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IV

Hanna hörte die Lunge einer fetten Frau ab. Sie rasselte wie an Ketten. »Haben Sie die Medikamente genommen?«, fragte sie und guckte so ernst wie möglich.

Die Frau hustete. »Hat mir einer geklaut.« Sie zeigte mit dem Finger auf einen Mann, der an der Tür saß. »Der da.«

»Aber Trudchen«, sagte die Hebamme, »Beethoven klaut doch keine Tabletten.«

»Woher willste denn das wissen? Von der Stasi?« Trudchen lachte heiser. »Fusel klaut er auch.«

»Die lügt«, sagte Beethoven.

Hanna ging zum Medikamentenkoffer. »Sie haben eine Lungenentzündung.«

»Das müßte ich doch merken«, sagte Trudchen.

»Du merkst gar nix mehr«, sagte Beethoven.

»Haltʼs Maul.«

»Ruhe, Ihr Zwei«, sagte die Hebamme.

Hanna sah Trudchen in die verquollenen Augen. »Die Tabletten sind alle. Ich muß Ihnen eine Spritze geben.«

»Nie im Leben.« Trudchen schob die dicke Unterlippe vor.

»Willst Du an der Lungenentzündung sterben?«, fragte die Hebamme.

»Bevor ick mir hier spritzen lasse, will ick erst ʼne zweite Meinung.«

Die Hebamme lachte. »Dich läßt doch keiner in sein Wartezimmer, so wie Du stinkst.«

Trudchen verschränkte die Arme. »Das wollʼn wer doch erst maʼ sehʼn.«

»Also keine Spritze?«, fragte Hanna.

Trudchen schüttelte den Kopf.

»Und der Hautausschlag?«

»Isʼ noch da. Gibtʼs dafür Tabletten?«

»Du sollst den einreiben, Trudchen«, sagte die Hebamme. »Zieh die Hosen runter, dann mach ich das.«

Trudchen stand ächzend auf und entblätterte sich. Der Pferdetransporter stank wie ein Kuhstall.

»Hast Du die Salbe auch verloren?«, fragte die Hebamme.

Trudchen grub in ihrer Jackentasche und förderte eine Tube hervor. »Bitte, Frau Genossin.«

»Gib her, die Tube und Deinen Hintern.«

Trudchen stützte sich mit einer verdreckten Hand an der Wand ab und streckte beides hin.

»Ich glaub, ich geh dann mal«, sagte Beethoven.

»Haltʼs Maul«, sagte Trudchen.

Beethoven torkelte die Stufen hinunter und fiel in zwei Uniformierte. »Ach nee, die Bullen«, brüllte er mit dem Gesicht zum Transporter und fuchtelte mit den Armen.

Hanna stürzte auf den Beifahrersitz.

Die Uniformierten rangelten mit Beethoven.

»Faß mich nicht an, Du Penner«, sagte der eine.

»Für Sie immer noch Herr Beethoven, Wachtmeister.«

Der Polizist stieß Beethoven zur Seite. »Personenkontrolle«, rief er und fuhr zurück vor Trudchens entblößtem Hintern. »Was zum Teufel …«

Trudchen lachte heiser.

»Guten Tag, Herr Wachtmeister«, sagte die Hebamme und rieb ungerührt den feuerroten Ausschlag ein, »Sie stören eine laufende Behandlung.«

Sein Kollege sah ihm über die Schulter und verzog das Gesicht. »Wie das stinkt«, sagte er.

»In meiner Suite isʼ die Wanne defekt.« Trudchen kicherte.

»Hose hoch und zur Seite«, sagte der Polizist.

»Sachte, sachte«, sagte die Hebamme und drehte konzentriert die Tube zu. »Fertig, Trudchen, kannst tun, worum der Wachtmeister so höflich bittet.«

»Und Ihre Ausweise will ich sehen.«

»Suchen Sie jemanden?«, fragte Beethoven, der nichts verpassen wollte und sich in den Transporter zurückquetschte.

Der Polizist hielt sich eine Hand vor den Mund. »Uns wurde gesagt, daß sich eine Johanna von Bredow hier aufhält.« Er sah die Hebamme an. »Sind Sie das?«

Trudchen und Beethoven lachten, die Hebamme wies auf den Fahrersitz. »Das ist unsere Putzfrau«, sagte sie.

Trudchen gluckste, die Hebamme warf ihr einen scharfen Blick zu.

Der Polizist stieg durch den Bus, darauf bedacht, nichts zu berühren. Er kontrollierte Hannas Ausweis und Führerschein. »Uns wurde zugetragen, Sie arbeiten hier als Ärztin.«

Hanna klimperte mit den Wimpern. »Aber das darf ich doch gar nicht.«

Der Polizist sah sie streng an. »Ich hoffe, das vergessen Sie nicht.« Er gab ihr ihre Papiere zurück. »Schließlich stehen Sie unter Mordanklage.«

»Morgen ist der nächste Gerichtstermin«, sagte Hanna. »Und da ich so aufgeregt bin, wollte ich mich durch die ehrenamtliche Arbeit hier etwas ablenken.«

»Als Fahrerin und Putzfrau«, sagte die Hebamme.

Hanna nickte, Trudchen lachte, Beethoven applaudierte.

»Warʼs das dann?«, fragte die Hebamme. »Weil, wir hätten hier noch zu arbeiten.« Sie klopfte Trudchen auf den Rücken, die bekam einen röhrenden Hustenanfall.

Die Polizisten zuckten zusammen. Der eine zeigte mit dem Finger auf Hanna. »Wir behalten Sie im Auge.« Mit drohendem Blick ging er rückwärts zur Tür.

Das war zu verlockend für Beethoven. Er streckte langsam die verdreckten, stinkenden Beine aus. Der Polizist stolperte, riß seinen wartenden Kollegen mit, sie fielen rückwärts aus dem Transporter in den roten Sonnenschirm und landeten im Rinnstein. Die arthritischen Troddeln stöhnten, die Polizisten schimpften.

Beethoven sah ihnen hinterher. »Wir behalten Sie im Auge«, sagte er und schlug die Tür zu.

»Du solltest mit dem kleinen Einmaleins anfangen, ich habe in Neukölln mein Abitur gemacht.« Oskar saß vor Tanjas Schreibtisch in der Keithstraße, wollte von ihr hören, was sie zu Gurams Hintergrund recherchiert hatte und kippelte mit seinem Stuhl.

Er war zufrieden, wie sich ihre Zusammenarbeit entwickelte. Auch wenn ihm Tanja niemals so nah sein würde wie Jakob, es schnurrte. Sie waren inzwischen mehrfach in knifflige Situationen miteinander geraten, und nie war die junge Frau zurückgezuckt, wenn es mal unvermeidlich war, Gewalt anzuwenden. Ganz im Gegenteil hatte sie beherzt zugefaßt und noch besser, genau in den richtigen Momenten die Klappe gehalten. Tanja Wehland war zwar aus einem westdeutschen Provinznest, dessen Namen er sich nie merken konnte, aber sie war kein Weichei, was schon mal eine Menge war. Noch zehn, fuffzehn Jahre drauf und sie würde eine erstklassige Beuteberlinerin werden.

Wenn sie sie denn nicht doch noch an den amerikanischen Cowboy mit seinen riesigen Rinderherden, fleckigen Gäulen und beachtlich großen Wiesen im kitschigen Montana verlören, von dem ihm Jakob erzählt hatte, und der ununterbrochen auf ihrem Handy anrief. Aber wenn sie irgendwann mal etwas weniger zu arbeiten hätten, würde er Tanja schon passenden Berliner Ersatz für ihren Cowboy suchen.

Das war vermutlich auch so ein Mutterbodending. Oskar verstand nicht, welches Aufhebens die alle um ihre Heimat machten. Berlin war, wo er hingehörte, Punkt. Kein Drama nirgends. Und im übrigen, was waren schon die Sonnenuntergänge von Montana gegen den Berliner Vollmond über der Philharmonie und gegen den Arbeitsalltag mit den zwei wundervollsten Kommissaren des Jahrhunderts?

»Also gut«, sagte Tanja. »Die Sowjetunion, längst untergegangen, aber Du erinnerst Dich?«

»Logo, die haben uns ja eingesperrt, Ost- wie Westberliner. Und den Brudervölkern das Leben vermiest.«

»In der Mitte ein Flatschen Russland, im Westen und Süden drangeklebt die angeblichen Bruderstaaten.«

»Ukraine, Polen und so.«

»Im Süden von Russland der Kaukasus.« Tanja zog in der Luft eine waagerechte Linie. »Erst der Große, weiter südlich der Kleine. Das ist eine Bergkette, nur falls Du nicht folgen kannst.«

Oskar grunzte.

»Dazwischen liegt Georgien.«

»Sandwich.« Oskar schlug die flachen Hände aufeinander.

»Siebenundachtzig Prozent des Landes sind gebirgig. Im Westen liegt das Schwarze Meer.«

»Da ist doch die Krim?«

»Unterbrich mich nicht.«

Oskar lachte. »Das war schon in der Schule mein Problem. Keene Geduld.«

»Klimatisch ist Georgien äußerst vielfältig. Subtropisch am Meer, kontinental weiter östlich.«

»Heißer Sommer, trockenkalter Winter. Wie in Berlin.«

»Sie haben viele endemische Arten. Also Pflanzen und Tiere, die es nur dort gibt.« Tanja lehnte sich zurück und kippelte auch mit dem Stuhl. Oskar sah aus dem Fenster auf die krumpelige Linde gegenüber. Sie bräuchten bald mal wieder Regen. Man konnte ja nicht die ganze Stadt mit der Gießkanne versorgen.

»Georgien ist ein Vielvölkerstaat«, sagte Tanja, »wie die ganze kaukasische Region. Unübersichtlich viele Nachbarn und genauso viel Toleranz.«

»Klingt schon wieder wie Berlin.«, sagte Oskar.

»Das Problem sind die Großen. Georgien grenzt im Norden an Russland und im Süden an die Türkei.«

»Noch mal Sandwich.«

»Georgien ist eines der ältesten Siedlungsgebiete der Menschheit. Und es war immer umkämpft.« Tanja zog eine Schublade auf, entnahm ihr einen Apfel und bot ihn Oskar an, der abwinkte. »Medea kam von dort. Der Urapfel auch.«

»Ist das die, die ihre Kinder abgemurkst hat?«

Tanja biß herzhaft in den Apfel und nickte.

»Eine Gegend für stolze Frauen«, sagte Oskar.

»Überhaupt eine stolze Gegend«, sagte Tanja mit vollem Mund. »Und nicht mal grundlos. Sie haben eine eigene Sprache und ein eigenes Alphabet.«

»Für soʼn paar Figuren? Sagtest Du nicht, die haben so viele Einwohner wie Bayern?«

»Guram Geladse, Alikas Vater, war Chemiker an der Akademie der Wissenschaften in Tiflis. Dann kam Gorbatschow.«

»Die Sowjetunion verpuffte.«

»Nach der Unabhängigkeitserklärung ʼ91 ist er in die Politik. Der Nationalismus schoß über. Es gab Ausschreitungen gegen religiöse Minderheiten.«

»Was sind denn die Georgier, Moslems?«

»Christlich-orthodox, ist quasi Staatsreligion.«

»Und die Moslems kriegten aufs Dach?«

»Sie mußten alle Gotteshäuser an die christlich-orthodoxe Kirche übergeben. Und es gab Pogrome gegen Juden.«

»Typisch.«

»Alikas Mutter ist Jüdin. Deshalb hat Guram sie nach Berlin gebracht, über die Kontingentlösung.«

»War nicht der Schewardnadse Georgier? Den mochte ich. Hat viel für den Mauerfall und die Einheit getan. War so ein sensibler Melancholiker. Wenn so die Georgier sind …«

»Stalin war auch von da«, sagte Tanja. »Und Schewardnadse versank als nächster georgischer Präsident in der Korruption.«

Oskar stöhnte.

»2003 gab es die Rosenrevolution gegen Dein Sensibelchen.«

»Erfolgreich?«

»Guram ist mitmarschiert, direkt hinter Oppositionsführer Saakaschwili, der jetzt Präsident wurde und Guram zum Landwirtschaftsminister ernannte. Schien alles gut zu laufen, viele Georgier kamen aus der Fremde zurück.«

»Klingt nach einem Aber. Wieder Korruption?«

Tanja nickte. »2007 gabʼs die nächsten Massenproteste. Saakaschwili hat daraufhin, um von den inneren Problemen abzulenken, Russland provoziert.«

»Bewährte Methode.«

»Er ließ Oppositionelle auseinandertreiben und die Armee in der unabhängigen, von vielen russischstämmigen Georgiern bewohnten Region Südossetien einmarschieren.«

»Und die Russen haben gesagt, piß mich nichʼ an, Zwerg.«

»Unser Versöhner Guram hat Saakaschwili für den sinnlosen und verlorenen Krieg kritisiert, daraufhin wurde er kaltgestellt auf einem diplomatischen Posten in Armenien. Aber offensichtlich wußte er zu viel. Es gab zwei Attentate auf ihn. Beim zweiten verlor er seine linke Hand. Danach stieg er aus der Politik aus und ging in die Wirtschaft.«

»Kluge Entscheidung. Er wollte die rechte behalten.«

»Seit 2012 hat Georgien einen neuen Präsidenten und es geht bergauf.«

»Und das alles ohne den Vermittler Geladse.«

»Es mußte wohl jemand von außen kommen, der noch dazu so reich ist, daß Bestechung keine Rolle für ihn spielt. Jetzt gibt es eine freie, kritische Presse, Gesetze gegen Diskriminierung und die Justiz ist unabhängig.«

»Gurams Familie könnte zurückkehren.«

»Aber auf dem Land herrscht große Armut. Jeder zweite ist arbeitslos. Wäre Georgien nicht ein so fruchtbares Land, würden die Menschen hungern.«

»Viel aufzubauen. Und Guram ist in der Wirtschaft.«

»Soll ich mich um seine Arbeit von heute auch noch kümmern?«, fragte Tanja.

»Wir haben erst einmal genug zu tun mit der politischen Zeit. Was war mit den Attentaten?«

Tanja sah auf ihren Bildschirm. »Das erste war eine Schießerei in Tiflis vor der Akademie der Wissenschaften. Fünf Tote. Da wurden sogar Täter ermittelt. Angeblich war es Zufall, daß Guram gerade vor Ort war.«

»Ach ja.«

»Auch ihn hatte es schwer erwischt. Lag ein halbes Jahr im Krankenhaus. Er muß sehr willensstark sein, hat sich zurückgekämpft und war fortan für die Bevölkerung ein Held.«

»Und das zweite Attentat?«

»Er kommentierte von seinem diplomatischen Posten in Armenien Saakaschwilis Politik.«

»Das konnte der sich natürlich nicht gefallen lassen.«

»Zumal Guram weiter versuchte, seinem Land zu helfen. Brachte armenische Investoren nach Georgien, was auf dem Land Arbeitsplätze in der Landwirtschaft schuf. Er ist vom Land, vielleicht war er deshalb so engagiert. Aber den örtlichen Provinzfürsten gefiel das gar nicht. Sie hatten vorher schon alles untereinander aufgeteilt.«

»Logo.«

»Guram wurde noch beliebter und geriet auf der Rückfahrt vom Besuch eines georgischen Weinguts in einen Hinterhalt. Alle starben, auch die armenischen Investoren, bis auf ihn.«

»Wie hat er das geschafft?«

»Auf dem Weingut hatte man ihm als Dank für seine Arbeit eine schußsichere Weste geschenkt. Die Gastgeber bestanden darauf, daß er das Geschenk anprobiert.«

»Starke Schutzengel.«

»Seine linke Hand verlor er trotzdem. Und die Attentäter wurden nie gefaßt. Man vermutete einen bestochenen Bodyguard, zumindest wurde dessen Familie nach seinem Tod überraschend wohlhabend.«

»Und wo suchen wir Guram jetzt?«

»Bevor er verschwand, kam er aus dem Baltikum. Ist in Tegel gelandet und hat sogar in einem Berliner Hotel eingecheckt.«

»Nicht bei Alika?«

Tanja schüttelte den Kopf. »Er war Stammkunde. Das gleiche Zimmer wie immer, seit drei Tagen.«

»Das heißt, er hat Alika verschwiegen, daß er hier war?«

Tanja nickte. »Und er verschwand von Berlin aus.«

»Dann sollten wir mit den Kontakten seit seiner Ankunft anfangen. Hast Du die Telefondaten schon?«

»Von seinem georgischen Handy noch nicht. Aber er hat das Hoteltelefon benutzt. Für ein Gespräch mit der georgischen Botschaft.«

»Dann muß Focke sich um einen Termin beim Botschafter kümmern«, sagte Oskar.

»Noch was«, sagte Tanja, »die Familie des Bodyguards …«

»Der von dem zweiten Attentat? Mit dem gefüllten Konto?«

»Sie hat Georgien inzwischen verlassen.«

»Laß mich raten.«

»Sie leben in Charlottenburg. Luftlinie fünfhundert Meter vom Stuttgarter Platz.«

»Du mußt die Walnüsse aufspießen, so.«

Alika saß mit Levi in der geschlossenen Apotheke und zeigte ihrem Sohn, wie er Tschurtschchela herstellen konnte. Ihre Blicke streiften durch den vor sich hin dösenden Raum mit den hochgestellten Stühlen. Kaum etwas wies noch auf die überstandene russische Invasion hin. Sie hatte die Russen nicht angezeigt. Kaukasisches Betriebsrisiko, das war eingepreist. Und es war ja dank der Hilfe und Treue ihrer Gäste fast alles wie zuvor. Einer ihrer kasachischen Spüler hatte einen Schneidezahn verloren. Und das Gemälde, gegen das der Angreifer die Wodkaflasche mit Igors Spülwasser geworfen hatte, war zerstört. Aber Alika hatte noch nicht die Kraft gefunden, es abzuhängen. Vielleicht schützte es auch ihr Lokal, als eine georgische Gedächtniskirche. Sie sah in die kleine Nische mit der Heiligen Barbara und lächelte. Sie hatte die wundervollsten Gäste der Welt.

Levi hatte die Zunge seitlich herausgestreckt und gab sein Bestes, aber immer wieder brachen die Nüsse entzwei. Er schimpfte und versuchte es erneut. Alika sah auf seinen schwarzen Schopf, der sich konzentriert über die Arbeit beugte und hätte ihn vor Liebe zerquetschen können wie Levi die Nüsse.

Alika liebte diese stillen Stunden mit ihm. Aber sie war abgelenkt. In die Sorge um ihren Vater mischte sich eine neue Stimme. Die Stimme von Jakob, dem sonderbaren Polizisten. Seit er dabeigesessen hatte, als sie den Kommissaren ihren verschwundenen Vater erklärte, ging ihr sein Gesicht nicht mehr aus dem Sinn. Die eindringlichen Augen, diese tiefe Entspanntheit, die Offenheit, die Fragen, die er nicht aussprach. War sie verliebt? Wenn ja, war das die ungewöhnlichste Verliebtheit, die ihr jemals widerfahren war.

»Mama! »Levi war zornig. Er hielt ihr eine Reihe auf die Schnur gezogener Walnüsse entgegen und sie beachtete ihn nicht.

»Wunderbar, mein Levi, das hast Du großartig gemacht.« Sie zog seinen Kopf zu sich und küßte ihn auf den Scheitel, er wand sich. »Dann kannst Du jetzt die Kuvertüre mit Igor machen.«

Ihr Koch Igor kam aus der Küche. Er war damals Alikas erster Angestellter gewesen. War in der Apotheke aufgetaucht, weil er als gebürtiger Georgier von ihrer Küche gehört hatte und für sie kochen wollte. Alika hatte ihn an den Herd geschickt, ihm beim Kochen zugesehen und dann mit wachsender Begeisterung seine georgisch-berlinerischen Gerichte gegessen. Erst danach erfuhr sie seine Geschichte. Igor war ein auf Bewährung entlassener Totschläger. Und er war Koch. Der einen Gast seines Friedrichshainer Lokals erschlug, weil der ihm sein Essen vor die Füße warf und darauf spuckte.

Alika stellte Igor ein und ließ ihn vorsichtshalber niemals zu ihren Gästen. Normalerweise, das Spülwasser in der Wodkaflasche war ein typischer Igor gewesen. Der Würgegriff danach leider auch. Aber solange sie acht gab, er auf sie hörte und niemanden erwürgte, war alles in Ordnung. Igor war Alikas rechte Hand und Levi wie ein Sohn für ihn.

»Guck mal, Iggy«, Levi trug seine krumme Nußschnur wie einen Schatz in die Küche.

Alika fragte sich, wie sie mit Levi hatte schwanger werden können. Sein Vater hatte sie zunächst mit seinem unbändigen Willen und seiner zur Schau gestellten Macht beeindruckt. Ihr war noch nie ein so männlicher und zugleich mächtiger Mann begegnet. Und er war ein beeindruckender Liebhaber.

Sie war eine junge Kunststudentin und ahnte nicht, auf wen sie sich einließ. Als sie dann erfuhr, was für ein brutaler und skrupelloser Mann Jurij Iwanow war, empfand sie nur noch Verachtung für ihn und beendete sofort das Verhältnis.

Selbstverständlich hatte sie verhütet, und verschwendete keinen Gedanken an eine Schwangerschaft, als nach der Beziehung ihre Regel ausblieb. Ohnehin hatte sie genug mit den Auswirkungen von Iwanows Wut zu tun, in dessen Weltbild keine Frau das Recht hatte, ihn zu verlassen. Er terrorisierte sie Tag und Nacht. Belagerte sie mit seinen Bodyguards, stand immer wieder unangemeldet vor der Wohnungstür ihrer WG und schlug schließlich zu, als sie ihm nicht nachgab.

Als Alika dann plötzlich ein Bauch wuchs, war es zu spät für eine Abtreibung. Und Iwanow ging in seiner Egozentrik sofort davon aus, daß nur sein Kind in ihr entstehen konnte. Immerhin bedrohte er sie nun nicht mehr, sondern achtete darauf, daß sein Kind keinen Schaden nahm.

Levi boxte sich auf die Erde. Und Alika war ihrem wundervollen Sohn unendlich dankbar dafür. Nichts an ihm erinnerte an seinen eiskalten und kriminellen Vater. Umsomehr dagegen an den kraftvollen Großvater.

Guram war damals zu Levis Geburt gekommen. Zwei Tage danach, aber immerhin. Wenn er überhaupt kam, dann zu spät. Zu Alikas Abitur, dem UdK-Abschluß, der Restauranteröffnung. Immer war die Weltenrettung wichtiger gewesen, immer eine Krise dramatischer, ein Krieg drohender. Immer hatte Alika sich hinten angestellt. Hinter Georgien, diesen unbesiegbaren Gegner.

Guram war Levi sofort verfallen. Er bestand darauf, das rotgesichtige, dralle und laut plärrende Bündel sähe genauso wunderschön aus wie seine Mutter Alika nach ihrer eigenen Geburt. Aber Guram hatte Sorge, auch Levi könnte aufhören zu gedeihen, blieb und hielt seinen Enkel, so fest er konnte.

Zum ersten Mal seit der Flucht hatte Alika wieder einen Vater. Sie sprachen viel in dieser Zeit, über ihr verstrichenes und getrennt verbrachtes Leben. Sprachen über die Lawine, die Alika im Alter von sieben Jahren in den Bergen mitgerissen hatte. Ihr Vater hatte seine Erstgeborene mit bloßen Händen aus dem Schnee gegraben. Sie mit dem eigenen Atem wiederbelebt, an seiner Brust geborgen, atemlos in die Klinik gebracht und, als er erfuhr, daß Alika ein zweites Leben geschenkt worden war, erlitt er auf dem Flur der Kinderstation seinen ersten Herzanfall.

Alikas Eltern hatten sich sehr geliebt, und sie liebten ihre aus dem Eis Wiedergeborene. Aber ihr Vater war, nachdem er die Lawine besiegt hatte, nicht mehr der Gleiche, nicht mehr der starke, durch nichts zu erschütternde Mann. Die Lawine hatte ihm die angeborene Zuversicht genommen, daß nichts Schlimmes geschehen könne, wenn er nur aufrecht und geduldig sein Ziel verfolgte und kämpfte. Das Schicksal hatte ihm gezeigt, wie verletzlich, wie gefährdet ein Mensch ist, der liebt. Die Narbe auf ihrer Stirn erinnerte Alika immer daran. Das Eis hatte ihr Gesicht und ihr Leben geteilt, ein Leben genommen und ein zweites geschenkt. Ihres und das ihres Vaters.

Levi war drei Wochen alt, als Guram unruhig wurde. Über Alika klagte, mit ihr über Igor, den vorbestraften Koch, stritt, über Levis Vater, den brutalen und rücksichtslosen Russen, das Restaurant mit den Tischen aus alten Türen und den unübersichtlich bunten Gästen. Und über ihre zweite Heimat Berlin, diese krause Stadt, die Stadt ohne Berge, ohne georgischen Mutterboden, ohne eine ihm verständliche Seele.

Sie war froh, als er schließlich aufbrach. Immer war sie froh, wenn er verschwand, ihr seit der Lawine ängstlicher und getriebener Vater.

Aber nicht dieses Mal. Hagedorn, der sonderbare Polizist mußte ihn suchen. Er würde ihn finden, nur er. Da war ein Band zwischen ihnen. Sie kannten sich, gehörten zusammen, als wäre er ein Kaukasier. Vielleicht war er Jude wie ihre Mutter.

Igor und Levi kamen aus der Küche, Levis Gesicht war mit Schokolade verschmiert, er grinste. Alika breitete die Arme aus. »Was hast Du ihm gegeben, Igor? Er wird noch kugelrund werden.« Sie wischte ihrem Sohn die Schokolade von den Wangen.

»Hungrig soll er nicht losgehen«, sagte Igor, »wer weiß, was er bei seinem Vater bekommt.«

Die Atmosphäre war schlagartig zerstört. Levi wand sich aus Alikas Armen und widmete sich den nächsten Nüssen. Aber alle zerbrachen. Er schlug sie kurz und klein.

»Levi«, sagte Alika sanft.

Levi stopfte sich die Nüsse in den Mund.

»Es ist doch nur der Nachmittag«, sagte sie.

»Ich will aber nicht!«, schrie ihr Sohn und sah sie wütend an.

»Er ist Dein Vater.«

»Darauf scheiße ich!«

Levi sprang auf und lief in die Küche.

»Der Junge hat Geschmack«, sagte Igor.

»Jetzt fang Du auch noch an.«

Igor holte ein Kehrblech und fegte die Nußreste zusammen.

»Er hat nun einmal Besuchsrecht«, sagte Alika.

»Deutsche Richter. Du hast sie als Gäste und solltest wissen, was von denen zu halten ist.« Igor setzte sich neben sie. »Was Iwanow dem Jungen alles erzählt, überwacht doch auch keiner.«

»Levi ist stark, er weiß, was er davon zu halten hat.«

»Er ist zehn und sollte nicht mit so einem Monster allein sein.«

»Hör auf, Igor.« Alika wurde zornig.

»Ich weiß mehr über ihn als Du.«

»Knastgeschwätz, darauf gebe ich nichts.«

»Iwanow ist gefährlich, Alika.«

»Ich habe keine Angst vor ihm.«

»Das solltest Du aber, zumindest um Deinen Sohn.«

Die Restauranttür wurde aufgestoßen.

Jurij Iwanow war ein kleiner, sehniger Mann von beachtlicher Präsenz. Er näherte sich Alika. Sein Blick war kalt. »Wo ist mein Sohn?«

Igor holte ein Hackbrett aus der Küche, legte es krachend auf den Tresen und ließ eine Lammkeule darauf klatschen. Mit finsterem Blick auf Levis Vater schärfte er sein Messer.

Iwanow sah unverändert Alika an. »Wo ist mein Sohn?«

»Versteckt sich vor Dir«, sagte Igor.

»Haltʼs Maul, Koch.«

Igor entbeinte die Keule, das Messer glitt durch das Fleisch.

Alika seufzte. »Setz Dich doch. Kann ich Dir etwas anbieten? Levi ist sicherlich noch etwas holen.«

»Das geht von unserer Zeit ab.«

Alika zuckte die Schultern. »An mir liegt es nicht.«

Igor schob Fleischbrocken auf einen Spieß, dazwischen Zwiebelscheiben und Paprikastücke, immer im Wechsel. Er behielt Levis Vater im Auge.

Iwanow legte langsam sein Handy auf den Tisch, den Blick auf Alika gerichtet. »Ich kann meine Angestellten rufen«, sagte er, »die finden ihn.«

Alikas Narbe rötete sich. »Willst Du ihm Angst machen?«

»Er ist Russe und mein Sohn. Er hat keine Angst.«

»Vor Deinen Gorillas hat jeder Angst.«

»Außer Dir.« Levis Vater tippte in sein Handy.

»Warte«, sagte Alika, »ich hole ihn.«

Iwanow steckte sein Handy ein. »Ich bin draußen«, sagte er. »Fünf Minuten. Dann schicke ich sie rein.« Er ging zur Tür. »Und Dein Koch«, sagte er, »lebt gefährlich.«

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22 декабря 2023
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9783945611081
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