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Читать книгу: «Das Buch des Kurfürsten», страница 6

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Neun

Der Morgen war trüb und grau, wie es einem Novembermorgen anstand. Auf dem Küchentisch flackerte deshalb ein Öllicht. Hausherr Matthias Großhans schob den länglichen Eisenbehälter am Griff ein wenig zur Seite, damit die eineinhalbjährige Sophia nicht drankam. Seine Nichte konnte keine fünf Minuten stillhalten, zappelte auf dem Schoß ihrer Mutter, seiner Schwester Barbara, herum. Was war er froh, dass seine Kinder aus dem heraus waren! Hedwig war bald siebzehn und bereits unter der Haube, sein Sohn Michel fast elf.

Sein Weib Gundel kam mit einem Krug angewärmten Bieres zum Tisch und füllte die Tonbecher. Matthias schob Magister Baumann den ersten hin. Der Lehrer war zeitig aus Hockenheim nach Reilingen herübergekommen, um die morgige Reise nach Heidelberg mit ihnen zu besprechen. Deshalb war auch seine Schwester Barbara mit ihren beiden Stiefsöhnen Cornelius und David da. Der zwölfjährige David schielte augenblicklich neidisch zu seinem fast fünfzehnjährigen Bruder, weil der einen Becher Bier entgegennahm, während er selbst sich mit Milch begnügen musste.

Das wird was geben, dachte Matthias, mit vier heranwachsenden Jungen morgen nach Heidelberg! Sein eigener Sohn Michel, Cornelius und David sowie deren Vetter Sebastian hatten ihm die Ohren vollgejault, seit vor wenigen Tagen die Kunde umgegangen war, dass es in Heidelberg ein fremdländisches Tier zu bestaunen geben würde. Der Herzog von Württemberg gedachte, dem Kurfürsten von der Pfalz durch die Übersendung eines gefangenen Kamels nebst zugehörigem Tataren seine Achtung auszudrücken. Dass der protestantische Württemberger damit ein politisches Zeichen der Verbundsbereitschaft an seinen reformierten Nachbarfürsten sandte, dürfte Friedrich wohl gefallen, da war sich Matthias sicher. Die calvinistische Pfalz brauchte und suchte Verbündete. Und der Erhöhung der Ehre diente es zudem, wenn der übliche Pomp das Volk zusammenlaufen ließe, da Wein und Wecken umsonst ausgegeben würden. Ganz sicher gab es obendrein Wettschießen oder Ringlerennen. Matthias schnaufte durch. So machte man sich lieb Kind mit seinen Untertanen. Und die Herrscher sich gegenseitig. Nun, man würde hinfahren und es sich anschauen, man hatte es den Jungen versprochen, weil ihr Bitten und Betteln nicht nachließ.

„Seit Julianas Taufe im August haben wir sie nicht mehr gesehen, Magister Baumann“, sagte Gundel gerade zu dem Lehrer. „Wir wollen sie mit unserem Besuch überraschen.“

Natürlich war auch das ein Grund für die Reise. Sie wollten die Tochter besuchen, die in der Residenzstadt lebte. Sein Weib war im Sommer zwei Wochen dort gewesen, um der Tochter bei der Geburt beizustehen und ihr im Haushalt zu helfen. Zur Taufe hatte er ein Fest ausgerichtet, wie es üblich war, und war mit seiner Mutter, seiner Schwester und deren Familie nachgereist.

„Ruhig jetzt, Sophia!“, zwang Barbara ihre Tochter zur Ordnung.

Sophia bog und wand sich, wollte runtergelassen werden.

Lehrer Baumann nickte und fragte: „Mit dem Fuhrwerk geht alles klar?“

„Gib sie mir“, sagte Cornelius und streckte die Arme nach seiner Halbschwester aus. „Komm her, Plaggeist!“ Sophia strahlte und streckte ihrerseits die Ärmchen nach ihm aus. Cornelius nahm sie auf seinen Schoß und hielt ihr den Fuchsschwanz hin, den er am Gürtel festgebunden hatte. Damit hatte er sie eine Weile beschäftigt. Barbara lächelte zu den beiden hinüber und sagte: „Ja, Markward wird euch sein Fuhrwerk leihen.“

Markward war ein Freund von Barbaras Ehemann.

Baumann nickte. „Gut, ich komme mit dem Mietpferd herübergeritten, wir treffen uns am Hohen Stein.“

Matthias sagte: „Wir müssen sehr früh los. Wollen wir um die Mittagszeit in Heidelberg sein, sollten wir gegen acht Uhr aufbrechen. Eher früher. Vier Stunden brauchen wir sicher, erst recht bei diesem Schnee!“ Er wandte sich an seine Schwester. „Ich kann das Fuhrwerk heute Abend bei Markward abholen?“

Barbara nickte zustimmend.

„Dann komme ich mit Gundel und Michel morgen früh zu euch. Etwas nach sieben Uhr. Cornelius, nicht dass du dann erst anfängst, den Rappen aufzuzäumen! Du bist mit David und Sebastian bereit!“

Er blickte zu Baumann. „Am Hohen Stein. Halb acht.“

„Gut“, sagte der Lehrer.

„Und denkt an ein Licht. Euer Heimritt, Magister Baumann, wird im Dunkeln stattfinden. – Cornelius?“

„Ja, Oheim Großhans, ich vergesse die Leuchte nicht.“

Matthias nickte zufrieden. „Dann ist alles geschwätzt. Magister Baumann, ich denke, Ihr werdet mit drei Halbwüchsigen fertig beim Heimritt.“

Das meinte er scherzhaft, und der Lehrer verstand es auch so und lächelte.

Cornelius würde seinen Bruder David, Baumann deren Vetter Sebastian mit aufs Pferd nehmen und am Nachmittag den Heimritt antreten. Er selbst würde mit seiner Familie zwei Tage länger in der Stadt bleiben. Gundel wollte Hedwig und Juliana nicht so schnell wieder verlassen und schauen, wo sie ihrer Tochter helfen konnte. Michel wollte unbedingt den Marstall sehen, dieses neue Prachtgebäude, von dem man so viel hörte. Und da Hedwigs Ehemann einen Freund im Marstall hatte, konnte man da sicher etwas abmachen, denn im vergangenen Sommer, als sie zur Taufe in Heidelberg gewesen waren, war dafür keine Zeit mehr geblieben. Na, wenn er ehrlich war, freute er sich selbst auf diese Reise. Auch er wollte seine Tochter samt Enkeltochter wiedersehen. Und ein Erlebnis war die große Stadt allemal, man kam ja nicht alle Tage hin. Und nachdem man gehört hatte, dass der Lehrer Baumann zu seinem Heidelberger Buchhändler wollte, war man rasch einig geworden, den Weg gemeinsam zu machen. Zumal sie jemanden brauchten, der mit den Jungen heimkehren würde, wenn er, Gun-del und Michel noch in der Stadt blieben.

So war nun alles geregelt – morgen in der Früh konnte man also gen Heidelberg aufbrechen.

Zehn

Runde weiße Brüste.

Das war das Bild, das die abgeholzten, schneebedeckten Hügel südöstlich von Heidelberg in ihm wachriefen. Er hatte sie längst hinter sich gelassen, durchstapfte lichten Wald gen Süden, doch weiße Brüste hatte er noch immer im Kopf. Wollüstiger Zeitvertreib an diesem kalten, schneegrauen Morgen. Außerdem waren die Kopfschmerzen so erträglicher. Eindeutig hatte er zu viel gesoffen.

Ryss leckte sich über die Lippen, zog die Kapuze tiefer, brummte mit sich selber. Die hatten aber auch einen Wein hier in der Gegend!

Nefoedd Wen, sogar gesungen hatte er! Lieder seiner Heimat, die er längst vergessen wähnte. Nun, es hatte ja Spaß gemacht. Die jungen Gesellen an seinem Tisch waren leutselig und freundlich gewesen und hatten ausgelassen gefeiert. Jener, der ihm gegenübersaß, hatte ihm immer wieder aufmunternd zugelächelt und ihn letztlich angesprochen. Ob er ein Gelehrter sei, seine schwarze Gewandung ließe darauf schließen? Auch die Färbung in seiner Aussprache, sein fremdländisches Aussehen wiesen auf einen Magister hin? Nein? So hielt er sich also schlicht an die spanische Mode, man sähe ja auch hierzulande viel schwarze Kleidung? Auch nicht, es gefiele ihm lediglich? Diese Pfälzer aber auch, neugierig und einem Schwatz nie abgeneigt. Er hatte ausweichend geantwortet, auch, weil er zuerst nicht hatte einschätzen können, ob der Jüngling etwa ein Auge auf ihn geworfen hatte, etwas, das ihm immer wieder widerfuhr, sein langes schwarzes Haar, seine reine Haut – er gefiel nicht nur den Weibsleuten. Doch dann war ein schönes junges Weib herangekommen, lächelnd und keck, mit Wangen wie Nikolausäpfel, die Haare so schwarz wie seine eigenen, nur dass sich die ihren in munteren kleinen Locken ringelten. Die Augen des Jünglings glänzten mit einem Mal wie die dunklen Trauben der Pfälzer Weinberge im Tau, und er hatte kein Liebesorakel gebraucht, um zu sehen, dass der bis über beide Ohren in die Maid verliebt war. Sie hatten gelacht, sie hatten getändelt, sie hatten getrunken und schließlich gesungen. Man hatte ihn mit einbezogen, ihn ermuntert. Das musste man diesem ach so rechtgläubigen Volk lassen, sie feierten gern und ausgiebig. Hatten ja auch einen Fürsten, der die Lustbarkeiten liebte. Das hatte er unterwegs immer wieder gehört, und als ihm ein englischer Kavalier in Brügge erzählte, der großzügige Hof des jungen Fürsten in der Kurpfalz stehe weithin in gutem Ruf, hatte er beschlossen, hierherzukommen. In Speyer sowie in manch pfälzischem Dorf hatten sie allerdings die Nasen über den Kurfürsten gerümpft. Seine verschwenderische Hofhaltung sei schändlich, desgleichen sein tollkühner Lebenswandel, sein ungezügeltes Jagdgebaren. Allzu oft überspanne er den Bogen seiner Großmannssucht. Statt zu regieren, fröne er kostspieligen Liebhabereien und veranstalte ein Turnier nach dem anderen.

In Frankenthal hingegen war man voll des Lobes über den Herrscher gewesen. Ryss dachte an die Wallonen dort, bei denen er gute Geschäfte gemacht hatte. Wohlhabende Tuchmacher und Teppichwirker. Weber, die ihm, ohne mit den Wimpern zu zucken, seine wunderwirksamen Elixiere abkauften, denn deren Wandteppiche waren weithin gesucht und ihre Geldbeutel entsprechend gefüllt, da sie auch für den Hof des Fürsten arbeiteten. Sowohl sie als auch all die Juweliere, Gold- und Silberschmiede waren Fremde wie er selbst, mit dem Unterschied, dass sie in der Pfalz eine neue Heimat gefunden hatten, während er noch immer umherwanderte, seinem Schicksal folgte, das ihn in die Welt hinaustrieb. Waren jene hier sesshaft geworden zu Bedingungen, die ihren verfolgten Leibern und ihren geplagten Seelen wohltaten, so schien es für seine eigene Seele keinen Trost zu geben, noch immer nicht. O’r argol, jetzt nur nicht in Melancholie abgleiten! Auch hier war nicht alles eitel Sonnenschein, denn auch wenn die neuen Untertanen den hiesigen Fürsten für sein Vorgehen liebten, wussten sie doch, dass es Berechnung war, denn die Pfalz saß wegen der calvinistischen Religion noch immer auf einem gesonderten Ast im Baum des Reiches, und je mehr gleichgläubige Untertanen, desto besser.

Nun, ihm war’s gleich. Er kam zurecht, auch mit der Religion, wenn sie nicht gar zu streng gehandhabt wurde. Und Seelentrost? Nun, den schafften am ehesten eine Ecke im Stall, Kuhgeruch und wärmendes Heu. Er verscheuchte die altbekannten wehmütigen Gedanken und ergab sich von Neuem seiner lüsternen Fantasie: Heranhuschender Lichtschein, eine schüchtern-kecke Stimme, die ihm Brot und Bier anbot und fragte, ob er es auch warm genug habe. Ich wüsste, wie mir noch wärmer würde, meine Schöne, würde er raunen, sie an sich ziehen, was sie willig geschehen ließe. Er würde den weißen Busen streicheln, ihr unter die Röcke gehen, stöhnen würde sie, und er würde ihr den Hals küssen und sie schließlich nehmen.

Ryss spürte seinen Schwanz hart werden und wünschte, diese Fantasie, so oder so ähnlich schon geschehen, würde heute Abend Wirklichkeit werden. Also hieb er seinen Wanderstock in den Schnee und stapfte voran auf dem schmal ausgetretenen Pfad, den Wildspuren säumten. Den Rucksack hatte er wie stets unter dem Wollumhang geschultert. Und wie stets scheuerte der hölzerne Kasten darin an seinem Rücken. Die unterschiedlich großen Beutelchen an seinem Gürtel schwangen mit dem Trinkschlauch im Gleichmaß seiner Schritte.

Schnee rieselte von einem Ast. Eine Wildtaube gurrte.

Langsam schwanden die Kopfschmerzen. Duw Mawr, war ja nicht jedes Mittelchen, das er mit sich herumschleppte, wirkungslos. Rosenöl zum Beispiel brauchte er ohnehin für die Weiber. Es half auch gegen Kopfgrimmen. Und den Wirt der Herberge hatte er in aller Herrgottsfrühe genötigt, ihm ein Stück rohes Rindfleisch beizuschaffen, das er sich ins Genick legte. Nicht umsonst stand er in der Nachfolge Rhiwallons und seiner Söhne Cadwgan, Gruffydd und Einion, der Heiler von Myddfai, die diese Vorgehensweise bei einem Brummschädel empfahlen. Der viele Wein und sein unseliger Bettgenosse hatten ihm eine unruhige Nacht beschert. Er schlief ohnehin nicht sonderlich gut, doch diesen Stinkbolzen hätte er keine Minute länger ertragen. Nefoedd Wen! Der furzte im Schlaf und knirschte und schmatzte wie zehne zusammen. Da hatte auch sein altbewährtes Mittel nicht geholfen, die Anisbeutelchen, die er sich unter die Nase band, um erholsamen Schlaf zu fördern. Daher hatte er die Stadt zeitig im trüben Morgenlicht gen Osten verlassen. Ursprünglich hatte er bei den vier Steinacher Burgen den Anfang machen wollen. Aber nachdem er erfahren hatte, dass die Herren der Burgen, die Landschaden von Steinach, seit Generationen brav in Diensten der Heidelberger Fürsten standen, war er davon abgekommen. Die kannten die pfälzische Landesordnung sicher noch besser als jeder Bürger.

Also hatte er den Neckar nach Schlierbach hinter sich gelassen und war gen Süden weitergewandert. Dank der Auskünfte seiner Zechgenossen wusste er in etwa, dass er sich Richtung Südosten halten musste. Kraichgau hieß die Region, in der er sein Glück versuchen wollte. Dort lagen Ritterdörfer und Rittergüter versprenkelt inmitten der pfälzischen Lande. Dort würde er sein Glück machen, dort würde ein Mägdlein seiner harren.

Ryss hob den Kopf, weil das Gehen plötzlich anstrengender wurde und er hörte, wie er keuchte. Er sah die Atemwolken, die er in die grauweiße Luft entließ. Er war einen Hügel hinaufgewandert, umgeben von dichter werdendem Wald. Weiß behangen die kahlen Bäume, hier und da noch ein braunes Blatt, das an einem dürren Ast im Wind schaukelte.

Stille um ihn her. Allein auf Wanderschaft. Wie immer.

So ist mein Los, dachte Ryss. Hab’s mir selber zuzuschreiben. Die Melancholie wollte wiederkommen, und er eilte sich, sie zu verdrängen, indem er sich erneut einen wohligen Abend ausmalte. Er wusste, dass er an Mädchen dachte, um an jene eine nicht denken zu müssen. Und so stapfte er weiter und hoffte, dass er bis Mittag einen Flecken oder Weiler erreichen würde, wo er etwas essen und sich aufwärmen konnte.

„Er ist tot!“

Sofort war Hedwig hellwach.

Trotz des Grauens, trotz der Angst war sie eingeschlafen und nur einmal erwacht, um Juli zu stillen.

Das rasselnde Atmen des Sterbenden, anfangs noch übertönt vom wütenden Zanken der beiden anderen, hatte aufgehört. Sie rührte sich nicht. Sah nicht auf. Kauerte in ihrer Ecke, barg Juli in ihren Armen und verhielt sich ruhig.

„Du jähzorniger Idiot! Und jetzt?!“

„Was willst du hören?“

„Gott, ich hätte mich niemals darauf einlassen sollen.“

Ein Auflachen, es klang wie auf die Gasse gekipptes Schmutzwasser. „Und dann? Immer sich weiter kränken lassen? Auf eine neue Anmaßung harren? Die Zeit ist günstig. All der Trubel in Stadt, Kanzlei und Schloss!“

„Was nützt es uns – nun?“

„Lass mich nachdenken.“

„Dann denke, wie du pisst, Vetter! Zügig!“

„Zunächst müssen wir ihn fortschaffen.“

„Dass wir ihn nicht hier liegen lassen können, weiß ich selbst.“

„Bring ihn nach Wiesenbach. Der Lange wird nicht viel fragen.“

Du hast den angeschleppt! Du schaffst ihn auch fort!“

„Ich kenn dich doch, Vetter. Hier sitzen und warten ist deine Sache nicht.“

Ein Scheit Holz wurde aufs Feuer geworfen.

„Ich hab zudem die Lösung.“

Schweigen. Knistern des Feuers. Draußen rief ein Waldvogel.

„Der Knecht.“

„Den anschleppen?“

„Ist nicht gut, wenn noch mehr Bescheid wissen. Der wartet ohnehin auf dich. Wird brav mitkommen, da du ihm in Aussicht stellst, seine Holde zu sehen.“

Meinten sie Philipp? Sie wollten Philipp holen?

„Wir hätten es gleich selber tun sollen.“

„Greine nicht. Schaff den Hundsfott weg und den Knecht bei.“

Geraume Zeit sagte keiner etwas.

Dann: „Sagen wir, ich reite. Dass du sie nicht anrührst! Und lass das Kind zufrieden!“

Sofort pochte ihr Herz schneller vor Angst. Ausgeliefert einem Mörder. Was mochte ihm einfallen, wenn er allein mit ihr war?

Der Wald war dichter geworden. Kein Gehöft hinter der nächsten Biegung, der nächsten Baumgruppe. Er hatte Rast gemacht und die Brezeln verspeist, mit denen er sich in Heidelberg wohlweislich eingedeckt hatte. Seit einer halben Stunde etwa wanderte er wieder. Folgte noch immer einem ausgetretenen Pfad, auch wenn er bisher keiner Menschenseele begegnet war und nur seine eigenen Schritte im Schnee knirschen hörte. Ryss fragte sich, ob es nicht doch klüger gewesen wäre, noch in Heidelberg zu bleiben. Die jungen Männer gestern Abend hatten von einem Tataren erzählt, der morgen in die Stadt einziehen würde. Von nah und fern käme Volk, um das zu sehen. Er hätte womöglich doch gute Geschäfte gemacht, wenn er sich fernab aller Gesetzeshüter hielte? Ach was, sagte er sich, wo viel Volk, da auch viele Aufpasser. Es war besser gewesen, weiterzuziehen. Auch wenn seine Stiefel inzwischen durchnässt waren und seine Hände trotz seiner wollenen Pulswärmer rot gefroren. Er hatte vorhin überlegt, ein Feuer anzuzünden, es aber gelassen. Er wollte nicht so lange verweilen. Wollte zügig vorankommen. Brüste lockten. Vielleicht eine heiße Suppe.

Ryss blieb abrupt stehen. Das Knirschen seiner Schritte verstummte, die plötzliche Stille rauschte in seinen Ohren.

Rauch? War das Rauch, was er da roch?

Endlich ein Gehöft?

Er spähte durch die schwarzbraunen Stämme. Nach links. Nach rechts. Stapfte weiter. Schmunzelte über sich selbst, weil er merkte, dass er sich über Begegnung freuen würde. Keine Seele seit Stunden, der man zumindest ein „Guten Morgen“ hätte zurufen können. Wo waren die Pfälzer denn alle?

Da sah er Spuren, die links vom Pfad Löcher in den Schnee gestanzt hatten. Er blieb stehen und betrachtete sie. Pferdespuren? Ein Hirsch? Er sah in die Richtung, in die sie führten. Sie verliefen sich im Unterholz. Ob dort eine Ansiedlung lag? Er drehte den Kopf und sah auf den Pfad, den er weitergehen würde. So oder so nur Wald weit und breit. Ob er es hier versuchen sollte?

Und dann, eindeutig: Rauchgeruch. Ganz sicher. Ein warmes Herdfeuer. Die steifen Glieder aufwärmen. Ein Becher heißer Würzwein vielleicht. Seine Füße liefen von selbst, wadentief sank er im Schnee ein.

Nach einigen Minuten blieb er erneut stehen. Ein Kind schrie. Ein sehr kleines Kind, ein Säugling noch.

Also lebte dort wirklich wer.

Munter stapfte er voran.

O’r argol, das Kind schrie sich ja die Seele aus dem Leib! Es wollte sich gar nicht beruhigen. Jetzt zeterte auch noch ein Weib. Und dazu eine Männerstimme, die zornig Befehle spie. Herrje, in einen Zwist mochte er nicht hineingeraten. Das war selten ratsam. Besser man mischte sich nicht in die Belange anderer Leute ein.

Da verstummte das Schreien.

Kurz darauf erspähte er eine Hütte. Aufgetaucht aus dem Nichts. Sie war schwer auszumachen. Eingezwängt zwischen Stämmen und Büschen, windschief und winzig. Ryss blieb stehen. Er äugte hinüber. Männerstimmen drangen heraus. Und das Kind hob wieder zu greinen an. Er verharrte. Das Reisen hatte ihn vorsichtig gemacht. Man war besser auf der Hut. Umkehren? Aber eine warme Suppe … Die Tür schepperte mit dumpfem Knirschen auf, zwei Männer kamen heraus.

Ryss handelte unwillkürlich. In der Sekunde, da er begriff, dass sie einen Toten zwischen sich schleppten, machte er einen Satz hinter den nächsten Baumstamm. Er erfasste noch die Gleichzeitigkeit, mit der alles geschah, bevor er sich für seine Ungeschicktheit verfluchte: Seine Bewegung war zu rasch gewesen, es knackte und knarzte, als er umknickte, das Gleichgewicht verlor, stürzte und heiser aufschrie, weil ihm die Kanten seines Kastens in die Rippen stachen. Schnee rieselte auf ihn herab, die Männer ruckten die Köpfe in seine Richtung. Sie ließen den Toten fallen wie einen Mehlsack und stürmten mit grimmiger Entschlossenheit auf ihn zu.

„Dass dich der Teufel schände, was ist da drin?“

Der mit der roten Nase und der dünnen Stimme kniete neben seinem Rucksack und hielt ihm das bauchige Fläschchen aus grünem Waldglas hin. Der zweite Mann, der gepflegter aussah, stand daneben und ließ ihn nicht aus den Augen.

Ryss lag am Boden, eine Körperlänge von der offenen Feuerstelle entfernt. Er bewegte die Arme, die man ihm auf dem Rücken gebunden hatte, und verzog missfällig das Gesicht. „Getrocknete Mausköpfe“, antwortete er gleichmütig und hoffte, dass man nicht hörte, dass ihm das Herz im Halse schlug. Er verwünschte seine Tölpelhaftigheit. Ließ sich von diesen beiden Kalbsköpfen gefangen nehmen. Mit Genugtuung sah er zu, wie Rotnase das Glas von sich weg hielt und ungläubig darauf starrte, wobei er die schräg stehenden Augen zusammenkniff, dass die Haut der Unterlider schmale Wulste warf. Er sah grobschlächtig aus. Rote strähnige Borsten wie ein Ire, die dazu passende rote Knollennase, fleischige Lippen. Ein roter Kinnbart von gut zwei Zoll Länge und zerfranst wie bei einem Ziegenbock, zu dem das hellbraune Lederwams passte, das er über einem Lederhemd trug. Ein Haudrauf, wenn man ihn fragte.

„Was verschlägt dich in diese abgeschiedene Ecke?“, fragte der, der stand. Sein Mantel war aus gutem Wollstoff, wie er ihn bei den Wallonen gesehen hatte. Er hielt Stulpenhandschuhe in der Hand und schlug damit immer wieder auf die Innenfläche der anderen Hand. Er hatte sehr kurz geschorenes braunes Haar, einen dünnen Oberlippenbart, schmale Lippen, einen senkrechten Bartstrich zum Kinn, der in einen dürftigen braunen Kinnbart mündete. Verwirrend war, dass er in den Augen des Mannes eine Art melancholischer Trauer las, die ihn eigentümlich an die eigene erinnerte.

„Ich habe mich verirrt.“ Ryss’ Herz klopfte. Neben der Hüttentür, keine drei Schritte entfernt, lag die Leiche eines Mannes wie ein hingeworfener Sack. Schweinepisse und Teufelsdreck – der war keines natürlichen Todes gestorben! Das Blut an seiner Seite sprach eine deutliche Sprache. Und was hatte es mit dem Weib auf sich? Auf einer dünnen Strohschütte hinter ihm kauerte ein verängstigtes Mädchen, das einen Säugling in den Armen hielt. Sie gab keinen Mucks von sich. Gehörte sie einem der beiden Misthaufen?

Der Stehende kickte ihm die Stiefelspitze in die Seite. Ryss zuckte von ihm weg.

„Wer bist du? Und was ist das für eine Färbung in deiner Aussprache?“

„Nur ein umherziehender Krämer, Herr.“

Die beiden wechselten einen Blick.

Er deutete mit dem Kinn zum Glas, das Rotnase neben sich am Boden abgestellt hatte, und sagte leichthin: „Ich biete vielerlei Hilfliches an. Die Mausköpfe, sie erleichtern das Zahnen einem Kind. Nichts für Euch, nehme ich an.“

„Mach dich nicht lustig, Milchgesicht! Außerdem heißt es hilfreich.“ Rotnases Stimme schepperte dünn. Sie passte nicht zu diesem verschlagenen Rohling.

„Ich meinte nur, Herr, Ihr selbst braucht ihn nicht, so Ihr jedoch habt ein zahnendes Kind, ich empfehle Euch, ihn um den Hals zu binden dem Kind. Mein Ehrenwort, jede Maus sprang noch putzfidel umher, ehe ich ihr den Kopf abbiss.“

„Erzähl keinen Scheiß!“

„Das tue ich nicht, Herr. Ich handelte ehrlos, würde ich die Köpfe abkaufen dem erstbesten Bettler, von dem ich annehmen muss, dass er zuerst tötete die Maus, bevor er den Kopf abschnitt. Das wäre unwirksam und daher unlauter und daher ich verrichte die Schmutzarbeit selbst und beiße den lebenden Mäusen die Kö…“

„Quatsch mich nicht zu.“

Aber er horchte auf! Ryss äugte zu dem Stehenden, nickte dann zu dem Toten hin, bemühte sich um einen unterwürfigen Ton, gab sich dienstbar und bemerkte bedauernd: „Wäre ich früher zu Euch gefunden, hätte ich sicher helfen können Eurem armen Verwandten. Ich habe Mittel gegen mancherlei Gebrechen.“ Nahmen sie ihm ab, was er damit andeutete? Dass er einen gewaltsamen Tod nicht in Betracht zog? Wohl kaum. Es war ihm ein Gräuel, Rotnase zuzusehen, der Tiegel und Säckchen aus seinem Rucksack klaubte, den Kasten hervorholte und ihn öffnete. Er enthielt Fächer, damit zerbrechliche Dinge nicht kaputtgingen. Beide Männer starrten argwöhnisch auf das Gewirr aus Ton- und Glasgefäßen.

„Was ist das?“, fragte Rotnase und hob ein Gläschen hoch.

„Gummi Arabicum.“

Er schaute fragend, also erklärte Ryss: „Ich mische es mit anderem zu einem Gemenge, um gefeit zu sein gegen Gifte.“

Rotnase feixte – und ließ das Gläschen fallen. Es zerbarst nicht, sondern rollte weg.

Ryss schluckte.

Das nächste Gläschen.

„Pulverisierte Mäuse“, sagte Ryss so gleichgültig wie möglich. In Wahrheit mischte er Staub und Sand und gab vor, es seien pulverisierte Mäuse. „Gegen Fallsucht“, ergänzte er rasch, noch ehe Rotnase fragen konnte.

Diesmal warf der Haudrauf es mit Schwung ins Feuer, wo es mit einem hässlichen Knacken zerbarst.

„Also?“, fragte der, der stand.

„Bitte!“, sagte Ryss und grollte sich selbst für den flehentlichen Ton. Aber sie zerstörten sein Einkommen! Was er in Apotheken oder von Kräuterweibern erwarb, kostete Geld!

„Du bist also zufällig hier?“

Rotnase zurrte ein rotfleckiges Säckchen auf, äugte hinein und warf es dann grinsend ins Feuer. Das waren die getrockneten Wolfsbeeren. Ryss stöhnte auf. „Ja. Ich bin unterwegs nach Süden.“

„Im Winter?“

„Ein Händler wie ich kennt keine Jahreszeiten. Ich brauche auch etwas zu essen im Winter. Zudem – mit Verlaub – ist noch Herbst.“

Rotnase verpasste ihm eine Kopfnuss. „Werd nicht frech, Milchgesicht.“

„Verzeiht“, murmelte Ryss. Er sah, wie sie sich erneut mit Blicken verständigten.

Die Stiefelspitze des Dunkelhaarigen tippte nacheinander einige der umliegenden Gegenstände an. „Tönerne Räucheröfchen, der Fünfstern als glasierte Verzierung. Schmelztiegel, Hahnenkrallen. Und was ist das? Ziegenohren? Ein Krämer? Würzverfälscher wohl eher.“

Rotnase hielt ein Säckchen hoch und schüttelte es. Die Walnüsse darin klapperten. „Dass der Teufel dich schände, Geschäftemacher und Betrüger“, bemerkte er.

„Keineswegs, Herren“, widersprach Ryss und legte Selbstbewusstsein in Stimme und Haltung.

„Kräuter, Öle. Und das hier …“ Die Stiefelspitze trat auf einen mit einer Kordel zusammengehaltenen Bund Flugblätter, die Rezepte und Zaubermaßnahmen enthielten, was man an den Bildern erkennen konnte. „Damit führst du leichtgläubige Menschen hinters Licht.“

„Ich …“

Rotnase hielt ihm sein in schwarzes Leder gebundenes Buch hin, in das er seine Rezepturen und Erfahrungen einzutragen pflegte. Er trug es stets ums rechte Bein gezurrt, und sie hatten es ihm ebenso abgenommen wie seine Beutelchen, als sie ihn nach Waffen durchsuchten. Besonders überlegt waren sie dabei allerdings nicht vorgegangen. Die naheliegendste Stelle hatten sie nicht angetastet. Ryss versuchte, die niedergeschmetterte Miene beizubehalten und sich nicht anmerken zu lassen, dass es ihn anwiderte, dass die dicken Finger mit den schwarzen Nägeln sein geliebtes Buch beschmutzten.

„Verwickelte Verzierungen im schwarzen Leder.“ Er drehte das Buch um und deutete mit dem Finger auf die Rückseite. „Noch einmal der Fünfstern. Und innen drin unverständliche Zeichen und Wörter. Die Zubehöre eines Zauberers, wenn Ihr mich fragt. Herr.“ Er warf das Buch zu den anderen Dingen am Boden.

„Aber Ihr irrt!“ Ryss gab sich empört und zog die Nase hoch. Unverständliche Zeichen und Wörter! Dieser Idiot! Nur weil er selbstverständlich in seiner eigenen Sprache schrieb, die dieser Dummkopf natürlich nicht kannte. Wenn der überhaupt lesen konnte!

„So?“ Der Stehende klang fast belustigt.

Ryss’ Kehle wurde eng, als er sah, wie Rotnase die Hand auf den Schwertknauf legte.

„Lass stecken, Vetter. Er kommt uns wie gerufen. Erspart uns unnötig Weg und Unbill. Und er ist ein Fremder. Wir nehmen ihn.“

Rotnase stieß ein überraschtes Grunzen aus.

„Quacksalber, sagen wir, du wirst uns einen Gefallen tun“, bemerkte der Dunkelhaarige.

Das hieß, dass sie ihn erst einmal nicht kaltmachten. Ryss spürte Erleichterung, auch wenn er Übles ahnte. Er rang sich ein steifes Lächeln ab und erwiderte: „Jederzeit, die Herren, zu Diensten, so es ist nicht unlauter und ich es vermag!“

„Unlauter?! Hirhirhir!“ Rotnases Lachen rasselte dünn. „Unlauter, ich fress dem Ochsen seine Eier! Unlauter!“ So ungestüm, wie er begonnen hatte, war er auch wieder still. Er beugte sich zu ihm herüber, Ryss konnte den üblen Atem des Gesellen riechen, als der ihm drohend langsam Wort für Wort entgegenspie: „Hausierer sind hierzulande keineswegs gut gelitten.“ Er deutete auf die umherliegenden Dinge. „Zauberer auch nicht. Schau dir deinen Mischmasch an. Und dann danke dem Herrn, dass wir dich nicht dem nächsten Büttel ausliefern.“

Ryss schluckte. Das hätte gerade noch gefehlt. Da war er aus diesem Grund aus der Stadt fort, nur, um ausgerechnet mitten im verlassensten Wald auf diese beiden Halunken zu treffen, die ihm damit drohten, ihm genau zu jenem Schicksal zu verhelfen, dem er zu entfliehen gedacht hatte. Oder die ihn umbrachten, wenn er sich nicht geneigt zeigte. „Ich bin sicher, wir kommen überein“, sagte er glatt – und lächelte. Gwae fi! Wie komme ich da wieder heraus?, überlegte er.

„Binde ihn los!“, befahl der Stehende.

Rotnase warf ihm einen warnenden Blick zu. „Keine Dummheiten, verstanden!“

Ryss schnitt eine Grimasse, von der er hoffte, dass sie leutselig und zustimmend aussah, drehte den Oberkörper, sodass der Kerl ihm die Fesseln abnehmen konnte. Er ächzte, als er die Hände nach vorne nahm und sich die Gelenke rieb. Man bedeutete ihm aufzustehen.

Als er es tat, warf er einen raschen Blick in die Ecke, wo zusammengesunken das Mädchen kauerte. Sie sah nicht her.

„Nur so, um Aufschluss zu erlangen“, sagte er beiläufig. „Die Gegenleistung für meinen Gefallen?“

Rotnases Faust schnellte nach vorne, traf ihn hart am Kinn, sein Kopf flog zur Seite, er taumelte rückwärts. Ein erstickter Aufschrei des Mädchens. Ryss spuckte auf den Boden, hielt sich den Kiefer, nickte. „Verstanden“, murmelte er. „Ihr seid gerade nicht so gut bei Kasse, um zu bezahlen mich. Ich habe Verständnis.“

Rotnase packte ihn am Brusteinschnitt seines schwarzen Überhemds.

„Du – quatschst – mich – nicht – dumm, Windhund!“

Beschwichtigend hob Ryss beide Arme.

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ISBN:
9783941408364
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