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Sie führte kein Konzert auf, befähigte niemanden, sein Leben zu führen, befreit von den Malaisen des Körpers. Das einzige, was sie tat, war, dafür zu sorgen, daß dieses Konzert nicht zuendeging. Die Platte hatte nahe dem Ende einen Sprung, der sie in einer scharfen Rille zum Anfang zurückführte. Alle Musiker waren betäubt von den immergleichen Akkorden und von steigender Angst erfüllt, was geschähe, wenn sie erschöpft zusammensänken. Die Dissonanzen, in die Hanna so quälend eingeschraubt war, sie waren die vertonte Angst des Orchesters, das mit aufgerissenen Augen spielte.

Hanna hielt sich an Hermines Bett fest, hielt dem Blick stand, diesem alten, braunen Blick und verstand, daß alles nur auf die Angst zurückging, es könnte still sein.

Und Hanna ersehnte nichts mehr als diese Stille.

Jede zugeschlagene Tür war Folter. Jede sprechende Stimme, der brodelnde Autoverkehr, der Vielklang der U-Bahn, das Zwitschern der Spatzen, Knispern der Mäuse, alles zu viel, zu viel. Und jetzt zog Hermine Neuhaus in ihr Revier und wollte ihr die Stille bringen.

Sie bekam das schönste Zimmer. Christian legte indische Tücher über Neonleuchten, Hanna saß an ihrem Bett, streichelte die kleine Hand, die so viele und vieles berührt hatte und lauschte auf das Leben, das da mit dürrem Knistern an ihr vorbeizog. Hermine war 94 Jahre alt, hatte ein pralles Leben im Gestern zu bieten und eine gesättigte Gegenwart. Niemand war mehr auf Erden, den sie schätzte, mit dem sie fühlte. Sie wollte heim zu ihren Lieben, je schneller, desto besser.

Mit einer Darmblutung war sie eingeliefert worden, weil eine Apothekerin den Notarzt rief, als Hermine eine Großpackung Einlagen kaufte, um den Blutfluß aufzunehmen. Der Diensthabende hörte Hermine zu, die mehrfach wiederholte, das alles sei ein Mißverständnis, machte eine Darmspiegelung und bot ihr zwei Möglichkeiten an. Erstens Reparaturbetrieb. Sie hatte einen ausgewachsenen Darmtumor, vermutlich bösartig. Metastasen seien wahrscheinlich. Um die Blutung zu stoppen, würde man ihn entfernen. Zweitens, man entließe sie nach Hause, wo sie verbluten würde.

Verbluten ist ein schöner Tod, sagte Hermine. Ich nehme die Zwei.

Aber allein sein wollte sie nicht, ob sie nicht ein Eckchen für sie hätten, sie sei still, brauche nichts. Also landete sie, für einen Tag, höchstens drei, auf der Inneren II, der Endstation, bei Hanna.

Aber der alte Körper versickerte nur langsam. Zu viel Leben mußte auslaufen. Hanna überzog ihren Dienst, hielt Hermines Kopf und ein Wasserglas an die trockenen alten Lippen, schwieg mit einem unverschluckbaren Kloß im Hals, als der Spatz sagte, es würde ihm eine Freude sein, Hanna ihre Tellerchen, Tiegelchen und Tässchen zu vermachen. Im Testament sei ihre Nachbarin begünstigt, die gute Seele. Einen schönen Gruß von Mine, dann würde sie ihr schon alles geben.

Schließlich wurde Hanna vom sie ablösenden Kollegen unter Verweis auf die arbeitsrechtlich maximale Verweildauer von der Station geworfen. Der Spatz plusterte sich ein letztes Mal auf, reckte den Schnabel und tschilpte tapfer, das bringe er schon allein zuende.

Hanna ging. Das war der größte Fehler ihres halb verstrichenen Lebens. Zuhause versuchte sie das Gefieder des Spatzen von ihrer wunden Seele zu schütteln. Sie lief durch die Straßen im eiskalten Berliner Februar, sah den träge trudelnden Schneeflocken hinterher und war zu müde, schlafen zu gehen.

Die vorgeschriebenen 36 Stunden später war sie zurück. Eine renitente Leberzirrhose und ein Blutsturz forderten ihre ganze Aufmerksamkeit und so kam sie erst nach drei Stunden dazu, im Schwesternzimmer nach Hermine Neuhaus zu fragen. Deren Bett war abgeräumt, das Zimmer leer und so nahm Hanna an, daß sie verstorben war. In den Unterlagen war eine Verlegung vermerkt, was Hanna für einen Irrtum hielt. Eine erfolgreich erfolglose Reanimation an einem 86-jährigen Lungenkarzinompatienten sowie zwei Neuaufnahmen später sank sie erschöpft auf einen Stuhl und rief in der Leichenhalle an. Keine Neuhaus. Hermine hatte der Linoleumboden verschluckt.

Kurz vor Hannas Schichtende kam Christian in Mütze und Stiefeln auf die Station. Besonders breit, besonders deprimiert, und schilderte, was geschehen war. Eine Großnichte Neuhaus hatte an der Pforte randaliert, lebensrettende Maßnahmen gefordert und mit Anzeige gedroht. Der neue, leider lebenserfahrungsfreie und sicherheitsverliebte Diensthabende war mit ihr zur Inneren gegangen, hatte die in die Bewußtlosigkeit gesunkene Patientin in Augenschein genommen, Blumenvasen und psychedelische Tücher mit Verachtung gestraft und gesagt, das sei ein Krankenhaus und kein Hospiz. Eine halbe Stunde später war Hermine in den OP geschoben worden, hatte ihr Rektalkarzinom verloren, war zwei Mal wiederbelebt und mit einer großen Kanne Blutplasma versorgt worden.

Hanna spürte etwas in sich platzen, als sich im gleichen Moment die Fahrstuhltür öffnete und ein Krankenhausbett auf den Flur geschoben wurde. Hermines Schnabel war riesig, die Augen geschlossen, das Gefieder ausgefallen. Über dem Bett baumelte ein unverkennbarer Beutel, aus dem ein Schlauch führte und eine graugrüne Masse unter die Bettdecke, in die Reste des Spatzen entleerte.

Sie hatten ihr eine Magensonde gelegt. Sie hatte klar ihren Willen geäußert, eine Patientenverfügung hinterlegt, sie lag im Sterben und sie hatten ihr dieses Sterben verweigert. Das Kreischen des Bettes schlug von Wand zu Wand. Die Magensonde quietschte höhnisch.

Da lief es in Hanna über. Sie schrie und schlug um sich. Riss die Tür zu den Hilfsmitteln auf, warf Kanülen gegen Wände, zerfetzte künstliche Darmausgangspackungen, zerbrach Nährlösungsflaschen an Schränken. Griff Stühle und schleuderte sie den Flur hinunter. Trat gegen Spritzenkartons, zerschlug einen Mülleimer auf dem Tisch und stieg dann, mit einem Stuhlbein in der Hand, auf Hermines, inzwischen verlassen und verloren im Flur stehendes Bett zu. Sie riß die Decke hoch, sah die frische OP-Narbe, das hilflose Schamdreieck dieses fast hundertjährigen Spatzen, sah die kleine Brust sich müde, getrieben, getreten ins Leben, heben und senken, sah den Atem schwer gehen durch den halbgeöffneten Mund, sah die Venen ächzend auf den zerknitterten Handrücken pulsieren, den eingefallenen, vernarbten Bauch und riß mit einer energischen Bewegung die Magensonde ab.

Spritzend verteilte sich der Inhalt des Beutels, seine proteinreiche, physiologisch ausgewogene Nährlösung auf dem Flur. Sie nahm den Schlauch, und richtete ihn auf alles, was sie umgab. Drohte mit ihm, als eine Schwester jammernd in ein Zimmer flüchtete. Sie sah alle Lampen blinken, hörte ein Signalhorn, das sie nicht kannte, dumpf hinter dem höhnenden Gejaule, Gepfeife und Gedonner all der Homunculi, deren fratzenhafte Wesen sich nur ihr zeigten. Als der Beutel leer war, warf sie von einem Rollwagen in ihrer Nähe zwei bräunlichgelb gefüllte Urinale den Flur hinunter, schob Hermine in ihr altes, leeres Zimmer, schloß es von außen ab und verbarrikardierte sich im Schwesternzimmer. Sie fand in der Jackentasche einer Schwester Zigaretten, öffnete das Fenster, steckte sich mit zitternden Fingern eine an und sog mit dem Rauch tief die eiskalte Februarluft in ihre Lunge.

Gut gemacht, Hanna, dachte sie. Sehr, sehr gut gemacht.

VI

Jakob verließ den Gerichtssaal und strömte mit anderen Zuhörern zum Ausgang des Gebäudes. Was erwartete Wladimir, einen Freispruch? Sicher, der Blödsinn mit dem Messer war frei erfunden. Der Stollen behauptete, er sei damit bedroht worden und hatte die anderen Lehrer überredet, das auch so zu sehen. Hätte sein Dienstherr Jakob nicht ein Schweigegebot erteilt – aus gesundheitlichen und internen Gründen wegen noch zu klärender Verletzung der Dienstpflicht –, er hätte das schon richtiggestellt. Wie es wirklich gewesen war, sagte der Bürstenschnitt Katharina Hansig (Mathe, Physik, Chemie), die nur am Hals der Referendarin ein Messer gesehen hatte. Ansonsten war der Fall klar. Wladimir Gonodow hatte bewaffnet eine Schar Lehrer als Geiseln genommen. Vorsatz war ihm nicht nachzuweisen, Messer gehörten ja mittlerweile zum Standardrepertoire der Straßenkleidung.

Der Angriff auf den Stollen mit dem feinen Toilettengehör und der Aversion gegen schwulen Geschlechtsverkehr war provoziert, das war trotz der blumigen Darstellung des Opfers unstrittig. Die freigelassenen Geiseln sprachen für Wladimir, ebenso die Bereitschaft zur Aufgabe. Die Lehrerin Hansig hatte das, so entnahm Jakob den Akten, nach seinem Sturz in die Hand genommen. Sie hatte das Fenster geöffnet, gerufen, wer friedlich sei, könne jetzt reinkommen, Wladimir angewiesen, sich mit dem Gesicht nach unten und ausgestreckten Armen flach auf den Tisch zu legen und mit baumelnden Beinen auf der Tischkante hockend die heranstürmenden Polizisten erwartet.

Zu Jakobs Verletzung konnte sie nichts sagen, außer, daß sie einen Angriff durch Wladimir für unwahrscheinlich halte, da Jakob ihn nicht provoziert hätte. Sollten in der Familie Gonodow je Enkelkinder das Licht der Welt erblicken, wäre sie als Patentante erste Wahl.

Jakob erinnerte sich an nichts.

Nicht an den Stoß, den Fall, die gurgelnden Geräusche, die er gemacht haben sollte, während der Geiselnehmer ihn würgte. Das letzte waren Sternschnuppen, die aus Wladimirs geöffnetem Mund fielen.

Er kicherte. Russischer Sterntaler.

Seine nächste Erinnerung galt dem Krankenwagen. Wildes Geschaukel, Übelkeit, eine Maske vorm Gesicht. Er kippte wieder weg. Besser so. Im Krankenhaus hatte man darauf bestanden, ihn zur Kontrolle eine Nacht dazubehalten. Man vermutete eine Unterversorgung des Gehirns mit Sauerstoff durch den Gonodowschen Würgegriff.

Er fühlte sich nicht gewürgt.

Eher durch die Luft geschleudert wie auf einer Schaukel. Höher und immer höher bis man plötzlich in ein Luftloch zu fallen scheint. Das Seil hängt durch, einen Moment dehnt sich die Zeit und Du wartest mit angehaltenem Herzschlag auf die Entscheidung des Schicksals, ob Du kopfüber die Schaukel umrundest oder doch wieder zurückfällst. Ein Quentchen Freiheit außerhalb der Gravitation, scheinbar. Ist es nicht das, wofür wir leben? Fliegen, frei sein. Der Moment, in dem Du auf den nächsten Hicks der Gottheit wartest. Obwohl Du weißt, fast sicher weißt, Du fällst zurück. Die Umrundung der Schaukel ist eine Illusion, aber vollkommen sicher sein kannst Du nie.

Jakob hatte den Spalt gesehen, die Freiheit von der Schwerkraft. Unterversorgung des Gehirns mit Sauerstoff, na klar. Mancher steigt eben nie auf die Schaukel, vielleicht trägt sie nicht oder das Seil reißt. Pech gehabt, nicht jeder wagt.

Jakob übernahm die eichene Gründerzeittür des Amtsgerichts Moabit von seinem Vordermann und ließ die Woge Berlins sich um ihn schließen. Autolärm, Abgase, feuchte Anorakgerüche, Deodorants, kalter Rauch, Hundepisse, Kohlenruß. Berliner Maistimmung.

Die Schaukel war zurückgefallen in jener Nacht. Er hatte flach auf dem Rücken in grüner Umgebung gelegen. Es zog, er fror. Um ihn piepste und tackerte es wichtigtuerisch. Viel Strom wurde vergeudet, um ihn am Abflug zu hindern. Er hustete vorsichtig. Sofort meldete eines der grünen Männchen in den Armaturen seine plötzliche Bewegung mit einem barocken Signalhorn. Ein Pfleger stürzte herein, sah ihn kurz an und wendete sich ausgiebig blinkenden Lichtern hinter seinem Kopf zu. Das Horn verstummte beleidigt.

»Ich habe Durst«, hörte Jakob sich sagen.

»Was Sie brauchen, kommt über den Tropf«, sagte der Pfleger.

»Ich habe Durst«, sagte Jakob.

Der Pfleger ging.

Jakob sortierte seine Knochen, hob vorsichtig ein Bein, die grünen Männchen schwiegen. Bewegen war inzwischen erlaubt. Alles tat ihm weh. Besonders schlimm waren Nacken und Hals. Er tastete sie mit kanülengeschmückter Hand ab. Völlig unempfindlich. Seine Zunge fühlte sich geschwollen an, verletzt. Vorsichtig drehte er sich auf die Seite. Schweigen an der grünen Front. Die Liege war zu unbequem zum Schlafen, eindeutig. Er setzte sich auf.

Nichts geschah, kein Schwindel, kein Kopfweh, nichts. Außer, daß ihm wirklich alles weh tat, sogar die Finger. Er war verkatert, nur ohne Schädelbrummen. Kein Grund, nicht nach Hause zu gehen. Oder wenigstens zum nächsten Wasserhahn und Klo. Er setzte die nackten Beine auf den eiskalten Fußboden, sehnte sich nach heimischen Astlöchern und stand vorsichtig auf. Wo waren seine Sachen? Er sah sich um. Alles grün, kalt, Metall. Dann eben die laute Variante. Er zog die Kanüle aus seinem Handrücken, pflückte sich die Elektroden vom Kopf, wickelte die dünne Decke um seine Schultern, setzte sich auf die Bettkante und wartete auf den Pfleger, den die grünen Männchen aufgeregt herbeipiepten und trompeteten.

»So geht das aber nicht«, sagte der, auf die Monitore zustürzend. Nach kurzer Zeit kehrte Stille ein. Wohltuende Stille, Schlafstille.

»Wo sind meine Sachen?«, fragte Jakob.

»Sie legen sich jetzt schön wieder hin. Wir passen schon auf Ihre Sachen auf, keine Sorge.«

»Wären Sie bitte so freundlich, mir meine Kleidung auszuhändigen und ein Taxi zu rufen, ich möchte nach Hause.«

»Das kann ich nicht, das muß der Doktor entscheiden, ob Sie gehen dürfen, wenn seine Schicht beginnt. Es ist nachts um drei.«

Jakob sah ihm ruhig in die Augen. »Das habe ich entschieden. Ich gehe auf eigenen Wunsch, meinetwegen auch gegen abwesenden ärztlichen Rat, aber ich gehe sofort. Wären Sie also so freundlich, mir meine Sachen auszuhändigen? Wir wollen doch nicht, daß ich mir eine Lungenentzündung hole in diesem Aufzug.«

Der Pfleger legte den Kopf schief und sah ihn an. »Das müssen Sie mir aber unterschreiben.«

Jakob stand auf. »Mir ist kalt und meine Laune sinkt parallel zur Körpertemperatur. Wir gehen jetzt zusammen zu meiner Kleidung, sonst verhafte ich sie.« Er riß die restlichen Elektroden von seinem Kopf und warf sie auf das Bett. Der Pfleger steckte die Hände in die Hosentaschen und ging voraus. Anderthalb Stunden später war Jakob in seiner Wohnung angekommen, hatte den Telefonstecker aus der Dose gezogen, alle Decken genommen, die er finden konnte und sich in seinem Bett verkrochen. Er verschlief die folgenden achtundvierzig Stunden, taumelnd unterbrochen von Gängen zur Toilette, gierigem Trinken von Wasser und müdem Winken zu seiner Spatzenfreundin Frieda, die am Morgen verzweifelt versuchte, ihn zu einem gemeinsamen Frühstück zu zwitschern. Er dachte daran, daß Mai war und die Stadt voller Spatzenfutter, und schlief wieder ein.

Als er erwachte, fühlte er sich anders.

Schon als Jakob Hagedorn, zurückgekehrt von der Umlaufbahn in die Gravitation, aber verrutscht. Die Sonne blinzelte ihn auf dem Kopfkissen an, wie immer. Beim Duschen war er dankbar, daß ein roter Pfeil anzeigte, wo das warme Wasser zu erwarten war. Der plötzliche Schwall von oben erschreckte ihn, der Klang des Rauschens war verschoben. Etwas zu sehr Dur, eine Oktave zu hoch. Er versuchte sich Frühstück zu machen, schob zwei Scheiben Brot in den Toaster und erschrak, als sie hochsprangen. Als er sie fassen wollte, ging ein Surren von ihnen aus, als stünden sie unter Strom. Er fragte sich, ob die Röstung die Moleküle zum Tanzen brachte. Er aß sie trotzdem.

Er brauchte länger für alles. Oder die Zeit war neuerdings schneller, als er es gewohnt war. Als er den Telefonstecker in die Dose steckte und seinen Anrufbeantworter abhörte, war es schon Mittag. Alles schimpfte. Sein Chef umgab den Satz »So-geht-das-nicht-das-sag’-ich-Ihnen« mit wortreichen Wutausbrüchen. Das Krankenhaus hatte vier Mal angerufen. Erst der Pfleger, der sich erkundigen wollte, ob er angekommen sei, dann, vermutlich nach Schichtbeginn, der Arzt, der atemlos irgendetwas in Jakobs Ohr müllte von unerhört, Autorität anzweifeln, wer die Verantwortung trüge. Na, ich natürlich, wer sonst, dachte Jakob, und löschte ihn. Danach bat die Rechnungsstelle um Rückruf, durch seinen Abgang gäbe es Unklarheiten bezüglich der Abrechnung. Hurtig, dachte Jakob, und löschte. Zwei Nachrichten von Oskar, die erste gehetzt, die zweite warm und voller Sorge.

Er hatte ihn sogar Dicker genannt, das war lange her. Was Oskar wohl zu den tanzenden Molekülen im Toast sagen würde? Jakob würde ihn für heute Abend einladen. Morgen war besser. Übermorgen. Ja, viel besser. Erst mal üben, all die neuen alten Dinge. Oskar würde das schon verstehen, daß er Zeit bräuchte. Oskar verstand alles. Fast alles.

So war er schließlich zwei Wochen nicht zur Arbeit erschienen und hatte nicht telefoniert. Als er wieder in der Dienststelle auftauchte, hatte Oskar alle Angriffe abgewehrt. Seit seinem letzten Einsatz war Jakob krankgeschrieben, der Bericht verschoben und ihr Chef einigermaßen beruhigt, Wladimir saß in Untersuchungshaft. Trotzdem hagelte es »So-geht-das-Nichtse«. Jakob ließ sie auf sich herabsausen und dachte an den alten Mollton seiner Dusche. Er vermißte ihn.

Beim Polizeiarzt sollte er sich melden, die verbliebenen Schäden begutachten lassen und von seinem Hausarzt eine Prognose der Dauer seiner Krankmeldung erstellen lassen. Oskar hatte ihm wie erbeten die Akten auf den Schreibtisch gelegt. Nach einer Stunde, die ihn mehr Kraft gekostet hatte als die letzten zwei Wochen, verließ er die Dienststelle mit den Akten und fuhr zurück in seine Wohnung.

Er arbeitete sich in alles ein, was seine Kollegen ermittelt hatten. Las jede Zeugenaussage, die Ergebnisse der Kriminaltechnik, der Rekonstruktion am Tatort. Er verstand alles. Bis zu den Sternschnuppen.

Danach hatte Wladimir ihn angeblich niedergestreckt (womit?), er war gestürzt (worauf?), Wladimir ihm hinterher, um ihn zu würgen (sicher nicht). Und Wladimir hatte seine Dienstwaffe gehabt. Keiner der Zeugen sagte einen Mucks dazu. Oskar hatte dem Buschfunk abgelauscht, daß die internen Ermittler auf Jakobs Seite wären. Die Internen wollten darauf hinaus, daß er sie ihm beim Kampf, nachdem Jakob bewußtlos war, abgenommen hatte. Das klang nach seinem Chef, ein echter Focke. Ein verlockender Ausweg. Nur leider nicht wahr. Finge man so etwas einmal an, war man ein erpressbarer Kollege. Er würde bei der Wahrheit bleiben, so schlimm war die auch nicht. Die Fensterbank war in Ordnung, mit Waffe wäre er gar nicht ins Lehrerzimmer gekommen. Nur geladen war sie leider. Ein unglaublicher Lapsus. Na gut, passiert war passiert. Keine Folge war so schlimm, daß man lügen mußte.

Jakob saß in sattroten Ledersitzen, ein Aktenpaket auf dem Schoß und sah aus dem geöffneten Dach. Der Sommer konnte es kaum erwarten. Anfang Juni waren alle Bäume saftig grün. Nur die Dachgeschosse der alten Buchen zögerten noch. Die junge, ihm zugeteilte Kollegin Tanja Wehland fuhr angenehm, obwohl sonst ausschließlich Rad. Der Kollege in der Fahrbereitschaft hatte Jakob zwinkernd einen beschlagnahmten BMW Roadster gegeben, knallgelb. Die ersten Schaltungen nahm sie etwas rauh, aber seitdem sie die Avus auf der rechten Spur überlebt hatte, fuhr sie entspannter.

»Hier sind dreißig, Kollegin Wehland«, sagte er, nachdem sie inmitten von Vogelgezwitscher auf der Havelchaussee immer noch brauste, als gälte es, an der nächsten Ampel, die immerhin gut acht Kilometer entfernt war, die erste zu sein. Sie drosselte sofort die Geschwindigkeit und Jakob roch das platzende Leben ringsum. Wald rechts bis zum Horizont, Wald und Wasser links, was brauchte man mehr als Metropoleneingeborener. Tanja hatte ihm gestanden, daß sie vor einigen Wochen ausgerechnet seinetwegen nach Berlin gekommen war, zum einzigen anständigen Kriminaler der Republik. Na ja. Aufrecht, aber auf die Nase fallend neuerdings.

»Da vorne an der Bushaltestelle müssen wir links rein«, sagte Jakob nach einigen verschwiegenen Minuten.

»Ich sehe aber keinen Weg.«

»Fahren Sie auf den Parkplatz. Dann am Uferweg entlang.«

Nachdem sie eingebogen waren, starrte Tanja über die Havel. Nach einer ehrfürchtigen Pause ließ sie das Wasser links liegen und schaukelte über eine Sandpiste, verfolgt von mißbilligenden Blicken einiger Fußgänger.

»Halten Sie an, den Rest gehen wir zu Fuß.«

Jakob hatte sich den Schlüssel aus der Asservatenkammer besorgt. Seit dem Mord im April letzten Jahres war die Hütte versiegelt, sehr zum Leidwesen des Vereins. Aber ein unaufgeklärter Mordfall war durch Anglerdepressionen nicht aufzuwiegen. Jakob ging zum Ende des Uferweges voran, bog in den Wald ab, klemmte sich die Akten zwischen die Knie und schloß das Tor eines zwei Meter hohen Maschendrahtzaunes auf. Gemeinsam stiegen sie weiter bergan durch ein überwuchertes, verbuschtes Gelände, umtost vom Konzert zahlloser Vögel in Frühsommerstimmung. Nachdem der Pfad durch dichtstehende Fichten geführt hatte, lag die Hütte vor ihnen.

Jakob sah sich um, horchte und beschnupperte den Wald. Durch die Kiefern blinkte die sich in der Tiefe schlängelnde Havel. Er schloß auf, die Tür klemmte. Vorsichtig trat er ein. Es roch nach abgestandener Winterfeuchte und Holzschutzmittel, Staub und Spinnen. Tanja versuchte die Fensterläden von außen zu öffnen. Jakob stürzte zu ihr. »Nicht, die Fensterläden waren zu, als man sie fand.«

Tanja ließ die Arme sinken.

»Kommen Sie erst mal rein und machen sich ein Bild.« Tanja folgte mit schweren Schritten. Als sei sie Gummistiefel gewöhnt, dachte Jakob, der Waldboden kommt ihr entgegen. Er entzündete eine Kerze neben dem Eingang und schloß die Tür.

Die schlechte Luft senkte sich auf die Atmung wie eine muffige Wolldecke. Jakob legte die Akten auf den Boden und zündete die übrigen Kerzen an. Er brauchte sieben Streichhölzer. Dicke und dünne in allen möglichen Farben erleuchteten ein Lager aus Kissen und sorgfältig drapierten Seidentüchern. In der Mitte lag eine Decke, dunkel gefärbt von altem Blut, daneben stand eine Flasche Schampus. Um die Flasche waren Teller mit noblen Häppchen verteilt. »Haben Sie die Asservatenkammer geplündert?«, fragte Tanja.

»Sogar die Flasche ist original. Was halten Sie von all dem Aufwand, was von dem Ort?«

»Keine Ahnung, eine Hütte eben.«

Jakob seufzte. »Romantisch sind Sie eher nicht?«

»Ich finde es nicht romantisch. Eher wie ein Verschlag, Verließ, ein Rattenloch.« Ihre Arme hingen schon wieder bedenklich.

»Eine Frau mit Geld mietet ein solches Rattenloch?«

»Warum nimmt sie sich kein Hotelzimmer? Irgendwas mit Sektkühler, Zimmerservice, Wellnesslandschaft, dicken Teppichböden?«

»Gute Frage.« Jakob setzte sich auf das Kissenlager. Tanja senkte sich vorsichtig auf den staubigen Hüttenboden und achtete darauf, das Blut vom letzten Jahr Ostern im Blick zu behalten.

»Sie hatte etwas zu verstecken«, sagte Jakob.

»Ihren vernarbten Körper vielleicht? Dunkel genug ist es ja hier.«

»Etwas, das die Natur nicht stört.« Jakob legte die Schampusflasche auf die Seite. »Etwas, das eher hierhergehört als in Luxushotels und nach Schlachtensee.«

»Etwas für geschlossene Fensterläden«, sagte Tanja. »Es ist nicht das erste Mal, daß sie sich verbirgt.«

»Sie meinen den gefälschten Ausweis?«

»Ihr Mann war völlig verdattert, als er davon erfuhr. Er hielt das für ausgeschlossen.«

»Menschen, die wissen, wo es langgeht, sind leicht zu verblüffen.« Jakob spielte mit den Schlüsseln. »Wie ist sie hergekommen?«

»Das wissen wir nicht. Ihr Cabrio stand in Schlachtensee in einer Nebenstraße. Hier waren keine Reifenspuren. Sie starb in der warmen Nacht auf Ostersonntag, als sie am Dienstagmorgen gefunden wurde, war der Winter zurückgekehrt. Eine geschlossene Schneedecke hatte alle Spuren verwischt. Sind die Kissen eigentlich von ihr?«

»Ihr Mann kannte sie nicht. Er hat ausgesagt, so etwas hätte er nicht in seinem Haus geduldet, weder die Kissen, noch die Tücher oder die Kerzen. Warum auch immer.«

»Zu weiblich. Die Farben, die Stoffe, alles weich, warm, ohne Status, nur gemütlich«, sagte Tanja.

»Nichts für Herrn Professor.«

»Also ihr Liebhaber, für den sie das hier alles eingerichtet hat, muß ganz anders gewesen sein als ihr Mann. Romantisch, jünger wahrscheinlich?« Tanja sah Jakob an. »Wie fühlt sich das an für Sie als Mann, all die Seidentücher, die Kerzen, die Vögel draußen?«

Jakob überlegte. »Altmodisch. Nach Tropfkerzen und Sangriaflaschen. Aber das war vor Ihrer Zeit. Stundenlanges Geknutsche. Wenig Sex, viel Zärtlichkeit und Erotik.«

»Und was sagt uns das jetzt?« Tanja streckte die Beine aus.

»Es zeigt die letzten Momente im Leben unseres Opfers. Da müssen wir anfangen, am Ende. Sie hat eine Welt aufgebaut, die es nicht mehr gibt und die sich von ihrem Alltag unterscheidet. Sie hat etwas feiern wollen, genießen, das sie sich ersehnt hat mit einem jungen Teil ihrer Seele und das sie glaubte, verstecken zu müssen.«

»Und dann ist er gekommen, der Mann, für den sie das alles inszeniert hat und hat sie erstochen. Sieht aus, als wäre sie auf den Falschen getroffen.«

»Langsam«, sagte Jakob.

»Immerhin hat er sie getötet, das hat sie sich sicher anders vorgestellt.«

»Wenn wir ihn haben, werden wir ihn fragen. Bis dahin denken Sie an die Tatortphotos der Toten. Wie hat sie auf Sie gewirkt, ist Ihnen etwas aufgefallen?«

»Entspannt wirkte sie, mal davon abgesehen, daß sie tot war. Keine Angst, kein Entsetzen.«

»Das meine ich nicht. Ihre Augen, haben Sie das gesehen? Er hat sie erstochen und ihr danach die Augen geschlossen.«

»Also doch ihr Mann?«

»Kollege Schuman glaubt, er wäre es gewesen.«

»Er hat ein Alibi, noch dazu in Amerika.«

»Schuman denkt, er hätte einen Killer engagiert.«

»Und den schickt er los und sagt ihm, hinterher schließt Du die Augen? So ein Schwachsinn.« Tanja stand auf. »Das kenne ich von früher. Wenn der Lieblingsverdächtige ein Alibi hat, dann war es ein Auftragsmörder, die Uhren gingen falsch, die Weltverschwörung schlägt zu oder sonstwas. Und solange man auf die Sackgasse starrt, in die man sich immer tiefer eingräbt, schneien die Spuren des wirklichen Täters zu.«

Jakob schwieg.

Tanja ging in der Hütte auf und ab und wirbelte den Staub auf.

Jakob hustete und schwieg.

Sie setzte sich wieder.

Er sah ihr in die Augen. Mittenhinein und schwieg.

Tanja bemühte sich zurückzusehen, dieses komische Vorbild anzusehen. Seine verwuschelten Haare, die großen Hände, die großen Augen. Die sehr tiefen, sehr großen Augen. Sie schnappte nach Luft, hielt sich an der Reling fest und zog sich aus dem Sog. Die harmlose Brille war Tarnung.

»Wir sollten ihn uns ansehen, den feinen Pinkel«, sagte sie.

Jakob nickte. »Am besten bei ihm zuhause. Ich will wissen, wie sie gelebt hat.« Er stand langsam auf. »Lassen Sie uns das hier zusammenräumen und hinfahren, wir können frische Luft gebrauchen.«

»Müssen wir uns nicht ankündigen?«

»Ein bißchen Überraschung muß sein, sogar in Schlachtensee.«

Jakob ließ Tanja am Haus vorbeifahren, in die zweite Nebenstraße rechts einbiegen und dann die erste links nehmen. Sie wendete am Ende und parkte zwischen zwei Laternenpfählen. Hunde bellten, ein Gärtner sah auf. Sie stiegen aus.

»Warum parken wir so weit weg?«, fragte Tanja.

»Ihr Wagen stand hier. Ihr Mann hat ihn als vermißt gemeldet, ihn dann beim Joggen entdeckt. Das ist seine Strecke, immer samstags.«

»Am Dienstag wird seine ermordete Frau entdeckt und am Samstag geht er joggen?«

»Offenbar ein disziplinierter Mann.«

»Und ihre Schlüssel, wo waren die?«

»Ordentlich zuhause in der Schlüsselschale, sagt er.«

Sie bogen in die Straße ein. Ein weißer Neubau, Fenster und Türen wie Schießscharten. Knarzige Kiefern besetzten das Grundstück und blickten verächtlich auf das Haus herab, das man ihnen vor die Füße gelegt hatte und dessen schneeweiße Wände sie langmütig mit einer grünen Patina in den Alltag zogen. Eine dürre Hecke markierte zusammen mit einem verrosteten schmiedeeisernen Zaun die Grundstücksgrenze. Tanja drückte auf die Klingel am Tor unter dem Namen Krüger. Sie waren weithin sichtbar, trotzdem fragte eine Männerstimme: »Ja bitte?«

»Kriminalpolizei«, sagte sie. »Wir hätten Sie gern gesprochen, wenn es Ihnen nichts ausmacht«, ergänzte Jakob.

Das Tor surrte, Tanja schob es auf, knarrend kündete es von alten Zeiten ohne Schießscharten. Ein stählern hagerer, kahlköpfiger Mann erwartete sie in der geöffneten Tür. Jakob streckte die Hand aus. »Hagedorn, Hauptkommissar, wir kennen uns noch nicht.«

Professor Dr. Peter Krüger ignorierte Jakobs Hand, trat zurück und ließ sie eintreten. Hinter ihnen fiel die Tür wie hydraulisch angesaugt ins Schloß. Es roch nach Farbe und Teppichkleber.

Sie standen in einem Raum, der sich über die gesame Tiefe des Erdgeschosses erstreckte. Rechts waren zwei Türen, links ging das Zimmer in eine offene Küche über, die halb verborgen unter der Treppe ins Obergeschoß lag. Sie waren buchstäblich mit der Tür ins Haus gefallen. Vor ihnen breitete sich eine raumgreifende, düstere Sitzgruppe aus, die zum Garten ausgerichtet war. Bodentiefe Fenster ließen den Blick über eine sich wohlhabend abschwingende Rasenfläche auslaufen. Mittendrin senkte eine mächtige Buche ihre Zweige auf das Grün. Im Schutzraum dieses Gartens hatte sie ihre Blätter mutiger als die Havelgeschwister entfaltet und tauchte das Haus in ein kraftstrotzendes Hoffnungsgrün. Links von ihr störte eine ausladende Gartenplastik aus poliertem Stahl die Ruhe.

»Was für ein wunderschöner Baum«, sagte Jakob.

»Meiner Frau hat er auch gefallen. Ich bin ja nicht so für grün«, sagte der Hausherr und ging zur Sitzgruppe voraus. »Ich nehme an, daß Sie wegen des Mordes an meiner Frau gekommen sind. Was führt Sie zu mir nach so langer Zeit, eine neue Spur?«

»Leider nein«, antwortete Jakob. »Aus gesundheitlichen Gründen mußte der Kollege den Fall abgeben und wir machen uns gerade erst ein Bild.« Sie setzten sich und Jakobs Blick fiel auf die Schießschartenwand zur Straße, sie war bis zur Decke mit Bücherregalen gefüllt. Es mußten hunderte Taschenbücher sein, in chaotischer Buntheit reihte sich Rücken an Rücken, selbst die Freiräume über den Büchern waren vollgestopft mit querliegenden Bänden. Ein verwirrend lebendiger Anblick in diesem Haus. Jakob widerstand der Versuchung, aufzuspringen und die Titel zu lesen.

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Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
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511 стр. 2 иллюстрации
ISBN:
9783945611012
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