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II

Hauptkommissar Oskar Blum wich Terminen mit seinem Chef Kriminalrat Fockemeyer so lange aus wie möglich. Doch dieses Mal hatte die Sekretärin ihn und seine junge Kollegin Tanja Wehland persönlich abgeholt und versprochen, es erwarte sie eine Überraschung. Was bei Focke nichts Gutes verhieß.

Oskar Blum war gebürtiger Neuköllner. Die rauhe Herkunft hatte ihm einen gelassenen Umgang mit Niederlagen und kompakte Unerschütterlichkeit mit auf den Weg gegeben. Beides war ihm auf seinem hindernisreichen Weg zu den Berliner Mordermittlern in die Keithstraße nützlich gewesen.

Wenn etwas aus dem Ruder lief, griff er zu, war sich für nichts zu schade, hängte niemanden hin, besuchte kranke Kollegen und alte im Ruhestand. Niemals murrte er über Dienstpläne, war im Einsatz ein verläßlicher Partner, gedachte der Geburts- und Ehrentage, lud zu Currywürsten ein, teilte Stullen und Thermoskannen. Solange man Humor hatte und nichts Ungesetzliches tat, auf beiden Seiten der Kriposchranke, war Oskar Blum ein echter Kumpel.

Er hatte sein gesamtes Leben in Berlin verbracht und wollte, daß das auch so blieb. Sich immer wieder neu in seiner sich ununterbrochen verändernden Heimatstadt zurechtzufinden, fand er aufregend genug. Und bis er dereinst die Familiengrabstelle auf dem Friedhof in der Hermannstraße beziehen würde, gab es innerhalb der Stadtgrenzen noch viel zu entdecken, er mußte die Bürgersteige von New York nicht unter seine Sohlen nehmen und brauchte keine Uckermark.

Nach Tanjas Klopfen warteten sie wie üblich lange auf Kriminalrat Fockemeyers Antwort. Oskar stieß endlich die Tür auf und sah die von der Sekretärin angekündigte Überraschung. Ein tiefblau blühendes Veilchen schmückte Fockes linkes Auge. Auf der Nase prangte ein großes Pflaster, die linke Hand war geschient, die aufgeplatzte Oberlippe monströs geschwollen. Kriminalrat Fockemeyer schien sich auf einem Neuköllner Spielplatz geprügelt zu haben. Und im Gegensatz zu Oskar wußte er offensichtlich nicht, wie man dem Kampf mit einem deutlich überlegenen Gegner auswich.

»Ich weiß, wie ich aussehe. Kein Wort, sonst landen Sie beide im Archiv.«

»Geht nicht«, sagte Oskar und plumpste auf den Stuhl, »da sitzt schon der Kollege Hagedorn.«

Jakob Hagedorn war Oskar Blums Freund, und er war seine Achillesferse. Der struppige Neuköllner Bodenbrüter hatte den Paradiesvogel, der in die Keithstraße flatterte wie ein Wesen von einem anderen Stern, vom ersten Tag an geliebt. Jakob wußte nicht gleich alles besser, hatte keine vorgestanzten Lösungen parat, sondern fragte nach und wartete ab. Kriminalhauptkommissar Hagedorn war lang wie eine Bohnenstange, trug eine verträumte altmodische Brille, und er hatte studiert.

Sah mit seinem gründelnden Blick in die Menschen hinein und knöpfte sie auf. Dachte viel und redete wenig. Stieg durch den Wald oder die Straßen der Stadt, vergaß dabei in strömendem Regen seinen Mantel, regelmäßig sein Handy, grundsätzlich den Dienstausweis und leider auch die Geburtstage der Kollegen. Er war anders und allein das war eine Provokation für jeden mittelmäßigen Beamten. Seine Augen waren zu warm und unverschämt, sein Gang zu entspannt, sein Schlag bei Frauen unheimlich, und er war zu erfolgreich als Kriminaler.

Manchmal stöhnte Oskar innerlich, wenn Jakob mal wieder eine Frau ansah, als sei sie die Wiedergeburt der Jungfrau Maria oder mit einem Verdächtigen redete, als sei der sein einziger Bruder. Jakobs Ich-Welt-Grenze hatte ein riesengroßes Loch. Er war den Menschen nah, kannte keine Distanz, und durch das Grenzloch polterten ungefragt Ganoven, jede Menge Mordopfer, einige Täter, eine hübsche Ladung knackiger Frauen und ab und an ein Brandenburger Wolf.

Auf einem Neuköllner Spielplatz hätte der wehrlose Jakob hoffnungslos den Kürzeren gezogen. Aber vielleicht hätten sich auch alle tätowierten Brüllaffen um ihn versammelt, wären lammfromm auf den Boden gesunken und hätten ihm, dem großen Mann, der sich zu ihnen hinunterbeugte und sie verstand, ihre wilden Leben erzählt.

Es war egal, ob Oskar Blum, der Neuköllner Currywurstverdrücker, verstand, was Jakob umtrieb, warum er sich immer wieder in andere Seelen vertiefen mußte und dadurch kein Fettnäpfchen ausließ. Er liebte diesen lattenlangen Träumer, und er war vom ersten Aufeinandertreffen bis zum Familiengrab sein bester Freund.

Die Kollegen dagegen erkannten in Jakob den Anderen, empfanden ihn als Bedrohung ihrer seit dem Mittelalter bewährten Ermittlungsmethoden, rückten gegen den Fremdling zusammen und warteten auf einen Fehler.

Als Jakob schließlich beim Einsatz in einer Weddinger Oberschule erst die geladene Dienstwaffe einem Geiselnehmer überließ und dann in seinen ersten epileptischen Anfall stürzte, stießen sie den Kranken und Verunsicherten in den Abgrund. Erst wurde er suspendiert, dann vor Gericht wegen Unterschlagung von Beweismaterial angeklagt. Kriminalrat Fockemeyer war dabei die treibende Kraft im Hintergrund gewesen.

Als Jakob freigesprochen wurde und zurückkehrte, immer noch zu groß, zu intelligent, mit denselben gründelnden Augen und jetzt auch noch ein Fallsüchtiger, verbannte Focke ihn in den Keller, zu den archivierten Akten, weit weg von den Kollegen und der eigentlichen Arbeit.

Tanja saß vor dem Schreibtisch des Kriminalrats und bemühte sich, angesichts der Fratze, zu der russische Fäuste Fockes Gesicht gemacht hatten, ernst zu bleiben.

»Ich habe einen Fall für Sie«, sagte der Kriminalrat. »Mit Priorität. Woran arbeiten Sie zur Zeit eigentlich?«

»Wieder am Weihnachtsfall«, sagte Tanja.

»Sehr gut, offene Fälle verderben die Statistik. Habe ich gar nicht verstanden, warum das damals so schwer war. Ist schließlich am Fest der Liebe ein überschaubarer Täterkreis.«

»Kollege Hagedorn fand einen neuen Aspekt«, sagte Oskar.

Focke lief rot an. »Der ist in der Wiedereingliederung. Was mischt der sich in den operativen Betrieb ein?«

»Hat er ja nicht, der Fall lag im Archiv.«

»Es war das Lametta«, sagte Tanja. »Niemand hat es vermißt.«

»Das was?« Das blaue Auge und die dicke Oberlippe ließen Focke nicht intelligenter aussehen.

»Der Flitterkram am Weihnachtsbaum«, sagte Oskar.

»Den benutzt doch kein Mensch mehr.«

»Die Tegeler schon.«

»Zum Ersticken«, sagte Tanja. »Deshalb hat es ja am Weihnachtsbaum gefehlt.«

»Sie konnten es nicht mehr aufhängen«, sagte Oskar.

»Nachdem sie Oma damit umgebracht hatten.«

»Mit Lametta?«, fragte Focke.

»Sie haben ihr den Mund damit vollgestopft, sie hat es in Panik eingeatmet und ist daran erstickt.«

»Nicht zu fassen.«

»Wir haben auf Hagedorns Rat hin Dr. Cumloosen gebeten, nachzuobduzieren. Tief in der Lunge fand er was.«

»Und die Kollegen haben ein Kissen gesucht«, sagte Focke.

»Hat allen das Weihnachtsfest versaut, das unauffindbare Ding«, sagte Oskar.

»Ich erinnere mich, so viele Überstunden, sah nicht gut aus.« Focke schüttelte den Kopf. »Auch noch für einen ungelösten Fall.«

»Hagedorn hat ihn gelöst«, sagte Tanja.

»Es war der Sohn«, sagte Oskar. »Aber wir brauchen noch das Geständnis.«

»Warum?«

»Hagedorn hat nur das Opfer als Geist gesehen. Und den Sohn, wie er das Lametta aus ihrem Mund geholt hat. Und dann unterʼs Bett damit.«

»Geister?« Fockes Stimme kippte. »Geht das wieder los?«

Es waren nicht nur Jakobs gründelnde Augen, seine Streifzüge durch die Stadt und nicht nur die Epilepsie. Jakob Hagedorns Ich-Welt-Grenze überstiegen auch regelmäßig die Geister Ermordeter. Ob das was mit seinem in Unordnung geratenen Gehirn oder seinen zappelnden Gliedern zu tun hatte, wußte Oskar nicht. Angefangen hatte es jedenfalls mit den Geistern, die Epilepsie kam hinterher.

»Das Lametta war unter dem Bett«, sagte Tanja ruhig, »genau wie Hagedorn gesagt hat.«

»Auf der Staubsaugertüte sind nur Sohnemanns Fingerabdrücke«, sagte Oskar.

»Aber er hat noch nicht gestanden«, sagte Tanja.

»Wenn wir vielleicht Hagedorn dazu …«

»Auf gar keinen Fall«, brüllte Focke. »Der bleibt im Keller.«

Oskar lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. »Dann kann das natürlich dauern. Sie wissen ja, ich bin nicht so der Interviewprofi.«

»Befragt ihn eben Frau Wehland.«

»Schwierig«, sagte Tanja. »Der Sohn mag mich nicht.«

»Sie kann nicht berlinern«, sagte Oskar. »Tegel, das ist das Problem.«

Sie schwiegen. Fockes Kiefer mahlten.

»Nach zwanzig Uhr. Verhörraum. Hagedorn über die Feuertreppe. Zwei Stunden, mehr nicht.«

Tanja nickte. »Das reicht ihm. Sie wissen ja, wie er ist.«

»Und dann der andere Fall«, sagte Focke schmal.

Oskar nickte. »Der mit der Priorität.«

»Ein Georgier ist verschwunden.«

»Und was geht das die Mordkommission an?«, fragte Oskar und studierte das blaue Auge.

»Oder ist er schon tot?«, fragte Tanja.

»Sie wissen ja, wie die Kollegen von der Vermißtenstelle sind. Alle Nase lang verschwindet wer im Orkus, die machen erst mal keinen Finger krumm. Aber Guram Geladse ist ein bekannter georgischer Politiker und Volksheld, der mächtige Feinde hat. Außerdem ist er Vater der angesagtesten Wirtin der Stadt. Bei Alika taucht jeder auf, der wichtig ist.«

»Ober- oder Unterwelt?«, fragte Oskar.

»Die Grenzen fließen«, sagte Tanja.

»Die halbe Polizeiführung, die leitende Staatsanwaltschaft und alle wichtigen Richter lassen sich von ihr bekochen. Wenn ihrem Vater etwas zustößt, und wir haben es nicht verhindert, schlägt das auf uns zurück«, sagte Focke.

»Uns?«, fragte Oskar.

»Die gesamte Kripo. Es geht um internationale Politik und Organisierte Kriminalität. Ich mag keine schlechte Presse. Außerdem lasse ich mich nicht gern von der Russenmafia vorführen.«

»Gibtʼs da nicht irgendwo zuständigere Kollegen?«

»Für so jemanden kann man schon mal die besten Mordermittler der Stadt beschäftigen. Wenn er nicht ohnehin längst tot ist. Dann wird es sowieso unser Fall. Aber es braucht Fingerspitzengefühl. Lauter lauernde Fettnäpfchen. Und Alika ist eine phantastische Frau. Künstlerin eigentlich.«

Oskar verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Also mit den Fingerspitzen tu ich mich schwer als Neuköllner. Falsche Sozialisation, das holt man nie wieder auf.«

»Sie haben doch die Kollegin Wehland.«

Tanja kratzte sich am Kopf. »Ich bin ja aus Westdeutschland. Kunst kann ich eher nicht. Ein Schirmständer ist für mich ein Schirmständer, auch wenn er in der Galerie steht.«

»Die Bilder von Alika verstehen sogar Sie. Zumindest an der Oberfläche. Georgische Landschaft, Religion, Kultur. Alles abstrakt natürlich.«

»Die Kollegin kommt aus der Landwirtschaft«, sagte Oskar.

»Verdammt, was können Sie überhaupt?« An Fockes Hals schwoll eine Ader. »Und das sollen meine besten Beamten sein?«

»Der Hagedorn, der hat ja studiert«, sagte Oskar.

»Nein«, brüllte Focke.

»Wie der die Leute mit seiner gebildeten Klappe um den Finger wickelt, das habe ich immer bewundert.«

»Der findet jeden«, sagte Tanja.

»Und sei es als Geist.«

»Und mit Frauen kann er, das muß man ihm lassen.«

Hinter den Bahnhof Zoo kam nie die Sonne. Sie hatten trotzdem einen Sonnenschirm aufgestellt. In seinen Jugendtagen war er einmal optimistisch rot gewesen, arthritische Reste seiner Troddeln wehten, wenn ein vorbeifahrender ICE sie anpustete.

Nicht, daß Hannas Gäste davon etwas mitbekommen hätten. Wind, Regen, Schnee und Hitze drangen nicht mehr in ihre breitgespritzten Hirne und zu ihren in Alkohol ertrinkenden Leberlappen. Aber wo sie Hilfe bekamen, das wußten sie.

Hanna liebte ihren Beruf. Nie war sie sinnvoller Ärztin gewesen als hier. Offiziell hatte man sie, deren Approbation während eines Gerichtsverfahrens ruhte, als Putzfrau und Fahrerin eines ehemaligen Pferdetransporters eingestellt, in dessen Innerem sie als Ärztin arbeitete.

Vor zehn Jahren hatte ein Sozialarbeiter nach dem fünften Alkoholentzug mit diesem Transporter sein Leben auf den Kopf gestellt. Er las die Ankündigung einer Zwangsversteigerung, stutzte über das Sammelsurium an Ungewöhnlichkeiten, ging hin, um der trockenen Unruhe etwas Abwechslung entgegenzusetzen und wurde für dreitausendachthundertfünfundsiebzig Euro Eigentümer eines rostigen Pferdetransporters, ohne jemals geritten zu sein. Er fegte Äppel, Stroh und Hafer hinaus, baute ihn um zur Seelsorgestation für im Drogensand Gestrandete und stellte ihn hinter dem Bahnhof Zoo auf.

Eines Tages stieg eine frühverrentete Hebamme in seine Pferdekutsche und sagte, sie spränge aus dem Fenster, wenn sie nicht sofort etwas Sinnvolles zu tun bekäme. Das ist hier Erdgeschoß, sagte der trockene Sozialarbeiter, und entbunden wird auch nicht.

Trotzdem war die Hebamme die postsozialistische Seele des Ladens geworden. Niemand im Schatten des Zoos war vor ihren rauhbeinigen Kommentaren sicher. Unter der Kundschaft erwarb sie sich alsbald den respektvollen Spitznamen Genossin. Sie versorgte Wunden. Desinfizierte, flickte, und verband, was das Zeug hielt. Den ausströmenden Gerüchen begegnete sie mit einer Kippe im Mundwinkel. Manchmal fiel Asche auf Verbandszeug und Wundränder, die sie mit rauchigem Atem wegblies.

Alles lief rund, bis das Ordnungsamt die Pferdekutsche entdeckte. Möglicherweise hätten die Obdachlosen sich nicht immer wieder im Flur des Hauses auf der gegenüberliegenden Straßenseite erleichtern dürfen.

Das Amt störte sich am Dauerparkplatz des Transporters. Der Sozialarbeiter fuhr ihn also täglich einsfuffzig nach vorn und einsfuffzig nach hinten. Dann forderte das Gesundheitsamt einen beaufsichtigenden Arzt.

Der Sozialarbeiter hielt es für ausgeschlossen, einen zu finden, der ohne Lohn bei ihm arbeiten würde. Aber die Genossin aktivierte alte Kontakte und bald stand ein Urologe vor ihnen. Nicht ganz die passende Fachrichtung, aber wenigstens dramatische Anblicke gewohnt.

Die Genossin und der Sozialarbeiter fragten sich, warum ein so gut angezogener Endfünfziger an ihrem Schattendasein teilhaben wollte, bis sie ihm bei der Arbeit zusahen. Ihn hatte eine Parkinsonerkrankung zum Frührentner gemacht, ihm aber nicht die Approbation genommen. Also zielte er ab sofort auf Patienten hinter dem Bahnhof Zoo. Und mußte es mal schnell gehen, half die Genossin.

So richteten die Drei sich ein. Der Sozialarbeiter fuhr vor und zurück, flickte Seelen und kämmte die alten Sonnenschirmtroddeln, die Genossin jagte Tetanusspritzen in obdachlose Hinterteile und der Urologe zappelte an den Patienten vorbei.

Vielleicht war es zu idyllisch für den Sozialarbeiter. Vielleicht mußte er plötzlich zu wenig kämpfen. Vielleicht gab es auch zu viele Sonnenflecken. Er blieb nicht trocken. Schlief immer öfter am Lenkrad ein, bis er eines Morgens sturzbetrunken zwischen eins und fuffzig vom Ordnungsamt erwischt wurde. Er verlor Führerschein und Halt, trank sich aus der Wohnung und verschwand im alkoholischen Orkus.

Die Genossin und der zitternde Urologe übernahmen den Transporter, hatten aber nicht den vom Amt geforderten LKW-Führerschein für die täglichen drei Meter. Die zwei Frührentner fürchteten um ihren zwar unbezahlten aber Seelenfrieden stiftenden Arbeitsplatz und hängten Zettelchen im Bahnhof Zoo aus.

Einen dieser schiefen Zettel – der Urologe hatte darauf bestanden, sie anzukleben – sah die während ihres Gerichtsverfahrens beschäftigungslose Hanna und dankte mal wieder ihrer alten Mitbewohnerin Grete, die ihr zum achtzehnten Geburtstag Fahrstunden für Motorrad und LKW geschenkt hatte, falls die schlechten Zeiten zurückkämen und sie würden fliehen müssen.

Über die Frage, ob in Kriegszeiten irgendwer nach Führerscheinen fragte, hatten sie ausgiebig gestritten. Grete hatte das eigene Erlebnis des Zweiten Weltkriegs in die Waagschale geworfen, auf der anderen Seite kämpfte eine neunmalkluge Nachgeborene. Hanna nahm die Stunden. Und kam so, über zwanzig Jahre später, mit Führerschein für alle Lebenslagen in die Pferdekutsche ohne Sonne.

Dr. med. Johanna von Bredow wuchs in einer Altbauwohnung am Rüdesheimer Platz auf. Sie flitzte durch zahllose Zimmer, schlitterte über langgestreckte Dielen und hüpfte unter großen Fenstern, durch die das Sonnenlicht blinzelte. Als Nesthäkchen wurde sie umschwirrt und geherzt von fünf älteren Schwestern, erzogen von der Mutter Tilla, einer Biologieprofessorin an der FU, und behütet von Grete, Kreuzberger Lehrerin und seit ewigen Zeiten engste Freundin Tillas.

Die kleine Hanna war das blubbernde Herz dieser Familie, ihre mit Liebe gefüllte Brutkugel. Sie war glücklich, wenn es allen gut ging, krabbelte auf einen der sich bietenden Schöße und rollte sich ein. Und ihre Liebe machte nicht an der Wohnungstür halt. Hanna brachte in die familiäre Weiberwelt angeschlagene Wesen, die sie glaubte erretten zu müssen. Ein auf der Straße aufgelesener einsamer Turnschuh, ein aus dem Mülleimer geklaubter Wanderstock, ein vom Sperrmüll eingesammelter alter Koffer mit Aufklebern aus aller Herren Länder. Eine humpelnde Streifenmaus mit nur einem Hinterbein, eine Siebenpunkt-Marienkäferkolonie, der beim Überqueren des Bürgersteigs die Ausrottung drohte. Versuchte eine der Schwestern, die kleine Hanna vor Überbelegung der Wohnung zu warnen, schob das Nesthäkchen die Unterlippe vor, zog die Augenbrauen zusammen und ballte die Fäuste.

Denn Hanna war nicht nur mitfühlend, sondern auch zornig. Mied geöffnete Türen und rammte mit Wucht die nächstbeste Wand, bis Tilla, Grete und die fünf älteren Schwestern lachend die Hände hoben. Hanna baute unter den fernen Stuckdecken Terrarien, Höhlen und Nester, sammelte Löwenzahn, fütterte Samen und Nüsse und entließ tränenüberströmt in Freiheit.

Der gesamte Stolz der weitverstreuten Bredows lag, nachdem der Krieg von Gütern und Landbesitz nichts übriggelassen hatte, in der Intelligenz und beachtlichen Körpergröße ihrer Frauen. Als auch Hanna zu einer dunklen und grazilen Schönheit von nahezu einem Meter neunzig herangewachsen war, mit knapp achtzehn ein einsnuller Abitur hinlegte, wollte sie, die Helfende und Mitfühlende, Medizin studieren. Die mütterliche Freundin Grete, als Kriegskind an Stabsärzten geschult, fand das die Schnapsidee des Jahrzehnts. Aber es war sinnlos, Hanna brach durch die Wand.

Das Medizinstudium hatte Hanna eingesponnen in ein immer undurchdringlicheres Netz aus Diagnosen, Verfahren und Hierarchien. Als sie schließlich am Patienten landete, um endlich anwenden zu können, was sie gelernt hatte, war ihre Brust eng und sie atmete flach. Aber sie bat sich selbst um Geduld, glaubte, hinter der letzten Prüfung werde sich schon jenes Berufsleben verbergen, das sie erhofft hatte.

Hanna kam als junge Assistenzärztin an ein Krankenhaus. Ihr Chef, Professor Magahn, war in allem ihr genaues Gegenteil. Von der gedrungenen Statur eines kleinwüchsigen Stieres, ohne Hals, und mit rotem, zu einer Bürste rasiertem Haar um eine immer weiter ausufernde, rosig glänzende Glatze.

Magahn hatte sich durch das Medizinstudium gequält, um aus der Enge seiner Herkunft aufzusteigen an das für ihn höchstmögliche Ende der gesellschaftlichen Hierarchie. Er war Chirurg geworden, um über Leben oder Tod zu entscheiden. Ein kleiner Gott mit stoppeligem rotem Haar.

Die unter Frauen aufgewachsene Hanna, angerührt von einer auf dem Bürgersteig bedrohten Marienkäferkolonie, verstand ihren Beruf als Berufung und war am Ende ihrer Ausbildung, nach Jahren des Lernens und Wartens auf einen machtversessenen, cholerischen und rachsüchtigen Kobold getroffen.

Professor Magahn war erfahren in jeder Intrigenvariante, bewandert in jedem hinterhältigen Schachzug, kannte jedes stinkende Winkelchen des Systems, jede faulende Leiche im Keller der wichtigen Menschen der Stadt. Der Chefarzt war eine unausweichliche Größe in der Berliner Ärzteschaft, er war Hannas Alptraum, ihre personifizierte berufliche Sackgasse, und er hatte ein Problem mit Frauen.

Hanna stand es inʼs Gesicht geschrieben, weshalb sie Ärztin geworden war. Magahn hatte schon viele junge Frauen mit warmherzigen Motiven an seinem OP-Tisch stehen gehabt, und er hatte sie alle zerstört. Aber Hannas Körpergröße, ihr adliger Name und ihre Attraktivität waren eine besondere Herausforderung für den kurzbeinigen Stier. Professor Dr. Magahn mußte zu seiner Assistenzärztin aufsehen, das konnte nicht gut gehen.

Hanna erkannte das Problem sofort, versteckte, was sie von diesem Chef hielt und zügelte ihren Zorn. Sie senkte den Kopf, war ausgesucht höflich, ertrug Magahns Angriffe, erfüllte klaglos seine sie abstrafenden Dienstpläne, erlitt seine Anzüglichkeiten, wich seinen Intrigen aus, duckte sich unter seinen Schlägen und verlor niemals die Kontrolle.

Magahn war eine überzeugt cholerische Natur, und er erwartete Unterwerfung. Das Brüllen war seine Profession, die Niedertracht sein Alltag, der Ausbruch seine Methode. Er herrschte durch Schrecken, verbreitete durch willkürliche Entscheidungen Angst und führte, indem er fallen ließ. Je öfter Hanna ruhig blieb, je mehr sie den Kopf hob in ihrer lichten Höhe, desto giftiger sprühte Magahn unter ihr Funken.

Er verweigerte ihr die für die Facharztprüfung erforderlichen Operationen, schob sie viel zu oft in Nachtdienste, ließ sie jedes Wochenende arbeiten, und als sie ihn trotzdem, sichtbar schmaler und blasser werdend, nicht um Gnade bat, geschweige denn ihre Fassung verlor, versetzte er sie auf die Innere II.

Die Station war reserviert für mißliebige Kollegen, die sich mit absurden medizinischen Handlungen an hoffnungslosen internistischen Fällen abarbeiteten. Heraus führte für Patienten der Weg nur in Pflegeheime oder auf Friedhöfe, für die sie betreuenden Ärzte in ein Burnout.

Und dann rollte ein Pfleger der schönen, großen, hilfsbereiten Gräfin, die vor Müdigkeit inzwischen nicht einmal mehr schlafen konnte, die 94jährige Hermine Neuhaus auf die Station.

Man hatte hinter ihrer anhaltenden Darmblutung einen Tumor entdeckt, vermutete seine Bösartigkeit, fand eine OP zu riskant für die Hochbetagte und fragte die Patientin, was sie wollte. Hermine verwies auf ihre Patientenverfügung, fand, sie hätte lange genug auf dieser Erde ausgeharrt und wählte den Tod durch Verbluten. Sie wurde ein Fall für die Innere II. Hanna räumte dem Findling ein Zimmer frei, dimmte das Licht und hielt ihre Hand.

Aber Hermine blutete nur langsam aus und Hannas Schicht endete. Sie saß noch eine Weile an ihrer Seite, bis Hannas Nachfolger die Kollegin gereizt nach Hause schickte. Der war ein aufmerksamer Lehrling Magahns, entschied, die Alte wisse nicht, was für sie das Beste sei, schnallte die protestierende Hermine fest, spritzte ihr den letzten Widerstandsgeist aus dem Leib und schaffte sie in einen Operationssaal.

Als Hanna zu ihrem nächsten Dienst im Krankenhaus erschien, schob ein Pfleger Hermines Bett zurück auf die Station. Sie hatten den Tumor entfernt, die Blutung war gestoppt, aber Hermine durch die Operation im Koma gelandet. Sie hatten den eindeutig ausgesprochenen Sterbewunsch der Patientin mißachtet. Sie hatten sie geschunden und gequält. Und sie hatten ihr, für die nächsten Monate oder gar Jahre in tiefer Bewußtlosigkeit, eine Magensonde gelegt.

Da verlor Hanna die Kontrolle. All die angestaute Wut über das, was sie seit Jahren half, Menschen in Not anzutun, brach sich Bahn. Sie schrie und schlug um sich. Warf Infusionslösungen an Wände, schleuderte Stühle den Flur hinunter. Trat gegen Spritzenkartons, zerschlug einen Mülleimer auf dem Tisch, zog der inʼs Leben zurückgezwungenen Hermine die Magensonde aus der Bauchdecke, schob sie in ein Zimmer, schloß von außen die Tür ab, stieg über die Spuren der Verwüstung in das Schwesternzimmer, öffnete ein Fenster, warf den Schlüssel zu Hermines Zimmer weit hinaus und atmete tief die eiskalte Berliner Winterluft ein.

Das war, worauf Professor Magahn gewartet hatte.

Als Hanna mit der Kripo das Krankenhaus verlassen hatte, inspizierte er die Station und grunzte vor Zufriedenheit. Er sah seine uneingeschränkte Herrschaft wiederhergestellt. Er aktivierte seine Kontakte, sorgte dafür, daß Hannas Approbation ruhte und man sie anklagte, lehnte sich zurück und freute sich darauf, dem Untergang der großen, adligen und stolzen Frau zusehen zu können.

Hanna stand im Pferdetransporter hinter dem Bahnhof Zoo und fixierte einen fiesen grünen Glassplitter, der in einem rabenschwarzen Großzehenballen steckte. »Das kann jetzt ein bißchen wehtun«, sagte sie.

Der Mann zum Zeh lachte. »Fußpflege von ʼner Gräfin, ich bin noch nichʼ am Ende.«

Hanna sah ihn an und legte die Stirn in Falten. »Wenn Sie nicht mit dem Fusel aufhören, ist Ihre Leber am Ende.« Sie wies auf seine Zehen. »Und wenn ich den zweiten Zeh auch noch amputieren muß, können Sie auf dem Bein nicht mehr stehen.«

Er hob die Hand zum Schwur. »Ich würde ja. Wenn nur die Weltlage nicht so deprimierend wäre.«

Hanna lachte und desinfizierte die Wunde, so gut es ging. Die Jodtinktur war schon wieder alle. Solange der Sozialarbeiter noch nicht verschollen war, trudelten hin und wieder Spenden ein. Inzwischen aber saßen sie weitgehend auf dem Trockenen. Die Genossin stibitzte in ihrer alten Poliklinik Verbandsmaterial, der Urologe brachte abgelaufene Medikamente von einer befreundeten Apothekerin mit. Aber es war nie genug.

»Das ist die netteste Ausrede des Tages«, sagte Hanna und sah auf den verdreckten Fuß. »Dafür schenke ich Ihnen ein Paar neue Socken.« Sie zog einen Karton unter dem Sitz hervor und hielt schwarze hoch. »Vierundvierzig?«

»Aber junge Frau, sehe ich aus, als würde ich Trauer tragen?«

Hanna sah auf den löchrigen Haufen neben sich, der eben noch notdürftig die Füße des Mannes bedeckt hatte. »Die sind auch traurig.«

»Na gut, Gräfin, weil Sie es sind.«

Sie zog vorsichtig den Socken über das Pflaster. »Wenn Sie morgen zur Kontrolle wiederkommen, schenke ich Ihnen ein rotes Paar zum Wechseln.«

Er stand ächzend auf. »Sie sind ʼn Engel, Frau Doktor. Ich würd Sie jetzt gern küssen.«

»Halt die Klappe, Fittich«, sagte die Hebamme. »Nimm Deinen Beutel und verschwinde.«

»Sehʼn Se, so gehen andʼre Frauen mit mir um.«

Hanna lachte.

»Keen Mitleid mit den Runtergekommenen dieser Erde.«

»Fang bloß nicht wieder mit Deinen sozialistischen Kampfliedern an.« Die Hebamme guckte streng.

Fittich versuchte, die Hacken zusammenzuschlagen, geriet inʼs Taumeln, Hanna hielt ihn fest. »Jawoll, Frau Genossin.« Er beugte sich zu Hanna hinunter, sein Atem schlug ihr entgegen. Aldiwein und Karies. »Sie müssen nämlich wissen, wir waren mal Kollegen.«

»Vergiß nicht zu erzählen«, sagte die Hebamme, »daß Du in der Partei warst.«

Er winkte ab. »Die große Linie zählt.«

Die Hebamme schob ihn zur Tür, er schaukelte die Stufen zur Straße hinunter. Unter seinen hochgekrempelten Hosenbeinen leuchteten die neuen Socken. Ob er sie wohl bis morgen verteidigen konnte? Fittich drehte sich noch einmal zu den Frauen um. »Geschützt hab ich Dich immer«, sagte er. »Und Deinen Oberarzt.«

»Guck nach vorne«, sagte die Hebamme. »Und renn nicht wieder einfach auf die Straße.«

Er verbeugte sich andeutungsweise. »Mach ick, schon wegen der alten Tage. Und schön, daß Du Dich um mich sorgst.«

Sie steckte sich die nächste Kippe an. »Nun hau schon ab. Wir sehen uns morgen.«

Er wackelte die Straße hinunter, theatralisch hob er das verarztete Bein. Die Hebamme schüttelte den Kopf.

»Meinst Du, er kommt wirklich?«, fragte Hanna.

»An der nächsten Straßenecke hat er uns vergessen.« Die Hebamme nahm einen tiefen Zug, Asche flatterte davon. »Furchtbar, wenn man denkt, was für ein Mannsbild das war. Hat allen Röcken nachgestellt. Nahm sie unter seine Fittiche.«

»So lange ist die DDR schon untergegangen, aber der Spitzname hält sich.«

Die Hebamme schnippte die Zigarettenasche in Richtung Osten. »Das Land mag futsch sein. Aber wir sind alle noch da. Mit unserer Vergangenheit und der untergegangenen Heimat.«

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22 декабря 2023
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381 стр. 2 иллюстрации
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9783945611081
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