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II

An manchen Tagen hätte man einfach liegenbleiben sollen. Im Nachhinein. Wäre Jakob an diesem Tag nicht aufgestanden, wäre er nicht gefallen. Aber selbst wenn, was hätte es genützt, das Schicksal läßt sich nicht austricksen, es kann warten, Zeit ist nicht sein Problem.

Aufstehen konnte Jakob schon immer gut. Außer im August vielleicht, wenn die Hitze jeden Knochen zu Brei kocht und niemand morgens noch die Kraft findet, der vor Tatendrang sprühenden Sonne bei ihrer Jagd nach neuen Rekorden hinterherzuschlurfen. An diesem knirschenden Februarmorgen jedoch stand der Fixstern selbst spät auf und blinzelte ihn sanftmütig wach. Auf dem Balkongeländer erschien Frieda, seine Spatzengesellschaft und quasselte ihm das Ohr fusselig. Jakob streckte sich, steckte noch einmal die Nase in die nachtwarme Bettwäsche, versuchte sich erfolglos einzubilden, er röche Hanna.

Seine Füße erkannten auf dem Weg zum Bad die Dielen wieder, wie jeden Morgen. Nun wohnte er schon so viele Jahre in dieser Wohnung, ohne sie satt zu haben. Er war gerade zwanzig geworden und im dritten Semester an der FU, als ihm eines Abends dämmerte, daß sein Vater nie in die Wohnung zurückkehren würde, in der seine Mutter acht Jahre zuvor gestorben war. Bei der nächsten Berliner Stippvisite zwischen irgendwelchen Bildhauerprojekten in Norwegen und Schafsfarmen in Irland sprach er ihn darauf an. Ich brauche kein Zuhause, antwortete sein Vater, Deine Mutter ist tot.

Vier Wochen später war Jakob in diesen ehemals schönen Altbau der Jahrhundertwende eingezogen, plattgebombt und wieder hochgefummelt in kargen Nachkriegsjahren, nachlässig verputzt Anfang der Achtziger, im mittelschönen Schöneberg, ohne Park, ohne Schnick, aber sein erstes eigenes Zuhause. Nicht in seiner jetzigen Wohnung hatte er angefangen, sondern im Parterre. Mittendrin, alles auf einer Ebene. Ein Zimmer, Küche, Innenklo, mit Bürgersteiganschluß, sehr gesellig. Alle klopften bei ihm ans Fenster, wenn sie den Hausschlüssel vergessen hatten. Postboten gaben Pakete ab, Eltern ihre Kinder, Alte ihre Hunde. Lüftete er, nahm man das als Aufforderung, die neuesten BZ-Katastrophen auszutauschen, kommentierte Jakobs Frauenbesuche und seine Einrichtung, riet zu mehr frischer Luft und weniger Büchern, brachte Kuchen vorbei und gebratene Rippchen.

Nach zwei Jahren griff Jakob aus Sorge um den Fortgang seines Studiums zu, als im dritten Stock eine Zwei-Zimmer-Wohnung frei wurde. Sein Blick ging fortan nicht mehr auf den Bürgersteig und die von Rüden als Kiosk mißbrauchten Baumscheiben vor dem Haus, sondern auf weit ausladende Baumkronen der Linden zur Straße und einer Kastanie zum Hof. Und da saß er nun, zwanzig Jahre später, und seine Zehen kannten jedes Astloch zwischen dem Bett und dem Bad. Durch die Baulücke gegenüber, seit fünf Jahren bodennah belegt von einem Gebrauchtwagenhändler, sah er die Sonne sieben Monate im Jahr untergehen, über dem Hof schien sie nach Ersteigung des Nachbarhauses morgens auf sein Bett.

Kann wohnen schöner sein?

Oskar war in den rund fünfzehn Jahren, die sie sich inzwischen kannten, sechs oder sieben Mal umgezogen. Jakob hatte immer mit angefaßt und sich gefragt, was ihn trieb. Vielleicht war Jakob als Kind einfach zu viel herumgekommen. Wenn sein Vater zum Aufbruch blies, hatten sie meist nur wenige Tage, bis es losging in irgendwelche Länder, zu irgendwelchen noch nie dagewesenen Vorhaben. Jakob war in seine Bücher getaucht, hatte sich einen Schlafplatz zuweisen lassen, erkundet, in welcher Himmelsrichtung seine Heimatstadt lag, sein Bett dorthin ausgerichtet und gewartet, bis es wieder zurückging. In eine neue Wohnung, einen anderen Kiez, aber heim nach Berlin.

Oskar hatte ihn oft gefragt, warum er nicht wegzöge. Der Umgebung seiner Wohnung waren die zwanzig Jahre mehr auf dem Buckel nicht gut bekommen. Aufgerauht und durchgegraut. Die Menschen sahen immer weniger zueinander und immer mehr auf ihre Displays. Die Straßenraubfrequenz nahm zu, im Parterre ließ niemand mehr seine Fenster offen, die Haustür hatte eine dauerhaft defekte Gegensprechanlage zur Verstärkung bekommen, die Eckkneipe war einer Daddelhölle gewichen, der kiezige Kramladen einer Billigdrogerie, der Schreibwarenladen rechts neben seiner alten Wohnung, vor dem sich zu Schulbeginn vor zehn Jahren noch die Kinder zappelnd anstellten, beherbergte jetzt eine Karaokebar.

Andererseits war es unter anderem diese Karaokebar, die ihn bleiben ließ. Eine Nachbarin hatte aus ihrem Schlafzimmer versucht, die vor die Bar tretenden Sänger an einem Sonntagmorgen um kurz nach vier mit dem Inhalt einer Wasserpistole auf ihre vom Alkohol vernebelten Hirne zum Schweigen zu bringen.

Da das aus dem vierten Stock wenig Erfolg hatte, bat sie den Kommissar um polizeiliche Mithilfe. Jakob traf mit dem schweigsamen Mieter aus dem ersten OG eine konspirative Vereinbarung. Der übernahm die Wasserpistole zu treuen Händen und die um ihren Schlaf gebrachte Nachbarin aus dem vierten dafür seinen Treppenwischdienst. Das war Nachbarschaft wie in alten Zeiten. Erst recht, als die Karaokebar an ihre Kundschaft Regenschirme ausgab und schließlich eine beschichtete Markise installierte. Sie nahmen es sportlich und brüteten über einer kreativen Antwort.

Nein, Jakob wußte nicht, warum er hätte umziehen sollen. Ringsum veränderte sich die Stadt, als hätte sie einen überdimensionierten Düsenantrieb unterm Hintern, seine Wohnung aber wurde immer gemütlicher. Bücher krabbelten die drei Meter vierzig hohen Altbauwände hoch, jedes Jahr baute er Regalbretter an. Seine Pflanzen wuchsen und rankten, als gälte es, ein vegetabiles Methusalemprojekt zu verwirklichen. Er hatte seinen Lesesessel mit dem Hocker aus Marokko davor, in den seine Fersen zwei Kuhlen gegraben hatten. Sein wohlig quietschendes Bett an der Wand, umbaut von Bücherregalen mit dem Ausblick auf den schönsten Balkon der Welt, auf dem die netteste Spatzendame von ganz Schöneberg ihr Zuhause hatte.

Jakob genoß das. Eine Wohnung, in die sein langer Körper wie in eine abgeliebte Wolldecke einwuchs, umgeben von Dingen, die ihm etwas bedeuteten, eingerahmt von Nachbarn. Ihre Geschichten, Streitereien, ihre Erfolge und Krankheiten. Frisch verliebtes Gelächter über den Balkon rangeweht. Zorn und endlose Gespräche die ganze Nacht, an- und abschwellend, um zu retten, was längst untergegangen ist.

Eine Frau, die zum Hof jeden Morgen ihr Schlafzimmmerfenster aufriss, der berufsmotivierten Trainerin von einer CD folgte, indem sie die Arme hob und senkte, in die Hände klatschte, den Morgen mit weit aufgerissenen Augen begrüßte und sich immer wieder einhämmern ließ, dies sei ein guter Tag. Und die eines Abends, als Jakob heimkam, auf der Treppe saß, um sich versammelt vier volle Einkaufstüten wie eine Schar müder Kinder, und heulte wie eine Fünfjährige, daß Rotz aus allen Öffnungen lief. Jakob setzte sich dazu, sah nach, was sie eingekauft hatte und bot ihr eine Banane an. Sie lachte, zog den Rotz hoch, sie teilten sich die Banane, sie ging hoch in ihre Wohnung und am nächsten Morgen riss sie wieder die Augen auf, klatschte in die Hände, als sei nichts geschehen.

Es war ja auch nichts geschehen. Außer, daß sie Jakob jetzt ansah, wenn sie sich begegneten, die Tür aufhielt, wenn er angeschlendert kam mit seinen langen Beinen und offenen Mänteln. Mehr nicht. Weniger nicht. Zieht man da aus, nur weil die Welt sich ändert? Man schleppt Bücher drei Treppen hoch und hofft, daß kein Erdbeben oder eine Fliegerbombe diese Höhle zum Einsturz bringt.

Zwei Stunden, nachdem Kommissar Jakob Hagedorn seine großen Füße auf den Dielenboden seiner Höhle gesetzt hatte, steckte er mit beiden Armen tief im Dienst, Frieda war weit weg bei ihrem winterlichen Tagwerk, sein Bett so kalt wie die Straßen der Stadt. Um zehn Uhr dreizehn lief ein Notruf ein, bewaffnete Geiselnahme in einer Weddinger Oberschule. Das zuständige Kommissariat war von Krankenstand und Sparmaßnahmen leergefegt und so half die Mordkommission aus. Um elf Uhr siebenundzwanzig waren die Schüler evakuiert, das Gelände gesichert, der Geiselnehmer saß im Lehrerzimmer mit einer unbekannten Zahl Geiseln. Jakob betrat das Gebäude, schickte die versammelten Einsatzkräfte nach draußen und klopfte.

»Weg von der Tür, Ihr Scheißer, oder ich murkse sie alle ab.«

»Ich bin Jakob Hagedorn, Hauptkommissar, außer mir ist hier niemand. Die anderen warten draußen und fragen sich, was sie für Dich tun können.« Jakob horchte. Leises Wimmern drang aus dem Lehrerzimmer. »Also ich fände Kaffee eine gute Idee.«

Stille.

»Nur müßten die draußen wissen, ob mit Milch und Zucker. Milch würde ich nicht hinterkriegen, dieses cremige Zeug, aber das ist natürlich Gechmacksache. Was hältst Du davon, wenn sie Dir gleich eine Kanne reinschicken, Beilagen extra, und ein paar Becher dazu?«

Stille.

»Nicht, daß ich was gegen Selbstgespräche habe, aber könntest Du vielleicht mal antworten? Oder noch besser, Du läßt die Frau raus, die da so wimmert, man kann sich ja kaum unterhalten. Und für Dich ist es sicher egal, ob nun einer mehr oder weniger. Also, ich bestelle mal eben den Kaffee und dann komme ich zurück.«

Jakob verließ den Vorraum, ging durch das Portal und schickte einen beispringenden Kollegen Kaffee und Brötchen holen.

»So, bin wieder da, kommt alles. Hier um die Ecke gibt es einen Kiosk, der hämmert Euch was zusammen. Ist ein freundlicher Kiez, wußte ich gar nicht. Die Panke plätschert vorbei, paar schöne Bäume auf dem Hof, was will man mehr, um ins Leben zu starten.«

Die Tür öffnete sich einen Spalt und ein verquollener Mann um die Vierzig taumelte heraus. »Das ist die Heulsuse«, donnerte es aus dem Hintergrund. »Der ist nicht mal ’nen Pott Kaffee wert.«

Jakob zog den Mann aus dem Vorraum, winkte den Kollegen am Portal und übergab ihnen den Schluchzenden. Er ließ sich das Tablett mit dem Kaffee und eine große Tüte belegter Brötchen geben, stellte beides auf den grauen Linoleumboden vor die Tür des Lehrerzimmers, nahm sich ein Brötchen und setzte sich neben die Tür. »Zimmerservice«, rief er. Die Tür öffnete sich einen Spalt.

»Woher weeß ick, daß da nüscht zum Schlafenlegen drin ist?«

»Laß Deine Gäste essen und trinken. Wenn sie nach einer Stunde noch wach sind, ist der Rest für Dich. Aber dann ist der Kaffee kalt.«

»Leck’ mich.«

»Du kannst uns natürlich auch einfach vertrauen«, sagte Jakob und biß von dem Brötchen ab. »Der Käse schmeckt nach Aldi

Eine behaarte Hand, geschmückt mit einer beachtlichen Goldkette, zog an dem Tablett, krachend schloß sich die Tür. Jakob wartete schweigend und kauend. Gummi, dachte er. Eine Schrippe war das zuletzt im Mittelalter.

»Großmaul«, hallte es eine Viertelstunde später aus dem Lehrerzimmer, »bist Du noch da?«

»Wie könnte ich weggehen, ohne mich von Dir zu verabschieden.«

»Sag denen, ich will Kaviar. Und Lachs. Schampus. Persecco.«

»Wir sind hier im Wedding, wo sollen die das denn herholen?«

»Ist mir doch egal, KadeWe oder so. Genau, ich will einen richtig fetten Freßkorb. Von ganz oben, wo die Geschniegelten immer sitzen und uns angucken, als müßten wir ihnen die Schuhe putzen.«

»Weißt Du, wie lange das dauert? Da müssen wir erst den Chef vom KadeWe überzeugen, daß er Dir kostenlos einen zusammenstellt, weil, auf Staatskosten geht das gar nicht, Du kennst ja unseren Finanzsenator, spart an allen Enden. Und außerdem jagst Du dann die nette kleine Kollegin hin, die vor der Tür wartet und die bekommt den ganzen Zoff ab, dabei kann sie gar nichts dafür. Nee, das gefällt mir nicht, das lassen wir.«

»Und wenn ich meinen Geiseln was antue?«

»Sitzt Du in der Scheiße. Und Kaviar kriegst Du trotzdem nicht. Schmeckt übrigens sowieso nicht. Stell Dir vor, Du langst in ein Salzfaß, in dem etwas Glibberiges schwimmt, das nach nix schmeckt.«

»Und warum essen die das dann alle?«

»Damit Leute wie Du denken, daß sie die sind, denen die Schuhe gehören und nicht die, die sie putzen.«

»Ich hab’ aber Hunger.«

»Das waren zehn Schrippen, haben Deine Geiseln Dir nichts übriggelassen?«

»Ich bin eben gut erzogen.«

Jakob lachte.

»Hör’ auf zu lachen, Du Arsch.«

»Sei nicht so empfindlich. Was hältst Du von Pizza?«

»Gibt der Polizeipräsident Dir das wieder?«

»Der mag keine Pizza.«

Man einigte sich auf eine Einladung aus Anlaß der neuen Bekanntschaft. Jakob kehrte mit einem Stapel Pizzakartons auf dem Arm zurück in den Vorraum. »So langsam wird mir das aber zu blöd, mit Dir immer durch die Tür zu reden. Ich lasse meine Knarre hier draußen, wenn Du willst, kannst Du mir ja dabei zusehen, und dann kommen die Pizza und ich rein.«

Stille.

Jakob legte seine Waffe auf die Fensterbank und öffnete langsam die Tür. Die Mitte des Lehrerzimmers war gefüllt mit zusammengeschobenen Tischen. Darum gut dreißig Stühle, darauf jede Menge Schulhefte, Bücher, Stiftmappen. Lehrers Arbeitsplatz, nicht mal ein eigener Schreibtisch für jeden. Am gegenüberliegenden Ende des Raumes verschanzte der Geiselnehmer sich hinter einem Regal, in seinem Arm eine Geisel, an deren Hals er theatralisch ein großes, böse blinkendes Messer drapiert hatte. Die Frau war langstrippig blond, in Lehreruniform. Jeans, T-Shirt, Pullover drüber, Nickelbrille. Sie sah aus, als bräche ihr demnächst das Genick von allein.

Links vom Geiselnehmer unter dem Fenster saß die Reihe der übrigen Geiseln, acht müde, schweißnaß gerötete Lehrergesichter, die sich in ihr schon lange so ähnlich erwartetes Schicksal fügten. Sie waren aneinander und an die jetzt im Februar unangenehm heißen Heizungsrohre mit Seilen gefesselt. Jakob ging zielstrebig auf die raumgreifende Tischplatte zu und verteilte seine Pizza. »Leider wußte ich nicht, was Deinen Geschmack trifft, deshalb habe ich die Speisekarte rauf und runter mitgebracht. Salat ist nicht dabei, ich dachte mir, Du bist sicher kein Grünzeugesser.«

»Woher willst Du das wissen?«, fragte der Geiselnehmer, ohne das Messer vom Hals der Lehrerin zu lösen.

»Soll ich noch mal losgehen und welchen holen?«

»Quatsch, stell’ Dich da hinten an die Wand zu den anderen und binde Dich fest.«

Jakob öffnete seelenruhig den ersten Pizzakarton und wedelte sich den Duft zu. »Das mache ich sicher nicht. Hast Du schon mal von einer Einladung zum Essen gehört, wo nur einer essen darf? Also, laß die Frau los, komm’ her und such Dir eine aus.«

Der Mann führte die Frau zu den anderen Geiseln und versuchte sie zugleich anzubinden und Jakob nicht aus den Augen zu lassen.

»Deine Pizza wird kalt, Mann. Glaubst Du, ich zahle so viel Geld für kaltes Gummi? Die Brötchen waren schon schlimm genug. Also, laß die Frau gehen und komm endlich her.«

Der Mann legte den Kopf schief und sah ihn an. Die Schulglocke läutete das Ende der sechsten Stunde ein.

»Siehst Du, jetzt hat sie Schulschluß. Was sollen denn ihre Leute zuhause denken, wenn sie nicht kommt.«

Der Mann ließ die Lehrerin los. Entgeistert sah sie zwischen ihm und dem Messer hin und her. »Worauf wartest Du, Alte, verschwinde, bevor ich es mir anders überlege.« Er wedelte mit der Hand, als sei sie eine lästige Fliege. Die Frau sah zu Jakob, der zur Tür deutete und sich ein erstes Stück Pizza nahm. Hastig stolperte die Frau los, riss die Tür auf und verschwand. Jakob sah zur weit geöffneten Tür und fragend zu dem Geiselnehmer. Der hob sein Messer, schüttelte den Kopf und ging selbst zur Tür. Sah vorsichtig um die Ecke und verschwand im Vorraum. Jakob kaute weiter. Als der Mann zurückkehrte, hatte er Jakobs Waffe in der Hand. Jakob kaute nicht mehr.

»Ist die geladen?«, fragte der Geiselnehmer und ließ sie am ausgestreckten Zeigefinger baumeln.

»Das solltest Du nicht ausprobieren. Wenn die draußen einen Schuß hören, wird gestürmt und das überlebst Du nicht. Nimm lieber etwas Pizza. Hier, mit schön viel Salami.« Jakob schoß die Schachtel quer über den Tisch in Richtung des Geiselnehmers. Die Pappe kam an einer wildledernen Stiftmappe ins Straucheln, stieß gegen einen krummen Heftstapel, der sich zögernd entschloß, vom Tisch zu stürzen. Der Geiselnehmer öffnete ungerührt den Karton, riß ein Stück Pizza ab, faltete es zusammen und schob es sich in den Mund. Mit fettigen Fingern griff er wieder nach der Waffe, dieses Mal schon deutlich routinierter. »Der bei mir um die Ecke ist besser.«

Jakob zog die Schultern hoch. »Die Schrippen waren schlimmer.«

»Kaviar muß ich trotzdem mal kosten.«

»Wenn wir alle heil draußen sind, lade ich Dich ins KadeWe ein."

»So siehst Du aus.« Der Geiselnehmer lachte. »Ich und ein Kripomann, noch dazu einer vom Mord.«

»Woher weißt Du das, sollte ich Dich kennen?« Jakob nahm sich eine Papierserviette vom Stapel der übrigen Pizzakartons, wischte sich sorgsam die fettigen Finger ab und sah den Geiselnehmer an.

»Du bist eine Legende, Mann. Ein Bulle, der ’nen Kollegen in den Knast bringt, weil der seine Mausi umgenietet hat, obwohl der Fall längst zu war und so ’ne arme Sau schon stellvertretend einsaß. Den, der so was fertig bringt, wollte ich schon immer mal treffen, habe mich bloß gefragt, ob ich dafür einen abmurksen muß.« Er griff sich ein weiteres Stück Salamipizza, klappte es zusammen und schob es quer in den Mund. Seine Kiefermuskeln waren Hochleistungseinsatz gewöhnt, Jakob dachte an eine Schlange, die eine Maus hinunterwürgt. »Wie man sieht, geht es auch anders«, sagte er schmatzend, »freut mich, Dich kennenzulernen, Hagedorn.«

Jakob griff den Stapel Pizzakartons und deutete fragend zur angebundenen Lehrerschar. Der Geiselnehmer nickte. Jakob brachte die Pizza zu den Lehrern, öffnete zwei Kartons und bat sie, mit der jeweils freien Hand zuzugreifen. »Es tröstet mich, daß wir uns nicht kennen. Ich vergesse kein Gesicht, mit dem ich es mal zu tun hatte.«

»Sag mal, stimmt das, daß Du die Leichen siehst, so als Geister und so? Hat mir ein Kumpel erzäht, der saß mit einem Mörder von Dir in einer Zelle.«

»Hier im Raum sind keine und das sollte auch so bleiben, wenn Du mich fragst.«

Der Geiselnehmer starrte ihn an und rülpste. »Hängt ganz davon ab, ob ich kriege, was ich will.«

»Und das wäre?«

Der Geiselnehmer nahm sich Jakobs Waffe, spielte damit und zielte auf die Orgelpfeifen an der Heizung, die nach Luft schnappten. »Gerechtigkeit für meinen Bruder.«

Jakob ging zu den Geiseln, nahm die offenen Pizzakartons weg und schob sich so in die Schussbahn. »Wer ist denn Dein Bruder? Wart Ihr schon so weit, das zu klären?«

»Alexander, so heißt er«, sagte eine Frau mit geschlechtslosem Bürstenhaarschnitt leise. »Wir mußten ihn von der Schule verweisen.«

Der Geiselnehmer kam auf die Frau zu und schwenkte die Waffe vor ihrem Gesicht. »Gar nix mußtet ihr. Ein super Schüler ist er, immer gute Noten hat er nach Hause gebracht.«

Jakob sah die Frau an.

»Er ist einfach nicht mehr erschienen.« Sie zog die Schultern hoch. »Was sollten wir denn machen?«

»Vielleicht mal seinen großen Bruder fragen, Ihr Penner? Ich hätte das schon geklärt. Stattdessen kündigt Ihr ihm, so ein Scheiß.«

Jakob drehte sich zu ihm um. »Wie heißt Du, großer Bruder?«

»Wladimir, verflucht noch mal. Und ich bin ein guter Bruder.«

»Deshalb bist Du jetzt hier.«

»Genau, Alter, man hilft seinem Bruder.«

Jakob drehte sich zurück zu den Lehrern. »Also, wie war das mit Alexander?«

Die Frau mit der Bürste antwortete, nachdem sie jeden ihrer Kollegen angesehen hatte. »Alex war mein Schüler, in Mathe, Physik und Chemie. Er war zuletzt in der 10a und ein guter Schüler, Sie haben recht. Manchmal dachte ich, er ist so etwas wie mein verlängerter Arm in der Klasse, verantwortungsbewußt, sehr aufmerksam bei Ungerechtigkeiten, ruhig und besonnen.« Wladimir grunzte zufrieden, setzte sich auf den Lehrertisch und legte Waffe, Messer und Handy neben sich. »Vor gut vier Monaten wurde er dann achtzehn. Das ist alt für einen Schüler der zehnten Klasse, vielleicht hat ihm das etwas ausgemacht, ich weiß es nicht, zumindest hatte er sich in den Wochen vor seinem Geburtstag verändert. Verunsichert wirkte er, angeschlagen. Ich habe versucht, mit ihm zu sprechen, aber er wollte nicht.«

»Sind Sie seine Klassenlehrerin?«, fragte Jakob.

»Nein, das ist Lars Thom«, sie deutete auf einen jungen, durchtrainierten Kollegen, der sich an den Heizkörper klammerte. »Es schien mir nur, Alexander und ich hätten einen Draht zueinander, deshalb habe ich es versucht.« Sie rieb sich mit der freien Hand das Handgelenk der anderen. Das Seil schnitt ihr ins Fleisch. »Gut eine Woche nach meinem Gesprächsangebot war er verschwunden, um seinen Geburtstag herum. Normalerweise nehmen wir in solchen Fällen Kontakt auf zu den Eltern, aber Alex war achtzehn, das heißt, er kann tun und lassen, was er will.«

»Scheiße, Mann, Ihr müßt Euch doch trotzdem kümmern«, sagte Wladimir.

»Wenn Sie mich ausreden ließen, wüßten Sie, daß wir das getan haben.«

Wladimir hob begütigend die Arme, Waffe, Messer und Handy in Griffweite.

»Erzählen Sie weiter«, sagte Jakob und behielt ihn im Blick.

Die Frau räusperte sich. »Das Sekretariat war erst nach vier Wochen bereit, den obligatorischen Brief zu schicken. Androhung des Schulverweises wegen der angesammelten unentschuldigten Fehlstunden im üblichen Amtsdeutsch. Mir war das zu wenig, deshalb bin ich zu Herrn Thom gegangen und habe mit ihm geredet.«

Alle sahen zu dem jungen Lehrer, der sich dichter an die Heizung drückte.

»Er sah keinen Handlungsbedarf?«, half Jakob nach.

»Schlimmer. Das geht uns nichts an, hat er gesagt, Alex ist volljährig.« Die Frau sah den Kollegen strafend an. »Also habe ich dem Jungen selbst geschrieben. Versucht, Hilfe anzubieten, ohne daß ich wußte, worum es ging.«

»Er hat nicht reagiert?«

»Leider. Da ich stur bin, habe ich ihn in seiner Wohnung aufgesucht. Sturm geklingelt, angerufen. Bin immer wiedergekommen.«

»Aber er wollte sich nicht erretten lassen?«

»Offensichtlich nicht. Man muß wohl irgendwann akzeptieren, wenn die angebotene Hilfe ausgeschlagen wird.«

Wladimir griff sich das Messer, stand auf und ging auf die Frau zu, zerschnitt das Seil um ihr Handgelenk und warf die Stücken auf den Fußboden. Als er im Rücken Jakobs Bewegung bemerkte, drehte er sich um und griff zu der Waffe auf dem Tisch. »Denk’ nicht mal dran, Alter«, sagte er und setzte sich wieder.

Jakob war müde. Die letzte Nacht hatte ihn mehr erschüttert als ihm lieb war. Wenn er sich bewegte, roch er immer noch Hannas Haut. Sein Kopf funktionierte nicht richtig. Als sei etwas verrutscht. Die Stimmen schienen durch den Raum zu wandern, er hörte es klopfen, wahrscheinlich die Heizkörper. »Bleibt die Frage, was vorgefallen ist«, sagte er. »Alexander war ein guter Schüler, integriert in die Klassengemeinschaft,« er sah die Lehrerin an, »ein Vorbild sogar.« Sie nickte heftig. »Was ist an einem achtzehnten Geburtstag so dramatisch, daß es einen aus der Bahn wirft? Die Freiheit, die Verantwortung, für sich selbst auf eine neue Weise einstehen zu müssen, überfordern manchen, aber doch nicht Alexander?«

Jakob sah fragend die Heizung entlang. Der Klassenlehrer Thom sah auf den Boden, sein Ohrring blinkte in der Sonne wie eine Kaskade von Sternen. Jakob blinzelte, aber die Sterne breiteten sich im Raum aus und tanzten in den durch das Fensterlicht angeleuchteten Staubbahnen, als wollten sie eine neue Milchstraße bauen, mitten im Lehrerzimmer einer Weddinger Oberschule.

Wenn das Liebe ist, dann verschiebe das bitte auf später.

»Sex«, zischte es von links. Ein zu früh gealterter Lehrer mit einem Gesicht wie ein aufgegebener Bergwerksschacht reckte das Kinn. Jakob dachte an die fließende Bewegung von Hannas Hüften. »Meinen Sie etwa, er war bis zu seiner Volljährigkeit Jungfrau?«, fragte er.

»Fragen Sie doch ihn«, rief der Lehrer. Mit ausgestrecktem Zeigefinger deutete er auf den Kollegen Thom, dessen Kopf mit dem Ohrring um die Wette leuchtete.

Bin ich jetzt auch noch begriffsstutzig? Der sieht nach fünfzehn Stunden Muckibude die Woche aus und nicht nach Sex.

»Unterrichten Sie Sport?«, fragte Jakob. Der Lehrer hob vorsichtig den Kopf, Jakob staunte über seine verschiedenfarbigen Augen.

»Leistungssport«, zischte es aus dem Stollen, »besonders die Disziplinen auf dem Jungenklo.«

Jakob starrte den Klassenlehrer an. Jetzt waren an beiden Ohren Ringe, auch in der Nase und der rechten Augenbraue. Sie schossen Blitze ab, wie eine zerstörte Hochspannungsleitung. Es knisterte und zischte.

»Unser Sportlehrer ist eine Schwuchtel, so sieht es aus«, donnerte der Stollen. »Und bei Alexander konnte er sich nicht beherrschen. Ich habe sie selbst gehört, auf dem Klo, nach Schulschluß, an seinem achtzehnten Geburtstag. An Alexanders Stelle wäre ich auch nicht wiedergekommen, so wie das klang. Wäre das Gebäude nicht aus der Gründerzeit, die Wände wären eingestürzt.«

Der Geiselnehmer sprang auf, schoß auf den Stollen zu und brachte ihn mit der Faust zum Einsturz. Als er sicher war, daß das eine Maul gestopft war, drehte er sich um und fixierte Lars Thom. Die anderen Lehrer drückten sich weg, der Bürstenhaarschnitt – Mathe, Physik, Chemie – warf sich mit fesselfreien ausgebreiteten Armen vor den Sportlehrer. Jakob sprang auf, sah den Geiselnehmer auf sich zustürzen, umgeben von Brillanten, die funkelten wie ein Sternenregen. Wladimir nahm das Gesicht des Sportlehrers an, die Augen wechselten die Farbe in rasender Folge. Sein Mund öffnete sich und es fielen lauter Sternschnuppen heraus. Die Milchstraße war längst voll. »Wir lieben uns«, war das Letzte, was er hörte. Hanna, dachte er, ich falle.

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22 декабря 2023
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9783945611012
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