken. Eine ungeheure Anstrengung – und doch rumpelte es in seinem Kopf, unablässig, sprangen die Gedanken von hier nach da, gaukelten Hoffnung, sprachen von Irrtum, rissen ihn in Verzweiflung, zeigten ihm wieder und wieder den Ablauf des gestrigen Abends, schimpften ihn einen Tor, einen Narren. Er dachte daran, wie er zu sich gekommen war, weil seine Zähne hart aufeinanderschlugen. Er hatte im Schnee gelegen, sein Schädel hatte gebrummt, ihm war übel gewesen. Er hatte nicht gewusst, wo er war. Um ihn her Dunkelheit und Kälte, auf seinem Mantel eine weiße Schneedecke. Die Erinnerung war gekommen, als er benommen auf eine tönerne Flasche starrte, die neben ihm im Schnee stand. Diesen Augenblick des jähen Begreifens, das ihn durchfahren hatte wie ein zischender Pfeil, würde er niemals in seinem Leben wieder vergessen können. Er hatte die Tücke begriffen, die hinter des Finsterlings Handeln steckte: Sollte man ihn finden, würde die Flasche hinlänglich Zeugnis davon ablegen, dass er am Martinsabend einen über den Durst getrunken und es nicht mehr nach Hause geschafft hatte.

Aufgerappelt hatte er sich. Hatte die Flasche im hohen Bogen von sich geworfen. War heimgeschlichen, im Mund einen bitteren Geschmack, im Schädel ein infernalisches Hämmern. Die Hölle konnte nicht schlimmer sein als das, was er durchlitt, auch wenn dies ein gotteslästerlicher Gedanke sein mochte.

Nachdenken. Konnte, sollte er sich jemandem anvertrauen? Er lachte trocken auf, als ihm einfiel, dass die Kanzleiordnung gebot, dass die Kanzleiverwandten untereinander „kein Gebolder oder ungeschicktes Wort gebrauchen“ und sich vor allem gegenseitig mit Rat und Tat helfen sollten. Wer konnte ihm helfen? Nickel gewiss nicht. Der umsichtige, ältere Kanzleiknecht Conradt Hofman? Der Vizekanzler? Doch was sollten sie tun? Wo Hedwig und Juli suchen? Vielleicht waren sie bereits … Nein! Das durfte er nicht denken! Er verscheuchte diese Angst. Nein, niemand konnte ihm helfen. Er musste warten. Morgen Mittag würde er das Buch erhalten und es zurückbringen in die Kanzlei. Danach würde er Hedwig und Juli zurückbekommen.

Das Morgengeläut der Franziskanerkirche ließ ihn hochschrecken, ein Röcheln kam aus seiner Kehle. Er war tatsächlich eingeschlafen!

Das Talglicht war ausgegangen. Durch das Hinterfenster schimmerte das Leuchten schneebedeckter Dächer im Novemberdunkel.

Die Knie knackten, als er sich reckte. Harndruck. Sein Nacken schmerzte, er langte hin, spürte die Beule am Hinterkopf. Sein Mund war trocken, er schluckte mehrmals, ein Kratzen im Hals. Er befühlte die geschwollene Wange und sog die Luft ein. Sie verfärbte sich wohl schon. Er stand vom Stuhl auf. Sämtliche Gliedmaßen taten weh. Außer die Zehen, die spürte er in den nassen Stiefeln schon gar nicht mehr. Er bewegte sie. Eine Qual. Er ächzte. Humpelte die zwei Schritte zum Geschirrschrank, nahm den Krug Wasser, trank in großen Schlucken. Eiskalt rann die Flüssigkeit seine Kehle hinab.

Die Glocken läuteten, im Erdgeschoss schlug die Tür, dass das kleine Haus zitterte. Schneegedämpftes Pferdegetrappel. Männerstimmen von fern. Heidelberg erwachte.

Er musste nun zum Haus Belier.

Dann in die Kanzlei. Tun, als ob nichts wäre.

Er sah sich in der Stube um. Ohne Hedwig war sie ohne Leben. Tisch, Stühle, eine hohe Truhe, ein Wandbord, der dreiarmige Kerzenständer, den sie eines Tages angeschleppt hatte und um dessentwillen er sie gescholten hatte, denn sie benutzten ja kaum Kerzen, schon gar nicht drei auf einmal. Jetzt tat es ihm leid. Dabei hatte er ihr selber Geschenke mitgebracht in den eineinhalb Jahren, die er sie in Reilingen besucht hatte, während er in Schwetzingen bei Onkel Dietmar und später bereits in Heidelberg lebte. Die kleine Lammfigur aus Horn, weil sie Tiere so gerne mochte. Eine Neckarmuschel an einem Lederband, die sie nicht hatte tragen können, solange ihr Vater ihre Verbindung nicht erlaubte, weshalb er sich heimlich mit ihr traf. Sie hatten so viel auf sich genommen! Nie mehr würde er sie ausschelten. Sie sollte nur wohlbehalten zu ihm zurückkommen.

Bevor die Verzweiflung ihn erneut übermannte, straffte er entschlossen die Schultern. Es half ja nichts. Er musste los. Also trat er zur Waschschüssel, die auf der Truhe stand, wusch sich mit dem kalten Wasser das Gesicht, spülte den Mund aus, um den bitteren Geschmack loszuwerden. Griff mit beiden Händen ins Haar, strich es mit gespreizten Fingern nach hinten. Dann öffnete er die Tür. Vermaledeit! Bestimmt zwei Zoll hoch lag der Schnee auf der Außentreppe.

Hell schimmerte der Hof unter ihm in der Dunkelheit. Wittib Ringelers Ältester war dabei, den Weg zum Abtritt frei zu fegen. Dick eingemummt war er und sah nicht auf, obwohl das Knarren der Tür zu hören war, als Philipp sie schloss. Eine Laterne mit einer brennenden, dicken Kerze hing an einem kahlen Ast des alten Apfelbaumes neben dem Abtritt.

Philipp überlegte, ob er die Stiegen frei fegen sollte, als seine Vermieterin durch die Küchentür am Fuß der Treppe in den schmalen Hof kam. Wittib Ringeler, den Schopf zur Gänze von einem zweifarbig gestreiften, im Nacken geknoteten Tuch eingehüllt, dessen langes Ende ihr im Rücken wie eine Schärpe auf dem wollenen Umhang lag, trug den Nachttopf in der einen, einen Eimer in der anderen Hand. Sie gab acht, dass sie nicht ausrutschte und stapfte mit festen, vorsichtigen Schritten gen Abtritt.

Als spüre sie ihn im Rücken, wandte sie den Kopf und sah zu ihm herauf. „Ach, aber da seid Ihr ja, Herr Eichhorn!“, rief sie. „Wo wart Ihr gestern Abend? Ihr wolltet doch das Mädchen zu mir bringen.“

Jäh kam Philipp dies zu Bewusstsein. Sie hatten Juli bei Wittib Ringeler lassen wollen, während sie mit den Freunden feierten. Was nun?

Ihr Sohn hielt mit Kehren inne, sah herauf und grüßte. Er hatte eine schmale Gasse frei gefegt, keine halbe Rute mehr bis zum Bretterverschlag, hinter dem der Abtritt lag.

Philipp erwiderte den Gruß. Zum Henker, er konnte nicht wie angewurzelt hier oben stehen bleiben. Außerdem musste er dringend pissen. Vorsichtig stapfte er die schneebedeckten Stufen hinab. Was sollte er sagen?

Er war kaum am Fuß der Treppe angelangt, da hob Wittib Ringeler beide Arme leicht an und klagte: „Nicht mal den Unrat kann man ungehindert in die Schissgrube werfen, Herr Eichhorn! All der Schnee! Gott sei Dank ist der Nachttopf nicht eingefroren. Einen Guten Morgen auch!“

Den wünschte er ihr nun ebenso. Philipp hatte nichts gegen seine Vermieterin. Sie war freundlich und hilfsbereit, hatte Hedwig sowohl während der Schwangerschaft als auch nach der Geburt beigestanden, und jeden Montag und Mittwoch kochte sie für ihn und Hedwig mit, da sie keine Küche hatten in ihren beiden Räumen, die einst von der gesamten Familie Ringeler bewohnt worden waren. Aber seit der Mann vor acht Jahren gestorben war, musste die Witwe schauen, wie sie mit ihren sechs Kindern zurechtkam. Gleichwohl hielt sie den Mietzins moderat und schlug für das Essen lediglich zehn Kreuzer drauf.

Deshalb war es Philipp gerade jetzt eine Qual, sie zu treffen. Er war voller Sorgen und hatte Angst, dass man sie ihm anmerkte. Er suchte sich daher so knapp wie möglich zu halten, indem er raunte: „Hättet Ihr etwas dagegen, wenn ich rasch zuerst …?“ Er nickte gen Abtritt.

„Geht nur, geht!“, rief die Witwe. „Mach Platz, Lutz. Lass Herrn Eichhorn durch!“

Philipp hastete an dem aufgeschossenen Burschen vorbei.

Dann saß er auf dem Balken über der Schissgrube und stöhnte leise. Der Arsch wollte ihm anfrieren, so kalt war das. Er stützte die Ellbogen auf die Knie, barg den Kopf in den Händen. Vermaledeit, vermaledeit, vermaledeit. Musste sie ihm ausgerechnet heute Morgen über den Weg laufen. Wegen des Schnees war sie vermutlich später dran als sonst. Was sollte er ihr sagen, sie würde eine Antwort erwarten. Na, Dummkopf, das Gleiche wie Hedwigs Brotherrn. Ihm grauste davor. Er musste zu Beliers. Er musste einen ganzen vermaledeiten Tag warten, bis er Hedwig wiedersähe. Die Sorge zerfraß ihn. Draußen die Kehrgeräusche, Lutz’ Schnaufen. Er nahm einen der kleinen Lappen, die in einem Holzkästchen neben dem Balken lagen, und wischte sich sauber. Diese Eigenart der Wittib Ringeler schätzte er. So sie nicht selbst welche hatte, kaufte sie von Lumpensammlern alte Lappen, schnitt sie in kleine Stücke und sorgte dafür, dass der Vorrat neben dem Schissbalken nicht ausging. Auch wenn die Lappen nun starr und kalt waren, mochte Philipp das angenehme Gefühl von Sauberkeit. Als er fertig war, nahm er eine Kelle voll Kalk aus dem Eimer und warf ihn in die Grube hinunter. Auch darauf legte die Witwe Wert. Es mindere den Gestank, und wenn alle das täten, hingen die Fäulnis-Ausdünstungen nicht so sehr in den Gassen der Stadt, war die Witwe sich sicher.

Er ging hinaus.

Wittib Ringeler wartete am Apfelbaum. Nachttopf und Eimer hatte sie neben sich abgestellt, aus beiden stank es. Sie schaute ihrem Sohn zu. Der machte noch zwei, drei letzte Schlenker mit dem Besen, richtete sich auf und sagte: „Fertig.“

Philipp wollte ein Danke murmeln und sich vorbeistehlen, da fasste ihn Wittib Ringeler am Arm, neigte den Kopf näher zu ihm und raunte verschwörerisch: „Jägermeister Simmel hat mir eine schöne Lammschulter angeboten … Jaja, geh du schon rein“, richtete sie sich armwedelnd an ihren Sohn, ehe sie sich wieder Philipp zuwandte. „Günstig, wenn Ihr versteht. Da hab ich nicht Nein gesagt.“ Sie lächelte listig. Lutz stapfte davon. „Mit Rüben und Kraut gibt das ein kräftiges Süppchen, was? Freut Euch auf heute Abend!“

Heute Abend?

Mittwoch!

Philipp nahm sich zusammen. Doch noch ehe er „Sicher“ murmeln konnte, zeigte sich die Witwe bestürzt, sie reckte den Kopf näher an sein Gesicht, ihre Hand fuhr zum Mund und sie rief: „Aber was ist denn mit Eurer Wange? Ihr habt Euch doch nicht geprügelt gestern Abend?“

„Nein, nein“, entgegnete er rasch.

Sie hob die kräftigen dunklen Augenbrauen, die über der Nasenwurzel fast zusammenstießen. „Das sollt Ihr auch nicht!“ Sie nahm wieder Abstand, winkte tadelnd mit dem Zeigefinger und ergänzte: „Auch zu viel Wein ist nicht gut.“

„Ich …“, stammelte Philipp, der nicht wusste, was er sagen, wie er dieser Besorgnis auskommen sollte.

„Schon gut. Ich dringe nicht weiter in Euch. Ihr seid jung.“ Sie lächelte. Philipp wollte sich endlich erleichtert mit einem Gruß verabschieden, als die Augenbrauen sich erneut hoben und Wittib Ringeler, indem ihr Blick zur Treppe huschte, fragte: „Hab die Kleine noch nicht gehört. Ist doch alles in Ordnung? Ihr habt sie wohl doch mitgenommen gestern Abend?“

Das war nicht anders zu erwarten gewesen, er hatte es befürchtet. Was nun? Er sah die Dellen und Grübchen im Kinn seiner Vermieterin. Er kniff die Augen zusammen. Wand sich innerlich. Es half ja nichts. Er würde Beliers die gleiche Lüge erzählen müssen. Wie er es verabscheute!

„Hedwig ist gestern Abend nach Reilingen aufgebrochen. Ihre Mutter ist krank.“

„Herr im Himmel, hilf! Es ist doch nichts Schlimmes? Und Ihr habt das arme Ding allein ziehen lassen?“

Grundgütiger, daran hatte er nicht gedacht. Und jetzt? Er sah Wittib Ringelers Blick und erkannte, dass sie eher vermutete, er und Hedwig hätten einen handfesten Krach hinter sich und das Mädchen wäre in die Arme ihrer Familie geeilt. Aber all das war ja nicht so, weder das eine noch das andere stimmte, und am liebsten hätte er ihr dies ins Gesicht geschrien. Er wollte das hier nicht. Er wagte kaum, sie anzusehen. Er hatte Angst, sie könne ihm im Gesicht ablesen, dass er log. Wie er es hasste, dies tun zu müssen! Wie er hasste, dass es letztlich doch so einfach ging: „Nein, ihr Vater sandte einen Boten, mit dem ging sie mit. Ich hab beide zum Speyerer Tor begleitet“, hörte er sich sagen.

„Ach weh, und Euer kleines Mädchen? Sie hätte sie doch bei mir lassen können, nicht dass sie auch noch krank wird! Die Amme ist ja nicht weit. Ach je, der Herr erbarme sich, dass sie die Reise wohlbehalten übersteht! Na, kräftig ist sie ja.“

Philipp nickte unbestimmt.

„Ich dachte mir gleich, Ihr saht so bekümmert drein. Ich sah sofort, dass Euch etwas drückt.“ Sie tätschelte seinen Arm. „Eine Schüssel warme Grütze, Herr Eichhorn, bevor Ihr in die Kanzlei geht?“

Er zwang sich zu einem Lächeln, lehnte die Grütze dankend ab, er würde sich vorne beim Bäcker an Heiliggeist eine Brezel kaufen.

Ihre Hand lag noch immer auf seinem Arm, ihr Blick war forschend, sie schien nach den rechten Worten zu suchen. Und tatsächlich, nachdrücklich sagte sie: „Das wird schon wieder, sorgt Euch nicht.“ Es war nicht klar, ob sie die kranke Mutter oder den vermeintlichen Ehekrach meinte.

Philipp wollte nur noch weg. Mit einer Geste deutete er an, dass er nun aber aufbrechen müsse.

„Sicher, sicher, geht nur“, nickte sie. „Ihr müsst aufschließen, Feuer anmachen. Ich weiß, ich weiß, nun geht!“ Damit entließ ihn die gute Frau, die letztlich nichts weniger getan hatte, als ihrer nachbarschaftlichen Pflicht nachzukommen, weshalb ihn seine Lügen umso mehr schmerzten.

Er eilte durch die Pforte, die zur Gasse hinausführte – und prallte mit Kilian zusammen.

„Holla Freund, Guten Morgen!“, rief dieser. „Will eben zu dir.“

Vermaledeit, jetzt auch noch Kilian!

Sein Freund wohnte in der Jakober Vorstadt, sein Weg zum Marstall führte ihn schnurstracks an ihrem Haus vorbei.

„Haben auf euch gewartet gestern. Wurdest du so lange gebraucht?“

Weiterlügen. Am liebsten hätte er Kilian in die Stube gebeten, ihm anvertraut, in welch unsagbarer Not er sich befand.

„Auch Hedwig … Aber was ist nur? Ich seh dir an, etwas stimmt nicht. Ist etwas geschehen? Juli ist doch nicht krank?“ Kilians Miene, die zunächst ein wenig ungehalten gewirkt hatte, drückte nun neugierige Anteilnahme aus.

Philipp schüttelte den Kopf. „Nein. Aber Hedwigs Mutter. Hedwig brach gestern Abend nach Reilingen auf.“

„Wie das? Du sagtest doch, sie sei bereits in der Schenke.“

Verflucht! Wie sollte er sich da herauswinden? Gott, steh mir bei, auch wenn es beim Lügen ist.

„Und du ließest sie allein gehen?“, setzte Kilian ungläubig nach.

„Nein, nein.“ Philipp suchte nach einer Erklärung. Und wunderte sich fast nicht mehr, wie leicht sie ihm auch diesmal über die Lippen kam. „Nach meinem Amtsgang eilte ich noch einmal nach Hause, weiß gar nicht mehr warum. Hedwig hat dort auf mich gewartet, zusammen mit dem Boten, den ihr Vater sandte. Der begleitete sie.“

„Und du?“

„Was meinst du?“ War Kilian misstrauisch? Philipp wagte nicht, ihm offen ins Gesicht zu sehen. Wie er sich für seine Lügerei schämte.

„Hättest doch noch ins ‚Schwert‘ kommen können.“

Philipp machte eine unbestimmte Geste. „Ich ging bis zum Rabenstein mit. Auf dem Rückweg blieb ich am Speyerer Tor bei den Wächtern hängen. Denen hatte wer zwei Kannen Roten ausgegeben.“ Er zuckte die Schultern.

„Ah“, machte Kilian.

Nahm er ihm das krumm? Er konnte es nicht einschätzen. Gott, Kilian, wenn du wüsstest …

„Was hat ihre Mutter?“

Wieder zuckte Philipp die Schultern. „Etwas mit Fieber, man weiß es nicht genau.“

Verständnisvoll nickte Kilian. Plötzlich kniff er die Augen zusammen, sein Gesicht kam näher. „Herrje, was ist mit deiner Backe?“

Er würde ständig darauf angesprochen werden, er hatte sich bereits etwas einfallen lassen. „Ich hab mich gestoßen“, winkte er ab.

Kilian setzte ein schiefes Grinsen auf. „Der Rote schmeckte wohl. Und die Straßen sind rutschig.“ Er hieb ihm auf die Schulter. „War jedenfalls lustig, kannst dir ja denken. Conradt spielte den Zink, Ochsenkuhn die Sackpfeife, ein Flötist noch dazu – es ging heiter her. Ha, und zu später Stunde sang so ein schwarzer Vogel welsche Lieder.“

Als Philipp fragend schaute, ergänzte Kilian: „Der war gänzlich schwarz gewandet, wie ein Magister. Rabenschwarzes Haar dazu und Augen wie ein Muselmann, ansonsten bleich wie Milch. Sprach so gut wie nichts. Nach ’ner Kanne aber hob er an zu singen, keiner verstand sein Gekrähe, aber alle johlten mit.“ Kilian grinste.

„Da hab ich ja was verpasst“, sagte Philipp müde.

Kilian wurde ernst. „Hattest ja andere Sorgen. Was ist, willst du in der Mittagspause nicht zum Marstall kommen? Gut dreihundert Pferde sind schon da. Täglich werden es mehr. Sollen bis sechshundert werden für den Umzug nach Amberg.“ Er fasste Philipp am Arm. „Das wird dich ablenken.“

„Ich weiß nicht recht.“ Er fürchtete sich vor dem Zusammensein. Er würde weiterlügen müssen. Und andererseits hätte er sich Kilian nur zu gerne anvertraut.

„Denk drüber nach. Ich werde dort sein.“

Sie mussten einem Ochsenkarren Platz machen, der vom Jakober Tor heranrumpelte, drückten sich an die Hauswand. Kilian deutete die Gasse hinunter und sagte: „Lass uns das Stück zusammen gehen.“

Philipp nickte und trottete neben seinem Freund gen Marktplatz.

Später stand er in der Mauernische von Heiliggeist, stopfte den letzten Krümel Brezel in den Mund und schaute hinüber zum Belierschen Haus. Kaum dreißig Schritte bis zum Tor, sie erschienen ihm wie dreitausend.

Er hatte eigentlich keine Zeit mehr, lange zu überlegen. Heiliggeist schlug sechs, er musste in die Kanzlei. Und doch stand er hier und starrte auf die etwa vier Ruten breite Hausfassade, als könnten ihm Erkerbrüstung, Bogenfenster, Ornamente und Reliefs des neuen Gebäudes bei seinem Vorhaben irgendwie behilflich sein. Aber das konnten sie nicht. Er musste selbst entscheiden, ob er zum Hausherrn persönlich ginge oder ob er es dabei bewenden ließe, dem Knecht Bescheid zu geben. In Anbetracht der Zeit und weil es weniger unangenehm war, musste wohl Letzteres genügen. Doch noch waren die vertikal ausschwenkbaren Klappläden, die als Verkaufstische für die Tuche dienten, an den eingemauerten Eisenlaschen verriegelt und nicht heruntergelassen. Auch das Hofportal war noch geschlossen. Es blieb ihm also nichts anderes übrig, als zu pochen. Er schaute noch einmal an der Vorderseite des Hauses empor und erkannte im zweiten Obergeschoss einen blassen Lichtschein. Er gab sich einen Ruck und ging auf das Tor zu. Hob den Arm und klopfte fest.

Sofort wurde geöffnet. Doch nicht Velten, dem Knecht des Hauses, sah er sich gegenüber, sondern Appel, im Wollumhang und mit zwei Eimern in den Händen. Sie war auf dem Weg zum Wasserholen. Sofort dachte er daran, dass Kilian ihm glücklich erzählt hatte, dass Appel gestern Abend tatsächlich gekommen war und bei ihnen gesessen hatte. Sie war wirklich schön, er verstand Kilian. Augenbrauen wie mit einem Pinselstrich hingeschwungen. Augen wie zwei schwarze Kirschen. Runde Lippen und ein Lächeln, das ihr erstarb, als sie ihn erkannte. „Ist etwas mit Hedwig?“, fragte sie sofort. „Oder Juli?“ Atemwölkchen vor ihren Lippen, duftig wie Schmetterlinge.

„Nein, den …“ Er stockte. „Den beiden geht’s gut“, hatte er sagen wollen. Aber jäh wurde ihm bewusst, dass er nicht wusste, wie es ihnen ging. Er wusste nicht einmal, ob sie noch am Leben waren. Er kämpfte die aufsteigende Angst nieder, die Verzweiflung. Rang mit sich. „Appel“, sagte er, und die Betonung, die er in ihren Namen legte, ließ sie aufmerken und ihn noch aufmerksamer anschauen. „Sag den Beliers, Hedwig musste nach Reilingen. Ihre Mutter ist krank und man schickte nach ihr. Bitte gib den Herrschaften Bescheid. Ich muss zur Kanzlei, bin ohnehin schon spät.“

Appel blickte ihn unverwandt an. „Und Juli?“, fragte sie.

„Ist bei ihr. Willst du es ausrichten, Appel?“

Sie nickte, und der Ernst in ihren Augen, die sonst so vorwitzig blickten, verfolgte ihn den gesamten Weg bis zur kurfürstlichen Kanzlei am Fuße des Schlossbergs.

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9783941408364
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