Читать книгу: «Fallsucht», страница 4

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Hanna verlernte das Weinen und wurde eine ernste junge Frau.

Mit trödelnden Rockschößen sah Hauptkommissar Oskar Blum seinen Freund traumwandlerisch den Flur hinunterschaukeln. Er zog Jakob in sein Büro. »Und, was wollte Focke?«

»Mir einen Fall andrehen.«

»Wundert mich nicht, Dein Fehlen reißt eine Riesenlücke in den Dienstplan. Wir arbeiten wie die Tiere.« Oskar hüpfte auf die Tischplatte.

»Welche?«

»Was meinst Du?« Oskar sah seinen Freund an. Die Freizeit an irgendwelchen Gewässern hatte seine Haare durcheinandergewirbelt und zwei rötliche Halbmonde auf die Wangen gelegt, direkt unter den Rand seiner altertümlichen Nickelbrille.

»Ich frag mich, welche Tiere. Ameisen vielleicht?« Wieder dieser verträumte Blick. Wo ging er bloß immer hin? Oskar seufzte. »Du bist unmöglich.«

Jakob kehrte auf die Erde zurück und sah ihn an. Tief, dunkel, mitten hinein in die Region, die gesperrt war. »Krank bin ich, sonst nichts,« sagte er. Er löste seinen Blick von Oskar, der schnell die Zugbrücke hochzog. »Deshalb hätte Focke es auch gern inoffiziell. Vor Ende der Gerichtsverhandlung und der internen Ermittlung.«

»Die Ratte.«

»Es ist eine Chance zu beweisen, daß ich noch alle Tassen im Schrank habe.«

Oskar zog die Augenbrauen zusammen. »Du mußt nichts beweisen. Epilepsie ist keine Geisteskrankheit. Alle wissen, daß Du Dich überhaupt nicht verändert hast.«

»Nichts ist mehr, wie es war. Mein Körper spinnt und die Seele steht ratlos daneben. Unterschiedliche Reifungsgrade sozusagen.«

»Kauf’ Dir eine neue Brille, dann wird das schon wieder. Und Deine komischen Wanderschuhe haben ein Loch, weißt Du das eigentlich?«

»Hast Du nicht eben erst gesagt, die Brille sähe aus wie von einem Filmstar und darauf würden die Frauen stehen?«

»Der Filmstar war ein kleiner Junge, der das zaubern lernt. Sag nicht, Du weißt immer noch nicht, wer das ist, es ist wirklich hoffnungslos. Nun hast Du schon so viele Bücher, und wenn es mal welche gibt, die wirklich jeder liest, kennst Du sie nicht.« Oskar schüttelte den Kopf. »Laß uns mit den Schuhen anfangen und wenn Dein Schlag bei Frauen nachläßt, verhandeln wir noch mal.«

»Das ist der neuralgische Punkt, da gehen die Nähte immer kaputt. Ich bringe sie erst mal zum Schuster.«

»Wo lebst Du eigentlich?« Oskar verdrehte die Augen. »Aber zurück zu ernsteren Dingen. Es gefällt mir nicht, daß Focke Dir halboffiziell Arbeit gibt. Er haßt Dich, nicht erst seit Pommerenkes Umzug ins vergitterte Tegel. Du hast allen Grund, auf der Hut zu sein.«

»Kein Problem, ich habe doch meinen weltbesten Beschützer. Der ist sogar Polizist«, sagte Jakob und lachte.

Sie hatte Medizin studieren wollen, um Kranken zu helfen. Der Klassiker. Erst fühlt man mit allem, daß das Kinderherz platzt, schient Drosselflügel, füttert Igel und am Ende wird man Krankenschwester oder Ärztin. Dumm, kindlich, typisch weiblich.

Vielleicht hätte sie aus den Fähigkeiten ihrer langen Finger am Cello etwas machen können. Sie wurde herumgereicht, bei drittreihigen Orchestern eingeladen, gewann provinziell rotwangige Preise. Aber sie wollte ja die Mühsal der Welt in ihre feinen, großen Hände nehmen. Niemand errettet mit dem Cello, dachte sie.

Dummes Mädchen, womit hebt man die Welt aus den Angeln, wenn nicht mit dem Cello?

Also verdammte sie die Sehnsucht nach der Musik, den liebkosenden Bogen und die schwingenden Saiten in die Nächte und studierte in ihrer Heimatstadt Medizin. Bimste sich abfragbares Wissen ein, schnitt Leichen auf, beatmete Dummis und lauschte dröhnendstimmigen Professoren, die medizinische Weisheiten ausgossen. Das Sauerbruchgequatsche stieß der verhinderten Cellistin bald gallig auf.

Die wenigen ihr begegnenden Patienten behandelte sie wie in ihrer Wohnung gelandete Singvögel, erwarb sich einen bespöttelten Ruf im Kreis der Kommilitonen, Respekt beim medizinischen Hilfspersonal und wurde nach sechs Jahren universitärer Infiltration als Dreiviertelärztin auf die Straße gespuckt. Voller Elan suchte sie eine Stelle an einem Krankenhaus, um ihr vor Wissen schier platzendes Hirn endlich durch die Arbeit am Patienten zu entlasten.

Da gerade der Schweinezyklus eine Überzahl aufstrebender Jungärzte produzierte, zog es sich. Kommilitonen landeten je nach Charakterstruktur hinter dem Lenkrad eines Taxis, in bereichernder Pharmabranche oder medizinischer Lobbyarbeit.

Hanna schob die Promotion hinterher, leistete schlechtbezahlte Nachtschichten im Rettungswagen der Feuerwehr ab, berauschte sich an ihrer rotgekleideten Bedeutung und nahm zuweilen ihr Cello zur Hand. Bis sie nach zwei Jahren eine Krankenhausstelle fand.

Endlich stand sie, zuversichtlich in kompetentes Weiß gekleidet, den Zumutungen gegenüber, die die biologische Uhr für das zerbrechliche, zerbrechende Menschlein vorsieht. Patienten schauten zu ihr auf, legten Leben bereitwillig in junge Akademikerhände. Aber was anzufangen war mit dem gereichten Leben, hatten die schmalen, langen Finger keine Ahnung. Hanna hatte ein Übermaß an Mitgefühl zu bieten, aber keine wirkliche Hilfe.

Nach drei Monaten in der Krankenhausschleuse hatte sie gelernt, den Menschen, der von Schwester Fatma in ihr Gesichtsfeld gerollt wurde, in seine mechanischen Bestandteile zu zerlegen. Je länger sie arbeitete, desto kleinteiliger wurde ihr Einsatzgebiet. Am Ende des sich stetig verengenden Mausegangs angekommen, kroch man in seine Nische. Und säbelte, nach zehn, fünfzehn Jahren Aus- und Fortbildung, am Fließband trüb gewordene Linsen aus alten Augen, ersetzte sie durch Hightechprodukte, bei deren Einkauf man alte Kommilitonen wiedersah, nicht übermüdet, in schicken Autos und mit unsauberen Angeboten aus ledernen Aktenkoffern, die auszuschlagen nur einer zu großen Frau einfiel.

Das war nicht, was Hanna sich vorgestellt hatte. Sie wollte Cello spielen. Klänge hörbar machen, die darauf warteten, geweckt zu werden, jahrhundertelang. Ein Tropfen sein im ewigen Fluß, immer gleich, immer neu. Hanna wollte für Patienten den Bogen führen, den Fluß in Gang halten, ihren Klang finden, Freiräume, den Igel wieder vor die Tür, den Spatzen in die Lüfte entlassen. Flausen halt, weggepustet in der Zugluft des Apparates.

Aber kehrt man um so weit entfernt vom Ausgangspunkt?

Das Studium hielt sie für Wartezeit, Lehrjahre, in denen man gestutzt wird, sich an Etüden abarbeitet, ermüdend, aber notwendig für die künftige Fingerfertigkeit.

Dann kam die Facharztausbildung, die Jagd nach den Linsen. Sie versuchte Kinderheilkunde, Psychiatrie, Gynäkologie, fand Freunde, Förderer, aber keinen Gefallen. Alles schien beliebig und austauschbar, sie selbst immer öfter am falschen Ort.

Sie las kalhlköpfigen Kindern vor, verscheuchte grüne Männchen, legte überraschten Müttern ihre blutigen Babys an den Hals. Immer ratloser werdend entschied sie sich, vorläufig, für die Allgemeinmedizin, die Weggabelung vor den Linsen. Also blieb sie im Krankenhaus, leistete ab, was eine künftige Allgemeine so durchstehen muß. Nachtschichten folgten auf Spät-, Frühschichten auf Sonntags- und Sechsunddreißigstundendienste, Bereitschafts- auf Feiertagsdienste.

Sie wurde müde. Die Schultern beugten sich auch ohne Cello, der Kopf geriet aus der lauschenden Neigung in die defensive Senkung. Ihr Instrument staubte ein, sie schlief viel und wurde empfindlich. Wartete auf OP-Termine, um ihr Rabattmarkenheftchen mit dem vorgeschriebenen Blutzoll zu füllen. Verbrachte ihre Zeit mit Organen, die sich schlecht benahmen oder erschöpft den Geist aufgaben. Statt den Bogen zu führen, befreite Dr. Johanna von BredowMenschen von Körperteilen, als hätte der Schöpfer aus purem Übermut ein paar Saiten zu viel aufgezogen.

Das Leben reduzierte sich auf den biologischen Verfallsprozeß und die kluge, dunkelschöne Ärztin wurde sein Müllmann.

In Berlin begegnet man der allgegenwärtigen Hektik mit extremer Zeitdehnung. Und so bewohnte die in einer Anglerhütte an der Havel erstochene Schlachtenseer Professorengattin Sarah Schubert noch immer ihr enges, dunkles vorletztes Zuhause. Das wiederholte Drängen des Witwers, den Leichnam freizugeben, war in den Fluren der Rechtsmedizin reaktionslos verhallt. Immerhin war nicht auszuschließen, daß er selbst Hand angelegt hatte. Jakob fand also dreizehn Monate nach dem Mord nicht nur den zuständigen Rechtsmediziner, sondern auch das tiefgekühlte Opfer vor.

»Ein präziser Stich in den Rücken mit einem kultiviert geschliffenen Messer. Zweischneidig im übrigen. Keine Billigware erfreulicherweise. Keine unerträgliche Anzahl von Rupturen, keine ausgefransten Wundränder, zerprügeltes Muskelgewebe, zerfledderte Gefäße. Ein einziger, wunderschöner Schnitt. Lege artis«, erklärte der Leiter der Rechtsmedizin Dr. BerndCumloosen Jakob auf dem Weg zum Leichenkeller der Dauergäste.

»Ein Ästhet als Mörder?«, fragte Jakob.

»Das ist nicht mein Revier. Es war einfach schön, so etwas mal zu sehen, nach all dem Gefetze und Gemansche, das mir normalerweise in meine Stahlwannen gelegt wird.«

»Und wie wurde der Stich ausgeführt?«

»Kommen Sie her, ich zeige es Ihnen.« Dr. Cumloosen zog Jakob an seine Brust, hob den rechten Arm und stieß ihn mit einem unterdrückten Schrei in den Rücken. »Das Ganze, so würde ich meinen, in liegender Position.« Er schob Jakob weg. »So weit wollte ich es mit Ihnen nicht treiben.«

»Danke, sehr zuvorkommend.« Jakob sah an seinem Hemd hinab.

»Keine Sorge, die letzte Hirnmasse hängt an einer anderen Schürze.« Cumloosen grinste. »Ich freue mich immer, daß unter der Schädeldecke meiner Klienten tatsächlich ein Großhirn verborgen ist.«

»Was allerdings keinen Rückschluß auf die Lebenden zuläßt«, sagte Jakob.

Der Rechtsmediziner öffnete eine Tür und machte Licht. »Hier haben wir die Liegenschaften der letzten drei Jahre und die befristete Unterkunft Ihres Havelabgangs.« Er ging die Fächer ab, verglich die Nummern mit seiner Akte und zog ein Fach auf. »Sie kennen das Obduktionsprotokoll?«

Jakob nickte, atmete durch und hob mit beiden Händen vorsichtig das Leichentuch. Obwohl er wußte, was ihn erwartete, erschrak er. Der Körper wies so viele Narben auf, daß kaum noch ein Stück unversehrter Haut blieb. Nur das ebenmäßige Gesicht und die Brustwarzen ragten blank und schutzlos in das kalte Licht des Leichenkellers.

»Jahrelange Marter in der Qualität unserer schönen Gegenwart. Was brauchen wir das Mittelalter, wir perfektionieren alles.« Cumloosen deutete auf runde Narben auf beiden Brüsten, sicher sechzig, siebzig an der Zahl. »Der Klassiker: Zigaretten die kleinen, Zigarillos die mittleren, Zigarren die großen. Das erkennen Sie an der Hautstruktur, die unebene Oberfläche der Glut produziert zerklüftete Vernarbung. Erinnert an vulkanisches Gestein, finden Sie nicht?«

»Können Sie sehen, wie alt diese Verletzungen sind?"

»Waren Sie mal auf Lanzarote? Eine vernarbte Landschaft, über einen langen Zeitraum entstanden. Ähnliches kann man hier sagen, wenn auch auf Menschenmaß zusammengeschnurrt. Wußten Sie, daß Narbenbildung ein steter Prozeß ist, der Jahrzehnte andauern kann? Diese Frau wurde sicher seit vielen Jahren und bis in die nahe Vergangenheit gequält. In Ermangelung neuer Fläche hat der Täter die alten Krater immer wieder benutzt. Vielleicht waren es auch verschiedene Täter über längere Zeit, selbst wenn die Tote nicht wie eine Prostituierte aussieht, könnte sie aus dem Milieu solche Verletzungen als Andenken mitgebracht haben. Vielleicht weiß der Witwer etwas über das Vorleben seiner Frau?«

»Wie muß denn eine tiefgekühlte Leiche aussehen, damit Sie sie für eine Prostituierte halten?«

Der Rechtsmediziner zog die Augenbrauen hoch. »Stark geschminkt, gefärbtes Haar, grell blondiert, tiefschwarz oder signalrot, als Zeichen eines Milieus, das an differenzierenden Feinheiten der Natur nicht interessiert ist. Sarah Schubert hingegen«, er strich der Toten andeutungsweise über das Gesicht und hob vorsichtig ihre Hand hoch, damit Jakob die gepflegten Fingernägel sehen konnte, »hat viel von der Natürlichkeit gehalten. Angeborene leichte Welle im braunen Haar, ein Minimum an Wimperntusche, dezenter Lippenstift, keinerlei Schmuck und kein Nagellack an Fingern oder Zehen. Ich fürchte, für ein solches Angebot gibt es unter unseren Geschlechtsgenossen zu wenig zahlungsbereite Interessenten.«

»Und diese schrecklichen Ringe auf den Oberarmen?« Jakob deutete auf Narben, so breit und tief, daß man sie als, wenn auch verkalkte Abflußrinne hätte benutzen können.

»Das war mir auch neu. Ich habe mich an Photos von Bräuchen der Körpertätowierung durch Schnittwunden erinnert. Sakrifizierung nennt sich das. Ein sehr interessantes Feld für die Bildung von Narbengewebe. In unserem Fall dürften es Schlingen gewesen sein, die langsam zusammegezogen wurden. Vorzugsweise Metall, aber auch Nylon wäre denkbar. Mir scheint, unser Freund hat experimentiert, bevor er zufrieden war.«

»Womit zufrieden, um Himmels willen?«

»Narbenbildung, Wundränder, Blutungsintensität. Beschäftigen sie sich mal mit Sadisten, Kommissar, auch hier regiert zuweilen der handwerkliche Anspruch. Was gegen meine Unterweltthese spricht, zugegeben. Reine Warengesellschaft, keine Handwerkstradition.«

»Dann könnte auch der jahrelang Quälende sie getötet haben?«

»Warum nicht? Aber das ist spekulativ. Kommen wir zum Ende der äußeren Situation. Ich denke, für den inneren Befund ziehen wir uns in mein Büro zurück.« Er hob an einer Schulter und Hüfte die Leiche an und deutete auf den Rücken. »Eine Peitsche hat er auch benutzt, unser Landschaftsgärtner. Ebenfalls über einen langen Zeitraum, das Narbengewebe überlagert sich. Leder würde ich annehmen, vier bis sechs Zentimeter breit, auch wenn ich das nicht mit Sicherheit sagen kann, da die Oberhaut so großflächig vernarbt ist, daß sich kaum die Richtung der Peitschenhiebe feststellen läßt. Falls sie sein Werkzeug finden, wird Gewebe im Leder zurückgeblieben sein. Beweistechnisch haben Naturprodukte ihre Vorzüge.«

»Leider haben wir nichts gefunden.«

»Suchen Sie die Folterkammer. Privat, dezent, schallisoliert. Mit Peitsche und Kippen allein geben sich diese Ehrenmitglieder unseres Geschlechts nicht zufrieden, es braucht Raum, um eine Frau so zuzurichten«, sagte der Rechtsmediziner. »Und wo immer das hier geschehen ist, gibt es Blut, das sich nicht verbergen läßt. Und sei es unter Wandfarbe oder Putz. Viele kleine Lavaspritzer warten erkaltet darauf, daß Sie sie finden.«

Dr. Cumloosen ließ die Leiche vorsichtig wieder auf den Rücken absinken und deutete auf ihren Brustkorb. »Bei den Hautverletzungen ist es nicht geblieben. Acht Rippen waren gebrochen, zwei davon scheinen mir die ältesten Verletzungen an diesem armen Körper zu sein. Zusammen mit einer sehr unangenehmen Splitterfraktur des Brustbeins und der rechten Clavicula circa fünfzehn Jahre alt, entstanden, als das Längenwachstum des Knochenapparates noch nicht ganz abgeschlossen war.«

»Könnte Sie einen Unfall als Jugendliche gehabt haben?«

»Naheliegend, aber unwahrscheinlich. Keine der Frakturen ist medizinisch versorgt worden. Ich gebe einen aus, wenn Sie in ihren Krankenunterlagen etwas über einen Treppensturz oder wie man das in solchen Fällen nennt, gefunden haben.« Er sah Jakob fragend an.

»Das muß ich noch ermitteln. Ihre Papiere waren gefälscht.«

»Sie ist seit über einem Jahr unser Gast.«

»Der Kollege hat es mit der Bandscheibe.«

»Wie auch immer. Kommen wir zu den frischen Arbeiten, die der Mörder vorgenommen hat. Zunächst einmal müßte Ihnen aufgefallen sein, daß die rechte Schulter unseres Gastes etwas Unvollständiges hat.« Cumloosen deutete auf die freiliegenden Schultergelenkknochen. »Er hat den Deltamuskel von Schulter und Oberarm gelöst und, als sei das noch nicht genug, schließlich die linken Adduktoren herausgeschält.« Er deutete sich in den Schritt, hob ein Bein und zeigte auf seine Leiste. »Post mortem glücklicherweise. Übrigens sind das die Muskeln, mit denen man auf dem Pferderücken die Knie und ohne Pferd einiges andere zusammenklemmt.«

»Auch ästhetisch ansprechend?«

»Durchaus, zumal unser Opfer sehr muskulös im Schulterbereich war. Vermutlich hat sie Sport getrieben oder hatte mal einen körperlichen Beruf.«

»Ist es nicht schwierig, die Adduktoren zu entfernen?«

»Für mich nicht.«

»Also ein medizinisch vorgebildeter Täter?«

»Das ginge mir dann doch zu weit. Sowas lernt man spät, nicht mal als Chirurg, eigentlich nur in meinem Metier. Das ist die einzige Facharztausbildung, die etwas vom Schlachtergewerbe hat.«

»Die linke Hand fehlt.«

»Auch sie wurde fachgerecht abgetrennt. Ich vermute ausgezeichnetes Werkzeug, das verdeckt eine Menge mangelndes Geschick. Vielleicht kümmern Sie sich eher darum als um einen irren Rechtsmediziner ...«

»..., den Narbengewebe fasziniert«, ergänzte Jakob.

»... und der seine künstlerische Ader an Menschenfleisch auslebt.«

»Was ist mit der Tätowierung?« Jakob deutete auf den Oberbauch.

»Gute Frage, sieht ein bißchen aus wie bei den Cowboys, finden Sie nicht? Bonanza an der Havel. Da ich nicht weiter wußte, habe ich damals schon ein paar gute Photos gemacht. Außer, daß es sich nicht um ein Brandzeichen, sondern um die Aufbringung von Farbe handelt und sie ebenfalls postmortal zugefügt wurde, zwei, drei Stunden nach dem Exitus und nicht in tiefere Schichten der Epidermis eingedrungen ist, fällt meiner Profession nichts dazu ein. Vielleicht fragen Sie im Milieu, das hatten wir ja schon.«

Die inneren Verletzungen Sarah Schuberts, denen Sie sich bei einem Kaffee, den Jakob nicht anrührte, im Büro des Rechtsmediziners widmeten, waren weniger ästhetisch. Teils lange zurückliegende Verletzungen von Schamlippen und Vagina hatten zu so weitreichenden Vernarbungen geführt, daß Cumloosen tröstend hinzufügte, sie habe wenigstens auch nichts Schlimmes mehr spüren können.

Gebärmutter und Eierstöcke zeigten Narben einer alten, schweren Entzündung. Vermutlich, wenn auch zu spät, um spurlos abzuheilen, antibiotisch behandelt. Sie mußte hohes Fieber gehabt haben, vielleicht fände sich wenigstens darüber ein Beleg in irgendeiner Krankenakte. An sich sei das ein Fall für stationäre Behandlung, aber wer weiß, das Milieu und so weiter. Abgetrieben oder ein Kind geboren hatte sie nicht. Wenn die Metritis früh aufgetreten sei, wofür einiges spreche, sei sie dazu auch gar nicht in der Lage gewesen.

»Dieser Schoß war nicht fähig, ein Nest für ein Menschenküken zu bilden, akute Einsturzgefahr,« faßte der Rechtsmediziner zusammen. Was immer dieser Tod noch gewesen war, Erlösung sicherlich auch. Wenn Sarah Schubert ein schönes Leben gehabt hatte, dann mußte es lange zurückliegen oder gerade erst begonnen haben.

V

In den letzten Jahren hatte Hanna den Zug verloren. Die Rabattmarkenhefte füllten sich widerborstig langsam und zwischen Pieper und Bereitschaftsliege verabschiedete sich der Schlaf.

Wie müde kann ein Mensch sein? Sickernd und knirschend füllt Sand jede Ritze, zwängt sich zwischen die Zehen, gerade dann, wenn sie Halt suchen, die verlorenen Glieder. Nicht jeder muß fallen, aus dem Pleistozän säuselnde Vergeblichkeit tut es auch.

Vor einem Jahr schob man Hanna, die sich die Sandkörner schon aus den Ohren schüttelte, auf die Innere II, nachdem ein Kollege sich unfreiwillig in die Geschlossene hatte verlegen lassen. Dort zogen die Zwölftoner in ihren Arbeitsalltag ein.

Es hatte sich gut leben lassen mit ihrer zwitschernden Haubenmeise, den nur von der großen Frau vernommenen Tönen. Bis zur Inneren II. Es war zu dissonant dort und darunter bodenlos still. Nicht wie auf der Kinderonkologie, wo der nahende Tod halbfertiger Menschlein allen den Atem raubt. Oder der Neurochirurgie, wo Hirne aus Zusammenhängen fallen. Die Innere II war die Station zementierter Lebensachsen, ein Ort ohne Umkehr. Hierher kam, wer nach chirurgischen Maßnahmen einfach nicht gesund werden wollte, vor dem Pflegeheim. Sie war voller Menschen, die versuchten, ihre letzten Atemzüge auf möglichst große Abstände zu verteilen, um Zeit zu gewinnen. Aber Lebenszeit läßt sich nicht verlängern.

Tickeditack, sie verrinnt.

Hanna betrat die Station und glaubte, es sei das Orchester der Kranken, das so verstimmt die Flure in Besitz nahm. Sie glaubte an das Klammern der Todesnahen, an krallende Finger in weißbekittelten Unterarmen. Tun Sie doch was, helfen Sie, ich habe Schmerzen, bekomme keine Luft, habe Angst Angst Angst.

Sie brauchte zwei Monate, um die Quelle der quälenden Töne zu entdecken. Auf dem Flur stritt ein Angehöriger mit der Oberschwester, also ging sie in den Lagerraum für die medizinischen Hilfsmittel, um sich auf das Diktat der Arztbriefe konzentrieren zu können, und schloß die Tür hinter sich. Es fiepte, kreischte und dröhnte um sie. Sägen quietschten über Metall, in Röhren jaulte der Misston. Sie sah sich um, aber da war nur ihr Arbeitsgerät, steril verpackt, systematisch gelagert. Kanülen, Spritzen, Klistiere für die Verstopften, Windeln für die Inkontinenten, künstliche Darmausgänge. Starr saß sie da, wollte nach Mutter und Schwestern rufen, die abdecken, raustragen sollten.

Aber niemand kam, niemand half. Ihre Brust wurde eng, ihr Atem flach. Sie verließ rückwärts den Raum, schloß die Tür und horchte. Auf dem Flur baumelte ein einsamer Galgen über dem Bett einer Verstorbenen. Die zu zwei Dritteln geleerte Infusionsflasche sang wie ein Xylophon, durch das der Wind zog. Sonst war es still. Vorsichtig öffnete sie die Tür einen Spalt und fauchender Lärm stürzte auf sie ein. Sie stieß sie wieder zu und lehnte sich dagegen.

Hanna war gebürtige Berlinerin und also an pragmatische Umgehungslösungen gewöhnt. Sie mied das Ersatzteillager, schickte Schwestern und Pfleger und schrieb ihren Verwaltungskram in der Besenkammer. Aber sie wurde empfindlicher. Jedes Krankenzimmer dröhnte lauter, von Monat zu Monat. Es war, als ob die Infusionsbestecke, die kreischenden, kopfüber hängenden Infusionsflaschen, die vollgebluteten, eitrigen Verbände sie verhöhnten. Sie alle waren bei guter Stimme und Hanna kaufte sich Gehörschutz.

Sie bat um Versetzung, warf all die Jahre in die Waagschale, in denen sie nun schon, bei schlechter Bezahlung, ihre Lebenszeit drangab. Man lächelte verständnisvoll, na ja, die Innere II, und versicherte, sein Bestes zu geben, einen Ersatz zu finden.

Sehr wahrscheinlich.

So hangelte sie sich von Tag zu Tag, Woche zu Woche, immer müder, immer weniger in der Lage, einen Ausweg zu sehen jenseits der Geschlossenen. Sie wurde gereizt und aggressiv. Ihre zunehmenden Ausfälligkeiten und beißenden Kommentare hielten ehrfürchtige Patienten für Kompetenz. Bis Hermine Neuhaus auf ihre Station kam und Hanna nach achtundvierzig Stunden Dienst und also Dauerbeschuß einer Schönbergsinfonie, die auf Endlosschleife gestellt war, am Ende war wie noch nie in ihrem Leben. Der Pfleger Christian schob sie hinein, ein weicher Mann, dessen Mitgefühl um einige Kubikmeter zu groß war für seine Arbeit und der sich mit Cannabis die Erkenntnis vom Leib hielt, daß er besser umschulen sollte. Wie durch einen Tunnel sah Hanna, daß Christian außerordentlich sanftmütig mit der Kranken umging. Er stoppte vor Hanna, die Mühe hatte, in dem riesigen Krankenhausbett das kleine Vögelchen zu entdecken, das sie aus braunen Äuglein ansah.

»Das ist Hermine«, sagte er, »und sie möchte bei uns sterben.«

Jakob öffnete das quietschende Tor zur Kolonie Edelweiß. Er sah sich um. Kein Wegweiser, nur Hecke rechts und Hecke links. Sorgsam schloß er das Tor und folgte dem Weg.

Die Lebensgefährtin von Heinz Schuman fand, er könne die Laube gar nicht verfehlen, es sei die mit dem höchsten Fahnenmast und dem größten Berliner Bären darauf. Er versuchte, die Dächer der Häuschen zu erkennen. Alles eingeschossig. Umrahmt wurde die Schrebergartensiedlung in drei Richtungen von den Rückseiten der Gartenhäuser. Fünf Stockwerke anno Anfang zwanzigsten Jahrhunderts, dazwischen sorgsam gestutzte Obstbäumchen laut Nutzgartengebot. Nur hier und da ragte ein einzelner Laubbaum weit über seine Nutzgeschwister hinaus. Bestandsschutz. Mindeststammumfang anfüttern und draußen waren die fällsüchtigen Gartenfreunde.

Keine Fahnenstange weit und breit, nur Wetterhähne und Dachpappe. Jakob sprang hoch, um weiter gucken zu können.

»Wat suchen se denn?« Auf ihren Unkrautjäter gestützt stand eine dicke Frau im dicken Pullover auf dem schmalen Weg zwischen ihren strotzenden Rabatten.

»Den Schuman, Tagchen, wissen Sie, wo der seine Laube hat?«

»Kenn’ ick nich’, wer soll det sein?«

»Hat ’ne große Bärenfahne, hat’s mit dem Rücken und ist Kommissar. Ich bin sein Kollege.«

»Ach, die Stimmungskanone. Na, wenn der’s mit dem Rücken hat, bin ick Mutter Theresa. Sticht gerade Spargel, falls Ihnen das was sagt.« Sie deutete mit einem Arm vage den Weg runter. »Immer weiter, und dann linke Hand, ist nicht zu verfehlen, hat als einziger ein blaues Tor. Herthafan, die arme Sau.«

Jakob genoß den von trompetenden Maivögeln besungenen Weg zum blauen Tor. Er sah Schuman zu, wie er gebeugt die Spargelstangen freilegte. Kraftvoll stieß er den Spargelstecher in die Erde, sanft legte er die Stangen in den Korb. Jakob öffnete das jaulende Tor und Schuman richtete sich auf.

»Was willst denn Du hier? Schickt Dich der Chef, um zu gucken, was meine Diensttauglichkeit macht? Kannst gleich wieder gehen. Untauglich, sagt mein Doktor. Und wenn Du mich fragst, kann das auch noch ’ne Weile so gehen.« Er deutete um sich. »Hier gibt’s jede Menge zu tun.«

»Freut mich auch, Dich zu sehen«, sagte Jakob. »Hast Du keinen grünen Spargel?«

»Sag’ nicht, daß Du Dich damit auskennst, Du Schlaumeier. Ich hab’ zwar nicht studiert, aber von Spargel verstehe ich mehr als Du.«

»Immerhin weiß ich, daß er nicht auf Bäumen wächst.«

»Sehr beeindruckend.«

»Können wir uns nicht irgendwo setzen? Dann kann ich Dir auch sagen, warum ich hier bin.«

Schuman schaufelte gemächlich das letzte Loch zu, streifte sich die Hände ab und ging zur Laube. Von der Terrasse nahm er einen Stuhl und stellte ihn Jakob auf den Rasen davor. Er selbst blieb stehen, lehnte sich an die holzverkleidete Umrandung der Terrasse und verschränkte die Arme.

Jakob setzte sich. »Sarah Schubert, erinnerst Du Dich?«

»Die Ex-Prostituierte mit dem feinen Pinkel aus Schlachtensee als Mann? Sicher erinnere ich mich.«

»Focke hat mir den Fall gegeben.«

»Na, da haste ja nicht mehr viel zu tun. Zeit für die Lorbeeren.«

»Und was meinst Du, wer es war?«

»Hast Du die Akte nicht gelesen? Ich denke, Du bist so eine Leseratte, sind meine Texte nicht gut genug? Der Alte natürlich. Verstrickt sich bei den Befragungen ständig in Widersprüche, war nervös wie eine Jungfrau auf dem Abschlußball.«

»Aber er hat ein Alibi. War er nicht in den USA zu einer Tagung?«

»Ja, ja, der Herr Physiker, schlauer Typ, aber nützt ihm nix. Klar hat er das nicht selbst gemacht. Aus dem Milieu hat er sich wen geholt und ist dann ab nach Amerika. Du hast doch gesehen, wie die Alte zugerichtet war? Klassische Milieukarriere. Die Brandwunden, der zerlegte Unterleib, der gefälschte Ausweis, ist doch sonnenklar. Er hat sie da rausgeholt, der feine schlaue Pinkel. Irgendwo in Westdeutschland, wenn Du mich fragst. Hat ihr ein schickes Häuschen in Berlin gebaut und gedacht, die Vergangenheit liegt irgendwo hinten und stört nicht weiter. Und nach ein paar Jahren hatte er sie satt, oder sie hat nicht gespurt. Also ist er zurück ins Milieu und hat zugesehen, daß er sie los wird, mit überschaubaren Kosten, trennen wäre teuer gekommen.«

»Hast Du für all das Beweise, die ich noch nicht kenne?«

»War der nicht im Norden irgendwo, bevor er hierher kam? Haben die sich da nicht kennengelernt? Das einzige, was noch fehlt, um ihn festzunageln, ist der Auftragnehmer. Ich tippe mal Hamburg. Kann doch nicht so schwer sein, den zu finden, nicht mal für Dich.«

»Und was ist mit der Tätowierung?«

»Milieu, sag’ ich doch. Eine Art Markierung. Ich kann mich nicht um jede Perversion unserer Kundschaft kümmern.«

»Hast Du mit Hamburg schon was unternommen?«

»Amtshilfe beantragt, im letzten Sommer. Bevor ich nachhaken konnte, trat meine Bandscheibe auf den Balkon.«

»Sonst noch etwas, das ich wissen muß?«

»Was sollte das sein, wie gesagt, alles so gut wie fertig. Bißchen blöd, wie lange das her ist, zugegeben, aber Focke hätte auch früher jemanden darauf ansetzen können. Warum der Dich eingeteilt hat, ausgerechnet jetzt, ist mir nicht ganz klar.«

»Was soll das heißen?«

»Na, Du bist ja auch krank und so.«

»Vor allem und so.«

»Krank ist krank. Darüber spottet man nicht. Du magst ja ein aufgeblasenes Arschloch sein, aber trotzdem bist Du krank.« Er holte sich einen zweiten Stuhl von der Terrasse und setzte sich neben Jakob. »Weißte denn schon, ob es für die Frühpensionierung reicht?«

Jakob stand auf und brachte seinen Stuhl zurück. »Was ist eigentlich mit Deiner Fahne? Ich sehe nicht mal einen Mast.«

»Ich sage nur Vereinsheim. Die Herren und neuerdings auch Damen der Kolonie Edelweiß haben abgestimmt. Sechsundvierzig zu eins. Die Fahne stört das Gesamtbild, daß ich nicht lache. Berlin ist auch nicht mehr, was es mal war.«

»Ich muß dann. Wenn mir noch Fragen einfallen, komme ich wieder vorbei.« Jakob wandte sich zum Gehen.

»Aber immer gerne, ich geh’ hier nur zum Schlafen weg. Meine Alte hatte auch schon mal bessere Laune. Dann lieber Spargel.«

Natürlich ist das Krankenhaus ein Ort zum Sterben. An einem so großen Klinikum wie dem Hannas wurde praktisch täglich das Zeitliche gesegnet. Aber niemals, das ist ehernes Gesetz seit Urvater Dr. med. Abrahams Zeiten, niemals, weil der Patient es möchte.

Es wird gestorben gegen den schweißtreibenden Einsatz von Ärzten, Pflegern und Krankenschwestern. Gegen den Lebenswillen, das Nach-Luft-Japsen, Schreien um ein paar Tage mehr auf diesem überfüllten Planeten. Keine Qual ist zu groß, keine Erniedrigung zu tief, um nicht noch verlängert zu werden. Das Weitermachen, Gezerre an schon halb Entglittenen ist das Gesetz des Krankenhauses. Nach sieben Jahren an diesem Ort wurde Hanna, als sie in das Lächeln des zerknitterten Spatzengesichts von Hermine Neuhaus inmitten von gleißendem Weiß sah, plötzlich bewußt, was sie tat.

399
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Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
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511 стр. 2 иллюстрации
ISBN:
9783945611012
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