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V

Rusudans Züge waren zu ernst für ihr Alter. Tanja saß zusammen mit Oskar am Eßtisch der georgischen Familie jenes Bodyguards, der verdächtigt wurde, Komplize beim Attentat auf Guram gewesen zu sein. Ihnen gegenüber hatte Rusudan, eine junge Frau, fast noch ein Mädchen, ihre schmalen Hände auf dem Tisch abgelegt. Hinter ihr stand ihre Mutter. »Seit wann seid Ihr denn in Berlin?«, fragte Tanja.

»Ich bin vor zwei Jahren gekommen.«

»Du allein? Wie alt bist Du denn?«

»Achtzehn.«

»Du warst mit sechzehn allein in Berlin?«

»Für ein Musikstipendium.« Rusudan lächelte Tanja an. »Meine Familie hatte erst keine Visa bekommen.«

Deshalb also der schwarzglänzende Flügel, der Mittelpunkt des Zimmers. Die Familie lebte zu fünft, außer dem Mädchen und seiner Mutter gab es noch einen bettlägerigen Großvater und zwei kleine Brüder, auf drei Zimmern in der Charlottenburger Zillestraße. Die Wohnung war überladen mit plüschigen Stoffen, schweren, dunklen Vorhängen und sehr vielen Sitzgelegenheiten. Am allenfalls mittelgroßen Eßtisch zählte Oskar zwölf Stühle. »Schöner Flügel«, sagte er.

Rusudan nickte. »Eine Leihgabe, damit ich nicht immer zum Üben in die Hochschule muß.«

»Warum wohnt Ihr denn nicht näher dran?«

»Meine Mutter findet es sicherer. Und in Charlottenburg leben viele Georgier.«

Rusudans Mutter folgte dem Gespräch mit Blicken.

»Wir sind hier, weil wir Deine Mutter etwas fragen möchten zu einem Landsmann, der in Berlin zu Gast war.« Tanja sah die Mutter freundlich an. »Er ist verschwunden und wir suchen ihn.«

Rusudan nickte. »Meine Mutter spricht nur Georgisch.«

»Er war Politiker in Eurer Heimat«, sagte Tanja.

Das Mädchen übersetzte leise.

»Dein Vater war für seine Sicherheit verantwortlich.«

Die Frau nickte eifrig und setzte sich neben ihre Tochter.

»Er war Personenschützer«, sagte Rusudan, »und kam bei seiner Arbeit umʼs Leben.«

»Ich weiß«, sagte Tanja. »Es geht um den Tod Deines Vaters.«

Die Mutter sah von Tanja zu ihrer Tochter und redete leise und schnell. Rusudan antwortete kurz.

»Weißt Du, wie Dein Vater starb?«, fragte Tanja.

»Er rettete einem Mann das Leben«, sagte sie, »und verlor seins.«

»Dein Vater wurde verdächtigt, an dem Attentat auf einen Politiker beteiligt gewesen zu sein, den er eigentlich hatte schützen sollen«, sagte Tanja.

Das Mädchen schwieg.

»Übersetzt Du das bitte für Deine Mutter, Rusudan?«

Sie schwieg weiter.

»Der Name des Mannes, der hier in Berlin verschwand«, Tanja sah in das Gesicht der Mutter, »ist Guram Geladse.«

Die Frau schlug die Hände vor das Gesicht.

»Wir sind hier, weil wir wissen möchten, ob Deine Mutter oder jemand, den sie kennt, Kontakt zu ihm hatte.«

Die Frau redete auf ihre Tochter ein.

»Ist das der Mann, dem die linke Hand fehlt?«, fragte Rusudan.

Tanja nickte. Die Mutter ging in den Nebenraum und kehrte mit einem gerahmten Photo wieder, das sie vor Tanja auf den Tisch stellte. Ein junger Mann in Uniform. Dunkel, ernst wie seine Tochter und etwas wild. Die Mutter sprach auf Tanja ein.

»Was sagt sie?«

»Daß mein Vater ein guter Mann war, und daß er niemals Geld genommen hätte, um zuzulassen, daß jemand stirbt.«

Die Frau sprach immer lauter.

»Meine Mutter sagt, sie wurde damals unter Druck gesetzt. Man suchte einen Schuldigen. Und ein toter Personenschützer ist ein guter Sündenbock.« Rusudan saß kerzengerade am Tisch, die Hände im Schoß. Ihr Gesicht zeigte keine Regung.

»Aber hattet ihr nicht viel Geld kurz nach dem Attentat?«

Das Mädchen übersetzte, ihre Mutter schüttelte heftig den Kopf. »Das war nicht unser Geld«, sagte Rusudan. »Plötzlich war es auf dem Konto. Meine Mutter hat es nicht angerührt. Aber es wollte niemand zurück. Also hat sie es der Kirche gegeben.«

Die Mutter faßte ihre Tochter fest an der Schulter und sprach eindringlich auf sie ein. »Niemals hätte sie dieses Blutgeld angenommen, aber die Kirche wird es reinwaschen.«

»Von Geldwäsche verstehen die was«, sagte Oskar.

Tanja strafte ihn mit Blicken. »Fragst Du sie bitte, Rusudan, ob sie Kontakt zu Guram Geladse hatte?«

Die Mutter schüttelte heftig den Kopf. Ein Wortschwall ergoß sich über Tanja.

»Sie wollte diesem Mann, für den mein Vater starb, niemals begegnen.« Rusudan sah Tanja an. »Und auch sonst niemand aus unserer Familie.«

Die Mutter schlug wieder die Hände vor das Gesicht und weinte schluchzend.

Ihre Tochter stand auf und sah Tanja an. »Wir haben niemandem etwas getan«, sagte sie. »Mein Stipendium gibt uns ein besseres Leben.« Sie sah zum Flügel. »Meine Musik hat uns hierher geführt.« Ihr Blick wanderte zu ihrer Mutter und zu Tanja zurück. »Die Welt, aus der wir kommen, ist sehr arm.« Sie streckte den Rücken, hob das Kinn und sah Oskar an. »Wir werden alles tun, bleiben zu dürfen.«

»Wo soll ich bloß anfangen?« Hanna ließ den Lappen sinken und starrte seufzend auf den Berg von angelaufenem Silber. Sie saßen am Eßtisch in Hannas Wohnung. Ihre Mitbewohnerin Grete hatte einen Grundputz ausgerufen, Hanna polierte das Besteck. Die Alte stand am Bügelbrett und spuckte auf die Unterseite eines Vorkriegsbügeleisens. Auf einer Leiter vor dem Fenster saß der Hauswart Gregor und wartete auf den nächsten Vorhang. Gretes Spucke zischte, sie nickte zufrieden, versprühte mit dem Zerstäuber Wassernebel und senkte das Bügeleisen. »Am besten vorne«, sagte sie.

Grete war, nachdem Hannas Mutter verschwunden und ihre Schwestern in die eigenen Leben zurückgekehrt waren, an den Rüdesheimer Platz in die nun vor Leere traurige Wohnung gezogen. Hanna war gerade im zweiten Semester ihres Medizinstudiums gewesen, nicht einmal neunzehn Jahre alt und brauchte Halt. Und für Halt war Grete zuständig. Sie hatte ihr Berufsleben als Lehrerin damit verbracht, in Kreuzberger Kinderhirnen für Ordnung zu sorgen und sie für ihre Heimatstadt Berlin zu öffnen. Es war ihr oft geglückt und ihre Schüler hatten sie geliebt. Noch Jahre nach der Pensionierung wurde sie eingeladen zu Tankstellenpächtern, Versicherungsmaklerinnen, Friseurinnen und Automechanikern, und auf türkischen, bosnischen, kroatischen und urdeutschen Hochzeiten mit Köstlichkeiten abgefüllt. Grete hatte dankbare und hilfsbereite ehemalige Schüler für alle Lebenslagen und in sämtlichen Berliner Berufszweigen.

»Beschreib mir, wie Deine Mutter war«, sagte Jakob.

»Wie sie ist«, korrigierte Hanna.

Es war ein Minenfeld, Hanna nach ihrer verschwundenen Mutter zu fragen. Aber Jakob hatte versprochen, sie zu suchen. Erst hatte er sich in seinem Sterbezimmer zurechtfinden müssen, aber jetzt war es an der Zeit, diesen Liebesdienst anzugehen. Und der Außentermin in dem georgischen Restaurant änderte an seinem Vorhaben gar nichts. Er war offiziell nicht an dem Fall Guram Geladse beteiligt, der gehörte Oskar und Tanja. Jakob dagegen war immer noch in der Wiedereingliederung und vier Tage die Woche Insasse des Archivs, Außenstelle Kellerende. Und jetzt würde er Tilla finden. Er war sich nur nicht sicher, ob das für seine Hanna gut war.

»Ich meine damit nicht, daß sie tot ist«, sagte er sanft. »Um sie suchen zu können, muß ich sie verstehen. Und das geht am besten, wenn Du in Deiner Kindheit anfängst. Wie war sie?«

Hanna lächelte. »Meine Mutter ist eine stolze, lebendige und sehr große Frau. Sie war Professorin an der FU und hat ganz allein sechs Mädchen großgezogen.«

»Also hat sie viel Energie?«

»Mehr als irgendjemand sonst.« Hanna polierte einen Löffel. »Ich weiß gar nicht, wie sie das alles geschafft hat. Wir Mädchen waren ein Hühnerhaufen. Alles war chaotisch, aber es war auch voller Leben und Liebe.«

»Ihre Kraft kommt aus Ostpreußen«, sagte Grete.

Jakob sah sie fragend an.

»Sie ist tief verwurzelt, das hat sie stark gemacht. Ostpreußen ist eine sehr mächtige Heimat«, sagte Grete. »Durch diese Herkunft wurde sie, wer sie ist. Nur wer seinen Mutterboden kennt, die Scholle, aus der er erwachsen ist, kann frei leben.«

Für Hanna waren ihre Mutter und die fünf älteren Schwestern dieser Mutterboden. Bevor sie Berlin als ihre ruppige und pralle Heimat eroberte, hielt die kleine Hanna die Welt für einen Frauenort. Überall Mädchenstimmen, alles plapperte, lachte, schrie, tanzte, sang, raufte miteinander, floh voreinander. Immer kochte irgendjemand, las den anderen etwas vor, schminkte eine Schwester, lackierte deren Nägel. Und über all dem thronte Tilla, machtvoll und stark, die wundervollste Mutter von ganz Berlin. Groß gewachsen und mager, mit lachenden blauen Augen und hohen Wangenknochen. Einer viel zu langen Nase und blondem, von der Sonne ausgebleichtem Haar. So wild, daß sie es immerzu mit Gummis bändigte. Bis sie es eines Tages kurz schnitt und springen ließ, wohin es wollte.

Tilla knisterte vor Lebensfreude und Tatkraft. Sie schien zwölf Hände zu haben, die in Töpfen rührten, über Köpfe strichen, Haare kämmten, Kinder fütterten. Sie blies auf gefüllte Kochlöffel und korrigierte nebenher Vokabeln. Ertrug die ihre dreibeinige Streifenmaus in der Küche spazieren führende Kleine genauso wie die pubertierenden Großen, die ihre Mutter abwechselnd wegstießen oder an ihrer Brust über böse Jungs schluchzten.

Im Flur hingen sechs Pinnwände mit den Terminen der Mädchen, darunter sechs Paar Schuhe wie Orgelpfeifen, dazwischen sechs Jacken an Haken. Sechs Stullenpakete, sechs Äpfel jeden Tag. Sechs Ranzen, sechs Mützen, zwölf Handschuhe.

»Sie war der Mittelpunkt einer Hummelhorde«, sagte Hanna. »Und außerdem noch Botanikprofessorin.«

»Und Euer Vater? Ist er gestorben?«

Grete brachte Hauswart Gregor den nächsten Vorhang und verschwand mit ihrem Bügeleisen in der Küche, um es im Backofen wieder aufzuwärmen.

»Jede von uns hat ihren eigenen Vater. Meine Mutter war eine gewollte Alleinerziehende.«

»Mochte sie keine Männer?«

Grete schlurfte wieder ins Eßzimmer. »Sie war scharf wie ein Rasiermesser.« Sie ließ sich auf einen Stuhl gegenüber Hanna fallen und zog eine Eieruhr auf. »Nur, damit das hier nicht zu idyllisch wird.«

»Willst Du weitererzählen?« Hannas Augenbrauen zogen zu.

Minenfeld dachte Jakob, als er von einer Frau zur anderen sah. Ein eingespieltes Team.

»Wenn Jakob sie richtig kennenlernen will, wäre das vielleicht besser.«

»Du hast sie immer beneidet.«

Kopf einziehen, Jakob.

»Geliebt habe ich sie«, sagte Grete, »wie sich das gehört als beste Freundin. Was mich aber nicht so blind für ihre Fehler gemacht hat wie ihr Nesthäkchen.« Sie strich Hanna über die Hand. »Tilla hat Männer begehrt. Aber als Familienmitglieder, gar als Haushaltsvorstand, hat sie nichts von ihnen gehalten.«

Krachend schoß der Vorhang von der Stange. »ʼtschuldigung«, sagte Gregor.

»Du bist natürlich die Ausnahme von der Regel«, sagte Grete lachend. »Gregor ist unser Mann für alles. Wenn Tilla ihn gekannt hätte, hätte sie ihn sofort geheiratet.«

Gregor war für einen Hauswart ein auffallend zarter Mann. Mit breiten Schultern allerdings und ausgearbeiteten Händen, die jetzt den Vorhang zurück auf die Stange schoben. Jakob dachte an seine Sterbezimmerschreibtischmuskulatur und gelobte Hanteltraining. Spätestens ab nächstem Monat. »Hat Tilla schlechte Erfahrungen mit Männern gemacht?«, fragte er.

»Sie war Kriegskind«, sagte Grete. »Ihre Mutter verstand sich als Künstlerin, war völlig unpraktisch veranlagt, und ihr Vater war nie da, wenn sie ihn gebraucht hat. Das Gut in Ostpreußen mußte Tilla als Heranwachsende im Krieg zusammen mit einem Verwalter führen.«

»Ihr Vater war Soldat?«

»Ihre älteren Brüder. Papa hat sich um den Familienbesitz in Übersee gekümmert. Bis der Adolfspuk vorbei ist, hat er gesagt.«

»Und kam er zurück, als der Spuk seine Heimat verwüstet und Frau und Kinder vertrieben hatte?«

»Da hatte er schon unter zu viele Überseeröcke geschaut. Das sexuelle Vagabundieren liegt in der Familie.«

»Er war krank«, sagte Hanna scharf.

»Richtig, Malaria hat er vorgeschoben.«

»Und dann war er verschollen«, sagte Hanna.

»Liegt auch in der Familie.«

Hannas Augen fauchten.

Grete sah auf ihre Eieruhr und stand auf. »Ich halte dann mal lieber die Klappe, sonst muß ich mir auf meine sehr alten Tage noch eine neue Bleibe suchen.« Sie ging in die Küche.

Hanna schwieg, Jakob tastete sich voran. »Das heißt, Du kennst Deinen Vater gar nicht?«

Sie schüttelte den Kopf. »Wir haben nichts vermißt.«

»Und Eure Väter haben nie versucht, Kontakt zu Euch aufzunehmen?«

»Sie wußten ja nichts von uns. Tilla hat sie auf ihren Auslandsreisen ausgesucht, um sich von ihnen schwängern zu lassen.«

»Eine sehr freie Frau.«

Grete kam zurück. Um die Rechte ein Handtuch gewickeln, blancierte sie das schwere Bügeleisen.

»Ihre Unabhängigkeit war für uns immer ein Vorbild«, sagte Hanna.

»Vorsicht Jakob«, sagte Grete, »jetzt wirdʼs für Dich gefährlich.«

»Sie hat sich nie in ihr Leben hineinreden lassen«, sagte Hanna. »Außer von Ihrer besten Freundin.«

Grete drückte das Bügeleisen auf den nächsten Vorhang. »War auch öfter nötig«, sagte sie mit rauher Stimme.

»Genaugenommen war Grete überhaupt die Einzige, auf die sie gehört hat.«

»Außer, wenn es um Männer ging.«

»Also weißt Du auch nichts …«, Jakob zögerte.

»Über ihre Liebhaber?« Grete grinste. »Erzählt hat sie viel. Alles eigentlich.« Sie nahm den Wasserzerstäuber und sprühte mit Schwung den Vorhang ein. »Aber nicht, wer sie waren, das war ihr ehernes Gesetz.«

»Und als sie verschwand? Hatte sie da gerade jemanden?«

»Sicher«, sagte Grete. »Sie konnte nie lange ohne. Außerdem war das kurz nach Mauerfall, in einer sehr erotischen Zeit.«

Jakob erinnerte sich. Es hatte geknistert, rund um die Uhr. Wer damals nachts schlief, war kein Berliner. Auch er war Mädchen im Vorübergehen begegnet. Die Zeit hatte stillgestanden. Sie lebten alle in einem Vakuum und warteten, daß irgendwann der Alltag zurückkehrte. Fremde Frauen, fremde Gerüche, eine andere Sprache, ein anderes Berlin. Er seufzte.

»Na, Kommissarchen?« Grete gackerte.

Jakob zog sich schweren Herzens aus der Erinnerung. »Ihr wart hier, am 9. November ʼ89?«

Beide Frauen nickten. »Meine Schwestern waren ja deutlich älter und schon Jahre zuvor in alle Welt ausgeflogen«, sagte Hanna.

Grete sah zu Gregor. »Und Du, schweigsamer Hauswart?«

»Auch in Berlin«, sagte Gregor und stieg von der Leiter, um Grete den nächsten Vorhang abzunehmen. »Allerdings kam ich von der anderen Seite der Mauer.«

»Du bist Ossi?«, fragte Hanna.

»Hätte ich jetzt nicht gedacht«, sagte Grete. »Wieso haben wir nie darüber gesprochen?«

Gregor stieg mit dem Vorhang auf die Leiter, seine starken Schultern spannten sich. »Ist lang her.«

»Und, war es für Dich auch erotisch?«

»Grete!«

»Was?«

»Hat etwas gedauert, bis er sich rausgetraut hat«, sagte Gregor.

»Die sind eingelaufen«, sagte Grete.

Gregor drehte sich zu ihr um. »Wer?«

»Komm runter, Ossihauswart, und sieh es Dir an.«

»Mindestens zehn Zentimeter«, sagte Hanna.

Gregor stieg von der Leiter und sah kopfschüttelnd auf die Vorhänge mit Hochwasser.

»Und was machen wir jetzt?«, fragte Hanna.

»Nüscht«, sagte Grete. »Uns dran gewöhnen.«

»Sieht aber schon ein bißchen scheiße aus«, sagte Gregor.

Grete klappte das Bügeleisen zusammen. »Im nächsten Schaltjahr lasse ich den Saum raus. Oder besser, wenn Jakob Tilla gefunden hat, zur Feier des Tages.«

»Sehr witzig«, sagte Hanna.

»War nicht als Witz gemeint. Was glaubst Du, wird er finden, unser Geisterseher? Denn, daß er sie findet, darauf verwette ich meinen schrumpeligen Arsch. Ich nehme doch an, Du hast darüber nachgedacht, als Du ihn gebeten hast, daß er sie für sein Herzblatt sucht?«

»Ich will nur wissen, ob sie mich verlassen hat«, sagte Hanna. »Ob mich meine starke Mutter, der Mittelpunkt unserer Welt, einfach verlassen hat.«

Grete strich ihr über den Kopf. »Ach Kindchen. Und wenn, dann konnte sie nicht anders.«

Hanna sah Jakob an. »Genau das will ich wissen.«

VI

Mathilde Albertine Jolante von Bredow, genannt Tilla, verlor alles, als sie vierzehn war. Der Geschützdonner rückte näher, der polnische Verwalter des elterlichen Gutes in Ostpreußen stand mit ruhelosem Blick neben dem gepackten Wagen und stieg von einem Bein auf das andere.

Sie hatten seit Monaten nichts von Tillas Vater oder ihren älteren Brüdern gehört. Tillas Mutter lief durch die Zimmer und jammerte, man solle ihr sagen, was zu tun sei. Der vollgestopfte Wagen stand mit laufendem Motor dampfend in der Kälte und Tilla entschied sich zur Flucht. Sie wußte nicht, was sie tat, hatte noch keinen Ort und niemanden verlassen und kannte nichts außer ihrer Heimat.

In der nahen Kreisstadt verloren sie ihr Auto an einen Offizier. Der Verwalter kaufte für einen unverschämten Preis ein Pferdefuhrwerk mit eiernden Rädern und einen schielenden steinalten Ackergaul dazu. Das Pferd war ihr Glück. Alle anderen Flüchtlinge verloren ihre, aber der knochige Alte ließ sabbernd den schaukelnden Kopf hängen, wenn schneidige Uniformierte sich ihm näherten. Und er ging nicht einen Schritt, es sei denn, der Verwalter nahm seine Zügel.

Das Pferd blieb ihnen bis zur Reichsgrenze. Dort sank es auf seine steifen Vorderbeine, schnaufte schwer und starb. Der Verwalter segnete Tilla mit polnischen Worten, verbeugte sich vor ihr und ging zurück in seine Heimat.

Sie waren allein bei minus dreißig Grad und sie gingen zu Fuß. Tilla kaufte für all ihre Wertsachen den Handkarren eines Bauern, lud die letzten Habseligkeiten darauf und gab ihn der immer noch jammernden Mutter an die Hand. Sie selbst schnürte sich die ihnen gebliebenen Lebensmittel vor die Brust, den kleinen Bruder auf den Rücken und hieß ihn, seine Arme um ihren Hals zu schlingen.

In der nächsten Nacht nahm ein Mann die Mutter.

In der folgenden verloren sie den kleinen Bruder an die Kälte.

Die Seele der Mutter starb auf dieser Flucht. Sie verlernte zu berühren und sich berühren zu lassen, begegnete den Rest ihres Lebens sich selbst und anderen mit harter, hilfloser Hand.

Drei Monate nach Kriegsende erfuhren sie in Berlin, daß auch die übrigen Söhne den Krieg nicht überlebt hatten. Als Tilla ihrer Mutter die Todesnachricht überbrachte, ging die mit einer Axt auf ihr nun einziges Kind los.

Der herbeigerufene Arzt zuckte wortlos die Schultern, gab eine Spritze und ging.

Tilla verbarg Axt, Messer und Streichhölzer vor der Mutter, schloß sie ein, wenn sie etwas zu essen organisieren mußte und hielt sie zurück, als sie sich am Apfelbaum erhängen wollte. Erst nachdem die Mutter eine Scheibe einschlug und der zurückkehrenden Tilla blutüberströmt mit einer Glasscherbe drohend gegenübertrat, brachte sie sie in eine Klinik.

Jeden Tag nach der Schule fuhr Tilla in die Psychiatrie und hoffte auf Besserung. Nach einem Jahr, in dem sich am Zustand der Gräfin nichts geändert hatte, ging Tilla zu einem Anwalt und fragte, wie sie ihren vermißten Vater für tot erklären könnte. Sie bekam Halbwaisenrente, machte Abitur und begann ein Biologiestudium. Im Sommer nach dem Vordiplom sah sie ihrer Mutter zum letzten Mal dabei zu, wie sie im Aufenthaltsraum sinnlose Gedichtzeilen auf Papierfetzen kritzelte. Am folgenden Morgen zwängte sich Gräfin von Bredow aus einer Dachluke und sprang der aufgehenden Sonne entgegen in den Tod.

Mathilde Albertine Jolante von Bredow, genannt Tilla, verlor ihre Eltern, ihre Geschwister und ihre Heimat, als sie vierzehn war. Und sie schwor sich, zu überleben.

Jakob sah dem Professor zu, wie er versuchte, sich mit dem Programm seines PCs auf eine Sprache zu einigen. Seine Stirn war konzentriert gefaltet, der Mund stand leicht offen.

Tillas früherer Kollege Professor Dr. Schmerkert war in Weiß gekleidet, als wäre er einer von Hannas Krankenhauskollegen. Ein Labormensch, sogar mit weißen Schuhen. Ohne Laborratten allerdings. Kein Getier weit und breit, keine Pflanzen. Jakob erinnerte sich an das gemütliche Bürostübchen des Biologen Werner im Botanischen Museum. Seine Sorgenpüppchen und die Webdecke aus Guatemala auf seinem Stuhl. Bei Professor Schmerkert würde Jakob nie auf die Idee kommen, seine Schuhe abzustreifen. Wie hatte die wilde ostpreußische Tilla hierher gepaßt? Weißer Kunststoff überall, sirrende Festplattenventilatoren, aseptisches Licht aus Neonröhren und Kabelgebirge unter den Tischen.

»Ich habʼs gleich«, sagte Schmerkert. Seine Nase krauste sich, er kniff die Augen zusammen. »Die Testreihe will nicht so wie wir.« Er hackte mit den Fingern auf der Tastatur herum. Jakob betrachtete sein ergrauendes Haar. Der Mauerfall und Tillas Verschwinden waren über zwanzig Jahre her.

Der Professor seufzte. »Das wird heute nichts mehr.« Er wies auf den PC. »Sie wollten etwas über Tilla wissen? Das ist keine Umgebung für sie, lassen Sie uns aufʼs Dach gehen.«

Sie stiegen eine Wendeltreppe hoch auf das Institutsdach. Schotter knirschte unter ihren Schuhen. Es gab eine Bank, dahinter versuchten einige Gräser und Pflanzen am extremen Standort zu überleben. Man sah immerhin den Himmel. »Hat Tilla hier gearbeitet?«, fragte Jakob.

»Schon, aber das sah damals alles ganz anders aus. Die Westberliner FU war eine verschnarchte linke Einrichtung. Wir Biologen haben der Dritten Welt unter die Arme gegriffen und alles zu retten versucht.«

Werner, dachte Jakob. »Und dann fiel die Mauer«, sagte er.

»Die Veränderungen begannen schon vorher durch die aufkommende Gentechnik. Die unsere Gräfin übrigens ablehnte. Sie hatte so eine romantische Ader in der Biologie.«

»Das heißt?«

»Sie hat gern ganz altmodisch Dinge gekreuzt.« Er lachte. »Nicht nur im Beruf. Haben Sie Ihre Töchter gesehen?«

»Ich kenne nur eine.«

»War damals Institutsgespräch, wenn Sie auf Empfängen mit ihrer Schar auftauchte. Regenbogenfamilie würde man heute sagen. Aber alles ihre.«

»Und bei der Arbeit?«

»Hat sie gemendelt. Träumte von irgendwelchen Urrassen, die man nur ausbuddeln müßte. Etwas arg rückwärtsgewandt. Der Flachs war so ein Ding. Hatte wohl mit Ostpreußen zu tun. War ihre Traumpflanze, unerschöpfliche Anwendungsmöglichkeiten. Haben später die Ökos aufgegriffen, vor dem Hanf. Diese knitternden Leinenhemden, das ist Flachs. Aber das war nach Tillas Verschwinden. Hat sie nicht mehr miterlebt.«

»Schade.«

»Ja, zumal sie darüber geforscht hat, wie man Flachs produktiv anbauen kann. Ist ziemlich empfindlich, das Zeug.«

»Erinnern Sie sich an ihre damaligen Projekte?«

»Oh ja, sie hat sich für eine Samenbank in der DDR interessiert.« Er lachte. »Jetzt gucken Sie nicht so gekringelt, ich rede von Pflanzensamen. Die DDR hat in ihrer Abschottung einiges probiert. Zusammen mit den Bruderstaaten. Bau auf, bau auf, Sie wissen schon. Die Arbeiterklasse will was zum Futtern haben.«

»Hat sie nach Mauerfall dort Kontakte geknüpft?«

»Sie kannten Tilla nicht. Sie war sehr schnell und sehr überzeugend. Sie ist einfach hingefahren in die DDR, gleich nachdem sie von der Samenbank gehört hatte. Sachsen-Anhalt. Das Institut gibt es noch. Vielleicht hat die Stasi sie abgegriffen.«

»Warum das denn?«

»Na ja, die DDR war noch zu, als sie zum ersten Mal hin ist. Und natürlich ist sie nicht mit leeren Händen zum Westberliner Klassenfeind zurückgekehrt. Sie wissen ja, sie hatte einen Hang zu fremdem Samen.«

»Sie hat die DDR beklaut?«

»Diebstahl von Staatseigentum, wenn auch zu wissenschaftlichen, also hehren Zwecken. Aber fragen Sie mich nicht, was genau sie da geklaut hat. Ich interessiere mich nicht so für Botanik. Außerdem schrieb ich gerade meine Doktorarbeit.«

»Wohl nicht bei Tilla?«

Er schüttelte den Kopf. »Mein Fach ist die Gentechnik. Das war zwar damals ein sehr übersichtliches Feld, erforderte aber hohe Konzentration. Vom Mauerfall habe ich nicht viel mitbekommen.«

»Können Sie mir die neue Adresse der Samenbank geben?«

»Das ist die alte. Nur mit einem Haufen Westgeld aufgebrezelt. Sollte mich nicht wundern, Sie finden dort noch ein paar der alten Leute. Ist eine Gegend, in der sich nicht viel ändert. Nördliches Harzvorland. War ein ziemlicher Skandal damals in der DDR. Da rollten wohl auch Köpfe, weil einige der Gräfin zu treuherzig alle Türen geöffnet haben.«

»Waren vielleicht froh, daß sich jemand aus dem Westen für ihre Forschung interessiert.«

»Und Tilla war wirklich sehr gewinnend. Erst recht, wenn sie etwas wollte.«

»Und was hat sie erforscht mit den geklauten Samen?«

»Gar nichts, dafür hatte sie ihre Doktoranden. Alles Ökos. Ein Projekt zur Rückzüchtung alter Pflanzenarten. Ach ja, und da gab es eine Verbindung nach Niedersachsen. Tilla war öfter dort in der zweiten Hälfte der Achtziger. Auf einem Bauernhof. Bio, glaube ich, irgendwas mit Sternen oder Sonne kam im Namen vor. Das waren echte Seelenverwandte. Mehlige Äpfel, winzige Pflaumen, mehltauanfälliges Getreide, so was. Schrecklich.«

»Sie sind wirklich kein Botaniker.«

»Da lobe ich mir meine Gensequenzen. Sauber, kalkulierbar und kein Ungeziefer weit und breit.«

»Die Adresse in Niedersachsen …«

»Finde ich auch noch. Aber ob es die noch gibt, weiß ich nicht. Die in Sachsen-Anhalt sind mit der Zeit gegangen, aber die Ökos? Obwohl ich wegen Tillas Verschwinden eher auf die Stasi tippe. Sie ist vorsichtshalber nach dem Skandal nicht mehr über die Transitstrecke nach Westdeutschland gefahren, sondern nach Hannover geflogen. Aber man hört ja oft, die hätten die Leute entführt. Oder nach Mauerfall wollte sich irgendwer von denen rächen, die ihretwegen in Sachsen-Anhalt ihren Job verloren haben an der Samenfront. Wer weiß, das Harzvorland ist eine sehr spezielle Gegend.«

Jakob patschte mit nassen Füßen von der Dusche direkt zur Wohnungstür, drückte auf den Haustürsummer und öffnete sie. Bis sein Besuch oben war, hatte er genug Zeit, das Duschwasser abzurubbeln. Nicht genug Zeit sich anzuziehen.

»Du hast ja immer noch so einen Adoniskörper.« Oskar drückte Jakob an seine Brust, es quatschte auf seinem Hemd. »Verdammt, Du bist ja naß.« Oskar hielt seinen Freund eine Armlänge entfernt fest. »Aber der Keller hat Dir bisher noch nicht sichtbar geschadet.«

Jakob grinste schief.

»Und halt das Handtuch um Deine Hüften schön fest.«

Jakob lachte. »Komm endlich rein, Du Schwätzer. Was macht die überirdische Kripoarbeit?«

Oskar streifte die Schuhe ab und ging ins Wohnzimmer. »Dreht sich im Kreis, weil der beste Kripokommissar Berlins seine Tage in Gesellschaft von Schimmelsporen und Kellerasselpipi verbringt.«

Jakob hustete.

»Angeber.« Oskar ließ sich auf die Couch fallen.

»Willste Wein?«

Oskar winkte ab. »Hab noch keinen Feierabend. Focke hat uns eine russische Razzia eingebrockt. Lächerlich, irgendein Schmieröl wird es ihnen längst gesteckt haben. Keine Ahnung, wen er damit beeindrucken will.«

»Die Medien?«

»Das müßte dann ohne Bildchen sein. Sein Auge ist noch grün-violett. Kommt im Fernsehen nicht so gut.«

»Also biste nur auf einen Sprung da?«

»Du sollst noch mal an den Georgierfall ran. Guck nicht so kraus, kriegst nur die Rosine.« Oskar zwinkerte. »Wir haben ein Problem mit der rassigen Tochter. Sie springt uns ständig an, es ginge ihrem Vater schlecht, wir müßten ihn finden.« Oskar verdrehte die Augen.

»Wart ihr denn schon bei dem Russen, dem Vater ihres Sohnes?«

»Der ist ʼne ganz heiße Nummer in der Berliner Unterwelt. Hat eine riesige Akte bei uns, wir ackern uns gerade durch. Tanja und ich wollen gut vorbereitet zu ihm. Bei dem Schwiegersohn ist es nicht sicher, ob es Guram Geladse überhaupt noch geht. Glaube nicht, daß Jurij Iwanow Geduld für eine Geiselnahme hat.«

»Dann ist Alikas Angst um ihren Vater berechtigt.«

»Gut, daß Du so viel Verständnis für sie hast. Der Grund, warum ich hier auf Deiner Couch sitze, ist nämlich«, er senkte den Kopf und sah Jakob schräg von unten an, »sie will mit Dir reden. Nur mit Dir. Du würdest sie verstehen, Du hättest eine Verbindung zu ihr und deshalb würdest Du ihren Vater finden. Wie machst Du das, Alter?« Oskar schüttelte den Kopf. »Hast so gut wie nichts gesagt in ihrer georgischen Boulettenbude, saßt da wie ein Beutel Falschgeld. Als könntest Du es nicht erwarten, endlich wieder wegzukommen. Und was sagt die schöne Alika? Ihr habt eine Verbindung.«

»Das müßt Ihr ohne mich machen.«

»Wieso?«

»Ich habe keine Zeit.«

»Spinnst Du? Deine Kellerasseln können warten.«

»Falsch. Meine drei Tage diese Woche sind um. Ich habe jetzt vier Tage frei. Und die nutze ich, um Hannas Mutter zu suchen.«

»Das kann auch warten. Alika hat …«

»Das wartet sicher nicht.«

»Was soll das Alter? Dieser Fall ist Deine Chance aus dem Keller. Mach bloß keine Zicken.«

Jakob stand auf, nahm die Gießkanne und goß seine Pflanzen. »Ich habe Hanna versprochen, ihre Mutter zu suchen. Das ist sehr wichtig für Hanna. Und Hanna ist wichtig für mich.«

»Die ist seit über zwanzig Jahren futsch, da wird es auf einen Tag mehr nicht ankommen.«

Jakob goß schweigend die Pflanzen. Oskar sah ihm dabei zu. »Was rennst Du so durch die Wohnung? Hast Du neuerdings ein Problem mit der Prostata?«

»Die Blumen sind durstig.«

Jakob holte frisches Wasser. Als er zurückkam, stand Oskar in der Tür. Er nahm ihm die Kanne ab und führte ihn zur Couch. »Was ist los?«

Jakob sah aus dem Fenster.

»Komm zurück, Geisterseher. Ich rede mit Dir.« Oskar tätschelte ihm den nackten Oberschenkel. »Sieh mich an, mein Freund.« Jakobs Kopf drehte sich in Zeitlupe. »So istʼs fein. Und jetzt erzählst Du direkt in Oskars Visage, wo das Problem ist.«

»Ich will nicht und ich kann nicht.«

»Du bist verknallt.« Oskar sprang auf. »Du bist in Alika verknallt. Ich fasse es nicht.« Oskar schlug mit der Faust an die Wand. Jakob zuckte zusammen. »Hast Du keine anderen Probleme?«

Jakob schwieg.

»Verdammte Scheiße.« Jetzt lief Oskar durch das Zimmer, immer von einer Bücherwand zur nächsten. »Nicht, daß es mich was angeht, aber war Hanna nicht eben noch die Liebe Deines Lebens?«

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22 декабря 2023
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