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III

Sie hatten Jakob lebendig begraben. Er hatte den Prozeß gewonnen, seine Suspendierung war aufgehoben, er wieder im Dienst und trotzdem hatte er alles verloren. Sie wollten ihn nicht zurück, ließen ihn nicht auf die Straßen der Stadt.

Kriminalhauptkommissar Jakob Hagedorns neuer Arbeitsplatz war ein zur Außenstelle des Archivs ernanntes vollgestopftes Zimmer im Keller, am Ende eines schmalen Ganges. Darin rangelten abgearbeitete Bürostühle, alte Tische auf drei Beinen, ausrangierte Registrierschränke, brüchige Halfter und klemmende Handschellen um den wenigen Platz. Von den Wänden bröckelte der schimmelige Putz, das winzige Fenster war vergittert und mündete in einen Schacht. Ein mittelalterliches Verlies, ein Sterbezimmer, extra für Jakob Hagedorn.

Sie stellten ihm einen Stuhl in den Kerker und luden Berge von Akten ab. Am Ende des Flurs ohne Licht und ohne Luft. Und das Jakob, der das Draußen brauchte als Lebenselixier. Der gehen mußte, um zu denken. Der nahenden Regen roch, Schnee spürte. Immer wußte, selbst in der tiefsten Straßenschlucht, wie voll der Mond war, wo die Sonne auf- und wo sie unterging.

Aber Jakob wollte nicht sterben, und er wollte seinen Beruf zurück. Also räumte er das Gerümpel aus dem Kerker, fegte Unrat aus dem Fensterschacht, schlug Putz von den Wänden, isolierte Schimmel, strich alles sonnengelb, kaufte eine Tageslichtlampe, stellte schattenliebende Pflanzen auf eine selbstgezimmerte Fensterbank, schloß eine Kaffeemaschine an und begann mit seiner Arbeit.

Jakob sollte Teile des Archivs neu ordnen. All die alten Akten hatten digitalisiert werden sollen, aber es gab niemanden, der Zeit dafür fand. Zu viele neue Fälle schubsten die alten von der Bühne und in den Keller, an den Platz für Gestriges.

Es gab keine Anweisung, wie Jakob vorgehen sollte. Alphabetisch, nach Jahreszahlen, Dezernaten, Bezirken, Namen der Täter oder Opfer, Art der Verbrechen. Er hatte den Verdacht, entschiede er sich für eine Variante, käme kurz nach Fertigstellung eine Weisung, das Gegenteil zu beginnen.

Aber Jakob war keine Figur von Kafka und Akten, erst recht vergilbte, hatten ihn schon immer interessiert. Der Versuch, eine papierne Ordnung über chaotisch gelebtes Leben zu legen. Sinn zu finden im Sinnlosen, Respekt zu zeigen den Geopferten, indem man ihnen ein Aktenzeichen, eine letzte Ruhestätte zumindest im schimmeligen Keller der Keithstraße gab.

Also pfiff Jakob auf die neu einzurichtende Ordnung und machte, was er mit am liebsten tat, er las Eingestaubtes in der gesamten vom Senat bezahlten dreitägigen Wochenarbeitszeit, zur Wiedereingliederung nach seiner langen Krankschreibung.

An den vier freien Wochentagen war Jakob so oft wie möglich unterwegs. Luft tanken, Licht einfangen, Menschen schnuppern, Kontakt aufnehmen. Er lief die Straßen seiner Stadt auf und ab. Streunte durch Läden, Parks und Ausstellungen. Schimmel abschütteln. Das Verlies keine Macht über sich gewinnen, die Düsternis nicht die Seele kapern lassen. Trotzdem schien es ihm manchmal, als kröchen Fäulnis und Verwesung in seinen Körper. Er wechselte täglich die Kleidung, vorsichtshalber.

Jakob las ohne System, von früh bis spät. Ließ sich von Namen leiten, Farben der Aktendeckel. Las über Leben und Katastrophen, Volten, Schlangenlinien, ungeharkte Wege. Über auf den Kopf gestellte Familien, eingebrochene Zeitläufte. Er las, was Menschen einander antaten, las, was Polizisten daran für bemerkenswert hielten und aufschrieben. Jahrzehntelang, mit sich ändernder Sprache, sich wandelnden Gesetzen.

So fand er den Weihnachtsfall. Eine verschweißte Familie, die ihre Tragödie in die Mitte nahm wie einen Schatz. Unerreichbar für Jakobs Kollegen, ein unlösbarer unnatürlicher Tod am Fest der Liebe. Jakob las sich fest, der Weihnachtsfall zog ihm in den Schlaf.

Eines Morgens saß das alte Opfer in Kittelschürze an Jakobs Küchentisch und schälte Kartoffeln. Eine unendliche Zahl plumpste in einen angeschlagenen Emailletopf, ein immer größerer Berg Kartoffelschalen umringelte schlangengleich am Küchenboden die mageren Beine der Großmutter. Jakob stieg über die Schalen hinweg und wartete. Kochte seinen Kaffee, sah ihr zu und wartete. Ging zur Arbeit, kehrte zurück aus seinem Sterbezimmer. Oma saß da und schälte Kartoffeln.

Am dritten Morgen waren die Kartoffelschalen vom Küchenboden verschwunden. Stattdessen überall Lametta. Jakob kochte seinen Kaffee und setzte sich ihr gegenüber. Die Großmutter fegte Lamettareste vom Tisch und sah Jakob an. »Es ist nicht seine Schuld«, sagte sie, »ich konnte einfach nicht sterben.«

Jakob ging in sein Kellerloch und las die Akten noch einmal. Als er nach Hause kam, war die Küche leer. In der Spüle lag ein Lamettafaden und das Küchenmesser. Er legte den Faden vorsichtig in einen Umschlag und ging zu ihrem Grab. Viele Blumen, ein großer Grabstein. In Liebe, Dein Sohn, Deine Schwiegertochter, Deine Enkel. Er ging zur Wohnung der Familie. Oma stand noch am Klingelschild. Drei Zimmer, Küche, Bad. Ein Paar, seine zwei Kinder und die Großmutter. Gepflegt, versorgt, geliebt. Jahr für Jahr. Viele Jahre. Die Kinder wachsen, die Wohnung nicht. Sie konnte einfach nicht sterben.

Jakob warf den Umschlag mit dem Lamettafaden durch den Briefschlitz der Wohnungstür. Zwei Tage später holten sie den Sohn zur Vernehmung ab. Erleichtert war er. Hielt sich fest an Jakobs Augen. Töten aus Liebe. Töten trotz Liebe. Jakob hatte wieder ein offenes Ende gefunden, es hatte ihn gefunden, sogar im Sterbezimmer, sogar im letzten Kellerloch. Die Großmutter hatte Jakob gefunden, den Geisterseher, Endenzusammenknüpper. Mein Sohn kann nichts dafür. Ich kann nichts dafür.

Hauptkommissar Oskar Blum stieg täglich aus seinem Büro in den Keithstraßenkeller hinab und schaute in Jakobs Sterbezimmer vorbei. Er sorgte sich um seinen besten Freund. Brachte Schrippen, erzählte von der Welt oben. Seufzte, wenn er seinen Geisterseher sitzen und lesen sah vor aufmüpfig gelben Wänden inmitten der grauen Düsternis.

Wie hatten sie nur glauben können, der Apparat sei ein guter Verlierer und könne so jemanden wie Jakob Hagedorn in seiner Mitte auf Dauer dulden? Seine aufreizende Entspanntheit, seine vermeintlich schläfrige Abwesenheit, seine Unabhängigkeit, seinen scharfen Verstand, sein überschwappendes Mitgefühl mit jedem Eierbecher? Ganz zu schweigen von seinen Geistern.

Bei der Berliner Kripo gab es nichts Übersinnliches und ein Ei köpfte man, daß es überlief. Wie der Eierbecher damit zurechtkam, interessierte niemanden.

Und jetzt hatte Jakob sich in diesem Rattenloch eingerichtet, als wäre es eine Finca direkt am Meer. Las in seinen Akten und wartete, daß das Leben ihn da rausholte. Aber ihr Vorgesetzter Fockemeyer bewachte seine Tür. Focke, der gegen Jakob vor Gericht verloren hatte, der nicht hatte verhindern können, daß dieser akademisch gebildete Paradiesvogel in die Keithstraße zurückkehrte.

Auch die junge Kollegin Tanja Wehland machte schnell allen deutlich, auf wessen Seite sie stand. Schließlich war sie damals wegen Jakob aus Westdeutschland nach Berlin gekommen. Sie hatte erfahren, wie Jakob im fernen Berlin einem Kollegen einen Mord nachwies, für den ein anderer einsaß.

Das war sogar in ihrer Heimatstadt Münster Flurgespräch gewesen. Kollegenschwein hatten sie Hagedorn genannt und die Fäuste geballt. Tanja wunderte sich nicht, daß niemand des Mordopfers oder des zu Unrecht Verurteilten gedachte. Sie hatte in den wenigen Jahren ihres Berufsdaseins genug über Korpsgeist und Korruption erfahren, schnitt sich ein Photo von Jakob aus, hängte es in ihren Spind und bewarb sich in Berlin.

Tanja Wehland erzählte jedem, der nicht schnell genug ausweichen konnte, was für ein großartiger und für den Nachwuchs vorbildlicher Kommissar da drei Tage die Woche ungenutzt im Keller saß. Und sie schenkte ihm einen dicken Teppich gegen die aufsteigende Kälte des Kellerfußbodens und einen Heizlüfter gegen die feuchten Wände.

Oskar und Tanja hatten es tatsächlich geschafft, Jakob für einen Außentermin ans Tageslicht zu zerren. Sie hatten ihn sogar mitten auf die Bühne der derzeit angesagtesten Kripo-, Staatsanwaltschafts- und Richterkneipe geschoben, in Alika Geladses Apotheke am Stuttgarter Platz.

Und nun saß Jakob, als wäre das Sterbezimmer ein böser Traum, an einem sich vor köstlich duftendem Essen biegenden Tisch, als neues Gesicht in Alikas Welt belinst von zahllosen Augen anderer Gäste. Blinzelnd ob so viel ungewohnter Öffentlichkeit sah er seinen Freunden beim Essen zu und hörte sie die Zeugin befragen, kellergeschädigt fremdelnd mit dieser ganz alltäglichen Kripowelt.

Ein Vater war verschwunden. Seine Tochter Alika, eine schöne Frau mit geteiltem Gesicht, stand neben dem Tisch der drei Kommissare und sprach mit schwankender Stimme von ihm. Jakob spürte sie vibrieren, als wäre sie von der Energie der Nachmittagssonne angefüllt. Hin und wieder schoß ein Arm hoch und ihre langen Finger tanzten. Nur mühsam zügelte sie ihr Temperament und den Körper, der ihre Schilderungen durch Bewegungen untermalen wollte.

Volles schwarzes Haar verbarg die gezeichnete Stirn und hob sie doch nur hervor. Liebe, Sorge, Angst und Trauer um den verschwundenen Vater flossen ihr über die Schultern. Jakob fühlte sich in dieser Trauer zuhause wie in seinem Archiv. Er hatte noch nie über Georgien nachgedacht. Ein Land, das es gab, mehr nicht. Und doch war ihm Alika und die Welt, von der sie sprach und die in ihrem Restaurant lebte, vertraut.

»Natürlich kümmern wir uns um Ihren Vater, aber finden Sie nicht, er ist alt genug, um sich eine Auszeit zu gönnen?« Oskar zog Lammfleischstücken mit einer Gabel vom Mzwadi-Spieß.

»Und stellt sein Handy aus, obwohl er weiß, daß ich ihn erwarte?« Alika schüttelte den Kopf.

»Vielleicht wollte er ungestört sein?«, fragte Oskar.

Guram Geladse liebte es, unter Menschen zu sein. Er war ein Schrank von einem Mann, mit breiter Brust, großen Händen und schwerblütigen Augen, der nie in seinem Leben allein gewesen war. Als Kind hatte er mit anderen Schafe gehütet, Pferde beritten und wilden Honig gesammelt. Als Jugendlicher aus den Hölzern der Umgebung Häuser mitgezimmert, Öfen gesetzt, Rinder getrieben und Schafe geschoren. Er wuchs heran unter Verwandten, Freunden und Nachbarn, wurde schlauer als alle anderen Kinder der Umgebung, und er wurde bärenstark.

Als gerade ausgewachsener junger Mann saß er eines Abends auf der Friedhofsmauer seines Heimatdorfes, zählte die Handvoll Häuser, skizzierte das Leben ihrer Bewohner in den nächsten fünfzig Jahren, fand kaum offene Fragen und in seiner starken Brust wurde ihm das Herz eng. Zwei Jahre später verließ er das Dorf seiner Kindheit zum Studium im fernen Tiflis. Er wollte mehr von der Welt sehen, und er wollte viel mehr Menschen kennenlernen. Er küßte seine krummgearbeiteten Bauerneltern, legte die große Hand ein letztes Mal an sein verrußtes Elternhaus, sah mit seinen dunklen Augen trauernd zurück auf die fernen Berge, die Felder und Wiesen seiner Heimat und machte sich auf, die Welt zu erobern.

Die Universität nahm er als erstes. Das Lernen in der großen Stadt fiel ihm schwer, er studierte langsam aber konzentriert und wurde schließlich Chemiker und Mitglied der georgischen Akademie der Wissenschaften.

Dann sah er sich in Ruhe nach einer Frau um und traf schließlich Alikas Mutter, einzige Tochter eines armen, hoch gebildeten und stolzen jüdischen Ehepaars, das für sein Kind einen Juden aus der Stadt und keinen Bären vom Dorf vorgesehen hatte.

Aber Guram, inzwischen ein angesehener Wissenschaftler und immer noch Welteneroberer, erkannte in der blutjungen Jüdin die Frau seines Lebens und kämpfte. Er reparierte den Eltern bei schneidender Kälte Fenster und Heizung, besorgte im tiefsten Winter frisches Obst und im Frühjahr ein geschlachtetes Lamm. Er lernte die jüdischen Feiertage, wartete vor der Synagoge, kaufte eine Kippa, besorgte seltene Bücher und unerreichbare Eintrittskarten und trug die jüdische Tochter auf seinen Bauernhänden.

Die Eltern gaben, überwältigt vom unendlichen Willen und der strotzenden Kraft Gurams, endlich nach und der Tochter den Segen. Guram brüllte vor Glück, packte Zelt und Rucksack ein, nahm seine Frau an der Hand und zeigte dem Kind der Stadt das Land und die Berge. Sie aßen Äpfel vom Wegesrand, übernachteten unter freiem Himmel, badeten in Flüssen, wurden in Dörfern an Tische geladen, liebten sich in den Bergen und hatten die ganze Welt vor sich.

Alika entstand in diesem glücklichen Sommer. Bei ihrer Geburt weinte Guram wie ein Kind, strich immer wieder sanft über das schwarze Haar seiner Tochter und wachte im Krankenhaus an ihrer Seite, aus Sorge, sie könne wieder dahin verschwinden, von wo das Schicksal sie ihm in die Hände gelegt hatte.

Die Geburt war schwer gewesen. Alikas Mutter hatte keine Milch für ihre Erstgeborene und kaum Kraft, selbst zu überleben. Guram brachte ihr Fleisch, Käse und Obst in das mangelversorgte Krankenhaus, fütterte seine schwache Frau geduldig mit den mächtigen Gerichten der Dörfer. Und er nährte seine Alika. Besorgte Milch, sang für sie, legte sie sich auf die starke Brust. Er lernte, sie zu windeln, lernte, sie nach dem Trinken auf seine Schulter zu legen. Aber Alika nahm ab, öffnete kaum die Augen, schrie nicht einmal. Guram weinte um sein Kind, weinte um dessen Mutter und kämpfte.

Eines Nachts weckte die kleine Alika ihn durch lautes Geschrei. Es klang fordernd. Er fütterte ihr eine Flasche nach der anderen, sah ihre Wangen endlich rosig, den kleinen Bauch dick werden. Er trug in Alika das blühende Leben zur kränkelnden Mutter in das Krankenhaus. Alika trommelte mit der kleinen Faust auf die mütterliche Brust, krähte wie ein Hahn und funkelte mit den Augen.

Die Mutter sah ihre wilde Tochter an, sagte, die kommt nach Dir, und erholte sich. Der bärenstarke und kluge Guram trug seine zwei Mädchen durch alle Unwetter, sein Kind auf den Schultern, seine Frau im Arm. Zeugte weitere Kinder, hatte seinen Ort, seine Arbeit, seine Familie und seine Bestimmung gefunden. Bis eine Lawine sein Herz brach.

Alika war alles, was sie war, nur durch ihn. Niemals hätte dieser Vater, der sie gezeugt und genährt, behütet und gerettet hatte, und der inzwischen ein alter Mann war, seine Tochter im Ungewissen gelassen, wo er war und wie es ihm ging. Und niemals in seinem Leben wollte Guram Geladse, der Eroberer von Welten und Menschen, ungestört sein.

Tanja aß einen Vorspeisenteller. Sie stieß ihre Gabel in Spinatwalnußnester und Rote-Beete-Berge, als wendete sie Heu und schob sich georgisches Käse-Fladenbrot quer in den Mund. Ihre Kiefer mahlten wie die eines Wiederkäuers. »Das ist wirklich köstlich«, sagte sie mit praller Backe.

»Sie kennen meinen Vater nicht.« Alika gab dem Kellner ein Zeichen und setzte sich Jakob gegenüber. »Er würde mich nie freiwillig so voller Sorge sein lassen.«

»Was denken Sie denn, könnte passiert sein?«, fragte Tanja.

»Er ist in Not. Sie müssen ihn finden, sonst stirbt er.«

»So schnell stirbt es sich nicht«, sagte Oskar, stibitzte von Tanjas Brot und tunkte es in den ausgelaufenen Fleischsaft.

Die Apotheke war wie immer brechend voll. Es hatte sich herumgesprochen, daß ein paar Russen die Einrichtung zerlegt hatten und so versuchten, Alika zu schaden und ihre Gäste zu erschrecken. Aber so schnell ließen sich Kaukasier aus ihren angestammten Revieren nicht vertreiben. Sie waren weit Schlimmeres gewöhnt.

Und so standen, nur einen Tag nach dem Angriff von Jurij Iwanows brutalen Lakaien, kaukasische Stammgäste vor der Apothekentür. Die Frauen mit Schrubber und Wischlappen, die Männer mit Werkzeugkästen und finster entschlossenem Blick. Sie hatten sich bekreuzigt, in jedem Raum eine Heilige Barbara, die jungfräuliche Schutzpatronin der Verfolgten, aufgestellt, Iwanow verflucht und die Ärmel aufgekrempelt. Alika war ihre Herdmutter und sie würden die Apotheke wieder instandsetzen. Wenn nötig, immer wieder. Mancher der Tische kippelte noch, die Stühle waren notdürftig zusammengeflickt, aber Alikas Einrichtung entsprach ja ohnehin ihrer bunten Heimat – beschädigt, umkämpft, impulsiv, großherzig und sehr gemütlich.

An einem Nachbartisch der drei Kommissare feierte eine Großfamilie Hochzeit. Der Brautvater hielt eine tränenreiche Rede, der ganz in Weiß gekleidete Bräutigam spielte gelangweilt mit seinem Handy, die Braut war inmitten ihres Schleiers auf der Tischplatte eingeschlafen.

Der Kellner kam mit einem dampfenden Tontopf und stellte ihn vor Jakob, der nichts bestellt hatte. »Das Herz meines Vaters ist schwach«, sagt Alika, »er ist schon siebzig. Wenn ihn jemand gefangen hält, bedroht das sein Leben.« Sie legte Jakob Messer und Gabel zurecht.

»Und haben Sie eine Idee, wo wir Ihren Vater suchen könnten?«, fragte Oskar.

»Bei Jurij Iwanow, dem Vater meines Sohnes.«

»Und warum sehen Sie dort nicht selbst nach ihm?«, fragte Tanja, schob ihren leeren Teller weg und hielt sich den Bauch.

»Er ist Russe«, sagte Alika. »Und haßt meinen Vater, bedroht das Restaurant. Kennt keine Skrupel. Und er ist ein sehr, sehr mächtiger Mann.«

Jakob rührte das Essen nicht an. Alikas Vibrieren war ihm in den Magen gestiegen. Sie saß zu nah. Zu nah für Starkstrom.

»Ist er wegen Gewaltverbrechen vorbestraft?«, fragte Tanja.

»Fragen Sie ihn. Und sehen Sie ihn sich an.«

»Machen wir«, sagte Oskar. »Sonst noch eine Idee?«

»Mein Vater ist ein vielbeschäftigter und in Georgien berühmter Mann. Er war in der Politik.«

Der Kellner brachte Oskar eine Portion Pelamuschi. Der hob den Teller mit Traubenpudding hoch und schnupperte.

Am Nachbartisch sank der Brautvater ermattet auf seinen Stuhl. Er zog ein Stofftaschentuch aus der Hosentasche und wischte sich das Gesicht. Die Frau neben ihm setzte ihm einen schmatzenden Kuß auf die Wange und schluchzte. Der Bräutigam steckte sein Handy ein und rüttelte die Braut wach. Beide standen auf und hoben ihre Gläser.

»Er ist schon sein ganzes Leben lang Vermittler. Und das in meiner aufgeputschten Heimat. Er hat ein Problem mit Gewalt, ist der klassische Versöhner, den man von der Bühne schubst, um einander ungestört den Schädel einzuschlagen. Aber er ist immer wieder zurückgestiegen, unverbesserlich, und hat sein weißes Fähnchen hochgehalten. Die Leute haben ihn dafür geliebt. Und die Mächtigen gehaßt.«

»Ist das nicht ein bißchen übertrieben?«, fragte Oskar. »Nur weil er nervt, muß man ihn doch nicht gleich hassen.«

»Es haben ihm schon so viele Gewalt angedroht. Er hat zwei Attentate überlebt.«

»Und trotzdem weitergemacht?«, fragte Tanja.

»Aus der aktiven Politik hat er sich zurückgezogen. Aber er führt auf georgischer Seite Verhandlungen mit dem Baltikum. Es geht um wirtschaftliche Interessen, Freihandel.«

»Klingt doch ganz zivilisiert.« Oskar löffelte seinen Pudding. »In solchen Kreisen legt man die Leute eher rein als um.«

»Wir Georgier übertreiben gern.« Alika sprach jetzt zum schweigenden Jakob. Ihre sein Gesicht abtastenden Augen kitzelten ihn. Ihre Stimme summte in seiner Brust. Ihre Nähe verwirrte ihn. Kellerassel auf erleuchteter Bühne. Er blinzelte, zu hell und zu heiß war der georgische Scheinwerfer vor seiner Nase.

»Wir sind ein stolzes Volk«, sagte sie. »Und mein Vater ist ein sehr stolzer Georgier. Das ist seine größte Schwäche.«

»Denken Sie deshalb an den russischen Schwiegersohn?«, fragte Tanja.

»Mein Vater ist seiner Heimat verfallen. Hat versucht, sie zu retten. Vor Kriegsgewinnlern, alten Eliten und neuen Mafiosi, geltungssüchtigen Politikern, Familienclans und auch vor den Russen. Er ist eine Provokation für sie alle.«

»Und dann verliert er seine Tochter an einen«, sagte Oskar.

»Sein Enkel ist halber Russe, das ist alles.«

»Das ist viel«, sagte Tanja.

»Unsere Heimat Georgien ist ein wunderschönes Land. Ein Land, das seine Menschen glücklich macht und ihnen das Herz bricht. Nach dem sie sich sehnen und das sie so schnell wie möglich verlassen wollen. Eigentlich ist Georgien eine schwierige Frau.« Alika sah wieder Jakob an.

Ohne Vorwarnung rief der Bräutigam etwas, warf sein Glas auf den Boden und küßte die Braut heftig. Die Hochzeitsgesellschaft klatschte. Vom Tresen kam ein kasachischer Spüler mit bandagierter Hand und Kehrblech. Routiniert fegte er die Glassplitter weg, der Bräutigam ließ sich nicht stören.

»Es klingt, als sei ihr Vater ein weltfremder Idealist«, sagte Tanja.

»Er ist ein Mann voller Ideen und Möglichkeiten. Nur schafft er es nicht, sie auch auszuführen.« Alika hob die halb leere Weinflasche an. »Das ist eines seiner Projekte. Georgischer Wein war in der Sowjetunion begehrt. Natürlich von miserabler Qualität. Nach Gorbatschow ging der Weinanbau zurück. Inzwischen haben sich wieder private Güter gegründet. Mein Vater will ihnen den Weg nach Europa ebnen.« Sie sah Tanja an. »Ausgerechnet über mein Restaurant.«

»Der Wein ist gut«, sagte Tanja.

Alika nickte. »Exotisch und ehrlich, so nennt das mein Vater. Das ist die Mischung aus Kaukasus und Schwarzem Meer. Einzigartig. Viel Tannin und handwerkliche Tradition. Georgien ist die Wiege des Weins. Nur ist der Berliner Markt selbstverständlich längst besetzt.«

»Aber Ihr Restaurant ist doch eine gute Pforte.« Oskar sah sich um. »Die Bude scheint erfolgreich zu sein.«

»Fragt sich nur, bei wem.« Alika senkte die Stimme und beugte sich zu Oskar. »Hinter Ihnen sitzt der georgische König von Lichtenberg, ein Autoschieber. Er eröffnet gerade ein neues Geschäftsfeld in der Altenpflege. Die zwei jungen Frauen sind Rumäninnen. Eine Probelieferung für die häusliche Pflege deutscher Pensionäre. Er hat ihr Heimatdorf gekauft, einschließlich aller Bewohner. Mit einem Golf für den Polizeichef und einem alten Mercedes für den Bürgermeister.«

»Moment mal, ist das nicht die gegenwärtige Lieblingskneipe der Berliner Polizeiführung?«

»Und der Staatsanwaltschaft.«

»Und woher wissen Sie das mit dem Dorf?«, fragte Tanja.

»Georgische Männer sind kleine Jungs, sie prahlen gern vor schönen Frauen.«

Der Bräutigam rief immer mehr Trinksprüche, die Gesellschaft hob zu jedem die Gläser.

»Und Sie befürchten, daß Mafiosi den Weinhandel nicht mit Ihrem Vater teilen wollen und er deshalb verschwunden ist?«

»Wir haben das alles schon durch. Außer dem Wein ist da noch Tee. Genauso hochwertig, genauso erfolglos. Er lädt das bei mir ab und dann habe ich die Mafia am Hals.«

»Haben Sie den Tee noch?«, fragte Tanja.

»Ein vermeintlich künftiger Geschäftspartner meines Vaters hat ihn in einer dioxinverseuchten Halle gelagert. Angeblich aus Versehen. Der Tee ist Sondermüll.«

»War der Mann Russe?«

»Georgier. Die Russen spielen allerdings auch mit. Sie fälschen den georgischen Wein.«

Der Bräutigam hob seine Braut auf den Tisch, küßte sie wieder und trug sie durch das Restaurant. Die Gesellschaft klatschte rhythmisch und folgte dem Paar in einer Reihe. Der Spüler hatte die Glasscherben entsorgt und war mit einem Eimer zurückgekehrt. Mit stoischem Gesichtsausdruck warf er Konfetti auf die Hochzeitsgesellschaft. Der Chefkoch Igor öffnete die Apothekentür. Die Hochzeitsgesellschaft verließ tanzend das Lokal, Igor schloß die Tür hinter ihnen. Der Spüler fegte das Konfetti auf. Vorübergehend war es still in der Apotheke.

»Aber Russen verkehren doch wohl nicht hier?«, fragte Oskar und senkte die Stimme. »Es sei denn, sie hauen einem Kriminalrat eine blutige Nase.«

»Das war kein Russe, sondern eine Türklinke. Die traf er auf seinem Heimweg.«

»Heimweg?«

»Auf allen vieren. Er wollte sich verstecken.«

»Bis Verstärkung kommt«, sagte Tanja. »So isser.«

»Ich kann es mir nicht leisten, Russen abzuweisen«, sagte Alika. »Sie sind zu mächtig in der Stadt.« Der Geräuschpegel stieg wieder. »Hinter Ihnen«, Alika sah Tanja an, »sitzt einer, der sagt, er hätte den Innensenator gekauft.«

»Das erzählt er einer Georgierin?«, fragte Oskar.

»Noch mehr kleine Jungs«, sagte Tanja.

»Mit einem dieser Jungs, noch dazu einem gefährlichen, Jurij Iwanow, habe ich ein Kind. Und ein anderer ist mein Vater.«

Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Unvermittelt hob sie die Hand in Jakobs Richtung. Kurz vor dem Ziel hielt sie inne und ließ die Hand schweben.

Jakob spürte ihre Wärme. Ihre Augen glühten.

»Du mußt ihn finden, es geht ihm schlecht«, sagte sie. »Er wird das nicht lange überleben.«

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22 декабря 2023
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