Читать книгу: «Fallsucht», страница 7

Шрифт:

»Und wenn es ein Lehrer genommen hat?«

»Es war schon ein cooles Ding, ziemlich neu und teuer, aber die verdienen doch genug an ihrer Schule. Nein, nein, das waren Deine feinen Kollegen, darauf verwette ich meinen Arsch.«

»Warum sollten die Dein Handy verschwinden lassen? Weißt Du, wie viel Ärger wartet, wenn das rauskommt? Unterschlagung von Beweismitteln nennt man das.«

»Darüber raucht ja auch meine Birne. Ich verstehe das nicht. Ich bin kein Unschuldslamm, sicher, aber daß mir irgendein Bulle was reinwürgen will, dazu gibt es keinen Grund. Ich bin nicht mal vorbestraft. Meine Anwältin meint, vielleicht wollte sich jemand was dazuverdienen und hat es an die Zeitung oder das Fernsehen verkauft.«

»Dann wäre es längst erschienen. Exklusivbilder einer Geiselnahme in einer Weddinger Oberschule läßt sich niemand entgehen.«

»Aber was ich nicht verstehe, Kommissar, wieso sagst Du nicht aus? Du könntest doch erzählen, daß es anders war.«

Jakob schwieg.

»Bist Du etwa auf deren Seite?« Wladimir machte zwei Schritte auf Jakob und den kalten Heizkörper zu und sah ihm in die Augen. »Nee, dann wärst Du nicht hier. Du bist schon in Ordnung.«

»Ich kann mich nicht erinnern«, sagte Jakob.

»Wie meinst Du das?«

»Das letzte, das ich weiß, ist, wie Du auf Deinen künftigen Schwager zugegangen bist.« Die Sternschnuppen verschwieg er lieber.

»Danach hast Du so komisch geschrien, war echt gruselig.«

Jakob ging sich die Hände waschen.

»Das heißt, Du weißt von Deinem Abklapper gar nichts? Dann wäre der Film für Dich ja auch spannend. Da ist nämlich alles drauf. Wie Du hingefallen bist, rumgezuckt hast und auch der komische Sabber vor Deinem Mund.«

»Das ist nicht Dein Ernst.«

»Doch sicher, seit dem Schrei bist Du die Hauptperson. Was ist denn los, Kommissar, Du bist ja ganz blaß um die Nase.«

»Du hast das alles gefilmt?«

»Na klar, so was hat man nicht alle Tage. Jetzt sag’ nicht, daß Dich das stört. Um Erlaubnis fragen konnte ich Dich ja schlecht, so wie Du geruppelt hast. Kommissar, was ist los? Nun sag’ doch was. Habe ich was falschgemacht? Hilfst Du mir jetzt nicht mehr? Oh, Scheiße, es tut mir echt leid.« Wladimir schlug mit der flachen Hand auf den Rand des Waschbeckens.

»Laß das, gibt fiese blaue Flecken.«

»Wenn wir das Handy wiederhaben, löschen wir das Stück mit Dir, ich versprech’s.«

»Aber erst mal müssen wir es finden.«

»Du machst das schon, Kommissar, Du bist der beste.«

»Wenn ich mich nicht gerade lang mache und rumzappele.«

»So schlimm ist das auch nicht, Du bist doch voll wieder da, oder nicht? Und das erste Mal wird es ja auch nicht gewesen sein.«

Jakob sah ihn an.

»Oh, Scheiße, sag’, daß das nicht wahr ist. Und ich Penner habe nix Besseres zu tun als ein Filmchen zu drehen.«

»Helfen können hättest Du mir sowieso nicht. Man muß dann einfach zuende zappeln.«

»Na, ein Kissen unterschieben wenigstens, Dein Kopf ist immer auf den Boden gerumst. Hatte aber ein bißchen viel Respekt. An so ’nem echten Kommissar fummelt man nicht einfach so rum.«

»Selbst wenn er zappelt und sabbelt?«

»Kommissar ist Kommissar. Selbst wenn er hampelt wie ein Fisch am Haken.«

»Hast Du dem Lehrer und künftigen Familienmitglied denn nun eine reingehauen?«

»Na logo. Dein Schrei kam direkt nach dem Treffer, ich dachte, das ist jetzt eine göttliche Strafe oder so, klang echt danach.«

»Und warum hast Du ihm eine reingehauen? Weil er schwul ist?«

»Quatsch, sehe ich aus wie ein Tuntenklatscher? Weil er meinen kleinen Sascha schlecht behandelt hat. Die Familie sagt, er ist trotzdem ein feiner Kerl, Sascha ist bei ihm eingezogen, aber da bilde ich mir lieber selbst ein Urteil, wenn ich draußen bin. Der muß noch eine Weile Anstand zeigen, bis ich ihn an die Brust drücke.«

»Daß er sich weigert, gegen Dich auszusagen, ist doch schon mal ein Anfang.«

Vor der Tür rumpelte es.

»Los, Kommissar, verschwinde«, sagte Wladimir. »Mein Kumpel steht bereit, wenn Du was erfährst.«

Jakob krabbelte wieder auf seinen Deckel, Wladimir wusch sich die Hände. Sein Kumpel betrat, dicht hinter ihm Wladimirs Bewacher von der Justizverwaltung, den Vorraum. »Aber sicher ist das Klo für alle da, Wachtmeister«, sagte der Kumpel und ging breitbeinig zu den Pissoirs. »Ist ja kein Privatbesitz, so’n Gericht.«

Wladimir trocknete sich mit einem Papiertuch die Hände ab und streckte sie seinem Bewacher hin. »Legen Sie mich in Ketten, Chef.«

Der Beamte sah sich hektisch um und schloß die Handschellen. »Hast Du Verstopfung, oder was? Das hat ja ewig gedauert.«

»Die Frage ist mir zu privat. Ein bißchen Intimsphäre steht sogar einem Untersuchungshäftling zu. Aber wir Russen essen doch immer Kohl und Rote Beete, damit hat’s sicher zu tun.«

Die Tür fiel zu und Jakob verließ seine wenig komfortable Position auf der Herrentoilette. Ein Handy. Er hatte die Dinger noch nie gemocht. Und die blöde Filmerei von Laien auch nicht. Jetzt war er ein Filmstar, ein zappelnder, sabbernder Jakob, dessen Kopf auf den Boden schlug. Er hing am Haken eines verschwundenen Handys, eine schillernde, sich windende Maräne an einem tiefen, krummen, verfluchten Haken.

VIII

Jakob saß auf einer übermütig rot gestrichenen und verächtlich mit Schmierereien versehenen Parkbank am Rüdesheimer Platz und starrte zu Hannas Hauseingang.

Eine Woche nach seiner Flucht aus dem Krankenhaus war die Rechnung gekommen. Man ging davon aus, daß er als Beamter privatversichert war und langte kräftig zu. Von Wladimirs Attacke war die Rede gewesen, aber auch vom Verdacht auf Epilepsie. Irgendetwas mit den Gehirnströmen wollten die Elektroden auf seinem Kopf gemessen haben. Auf Anfrage des Polizeiarztes und eines Kollegen des Patienten, der um eine Krankschreibung für die Dienststelle bat (danke Oskar), hatte man die Diagnose weitergegeben.

Sternschnuppen, Blackout, kastrierter Duschkopf, tanzende Toastmoleküle, war das Epilepsie? Was ist das überhaupt? Irgendeine Geisteskrankheit? Scham ergoß sich über ihn wie ein Kübel Jauche.

Am gleichen Abend war er in die FU-Bibliothek gefahren und hatte sich Sachkunde angelesen. Krampfströme, das hatten die Geräte gefunden. Gab es auch bei vielen anderen. Kein Grund zur Panik. Aber die Symptome paßten verdammt gut.

Jakob Hagedorn Epileptiker.

Viele hatten nur einen Anfall und nie wieder. Abwarten, achtsam sein, nicht Auto fahren. Kein Problem ohne Führerschein. Nicht auf Leitern, Türme steigen, an Berghängen kraxeln, am besten gleich hinsetzen, fällt sich nicht so tief. So war er zur Gerichtsverhandlung gekommen, versuchte, das Loch mit Erinnerungen anderer zu füllen.

In all den Wochen hatte er nicht an Hanna gedacht. Sie war auf der anderen Seite des Spalts, in seinem alten Leben, vor der Schaukel.

»Ist hier noch frei?« Eine alte kleine Frau zog ihren Rentnerporsche an die Seite und ließ sich fallen. Das Modell war aus Schottenkaro, mit krummen kleinen Rädern, an seinen Öffnungen baumelten Püppchen, Karabinerhaken mit Einkaufswagenmünzen und Gummibändern, ein Kamm, eine hölzerne Schildkröte und eine BVG-Monatskarte. Jakob sah die alte Frau an. Irgendetwas zog von der anderen Seite des Spalts vorbei.

»Ich hätte schon gedacht, daß mein Eindruck bleibender ist.« Die Alte schlug das Verdeck ihres Porsche zurück und entnahm ihm eine Tüte mit geschnittenem Brot. »Aber so ist das Alter. Alle sehen durch einen hindurch.« Sie hielt Jakob die Tüte hin, er nahm eine Hand voll und schnupperte daran. »Keine Sorge, auf der Fensterbank getrocknet. Nur Anfänger verfüttern schimmliges Brot.«

Um die Bank wuselte es. Die ersten waren die Spatzen, wie immer. Ein paar Schüchterne saßen unter einem Busch und beobachteten sie, ein Kecker landete großschnabelig tschilpend auf der Rückenlehne und rief nach dem Ober. Jakob verteilte Brotstücken auf der Bank, behielt den Rest in der Hand, die er offen im Schoß ablegte. Der Spatz verstand, arbeitete sich voran, ließ einige Stücken für seinen Hofstaat liegen, pumpte sich auf und wagte den Sprung auf den Schoß.

»Jetzt nur nicht an der falschen Stelle picken«, sagte die Alte. Sie lachten, der Spatz flog auf. Jakob sah sie an. Himmelblaue Augen, endlos wölbte sich der Horizont, er sah in der Tiefe die Erdkrümmung. Taiga, dachte er.

»Du kannst einem in die Augen sehen, daß selbst einer alten Frau die Knie weich werden«, sagte sie.

»Entschuldigung, das mache ich nicht absichtlich.« Jakob nahm seinen Blick aus dem Horizont.

»Sich für seine Fähigkeiten zu entschuldigen, ist Bullshit. Ich halte es schon aus, wenn einer in meinen Augen gründelt.«

Die Alte stand auf, verharrte vor der Bank, bis ihre Knochen sich sortiert hatten und stakste mit dem Brot zum Busch der Schüchternen. Sie verteilte die Reste um das Versteck, legte die Tüte auf Kante zusammen und verstaute sie in ihrem schief hängenden Mantel.

»Laß uns gehen, Kommissarchen, Du kannst oben auf sie warten.« Sie nahm ihr Wägelchen und schaukelte los, direkt auf Hannas Haustür zu. Jakob folgte ihr wie ein Entenjunges.

Das erste, was er erkannte, nachdem die Alte die Wohnungstür aufgeschlossen hatte, war der Geruch. Die Erinnerung an Hanna überflutete ihn. Um halb vier in der Nacht hatte er beim Verlassen der Wohnung in das verdutzte Gesicht der Alten geblickt, die Jakob mit dem Schlüssel auf ihn gerichtet anstarrte, als wäre er eine Fata morgana. Jetzt stand sie in der Küchentür und sah ihm bei seiner Erinnerungsarbeit zu. »Na, hast Du es wieder?«

Jakob nickte. »Entschuldigung, das hatte ich einfach vergessen.«

»Du entschuldigst Dich zu viel, weißt Du das?« Die Alte klapperte in der Küche, als räume sie die Schränke aus. Jakob schloß noch einmal die Augen und sog den Geruch der Wohnung ein. Staub, alter Lack von den Türen, eine Prise Erde, der süßliche Geruch einer alten Frau und über all dem Hanna.

»Milch und Zucker?«, rief es aus dem Geklapper.

Jakob wies den Schwindel und die Sehnsucht in ihre Schranken. »Schwarz, bitte.«

Die alte Frau trug zwei zarte Porzellantassen mit Kaffee schwankend zum Küchentisch. Jakob sah ihr zu, wie sie übergeschwappten Kaffee von der Untertasse zurückgoß. »Ich bin Jakob«, sagte er.

»Weiß ich doch, Du Berühmtheit.« Sie hielt einen Tagesspiegel hoch. Jakob verzog das Gesicht. »Was schreiben sie denn?«

»Du hast mit bloßen Händen einen russischen, bis an die Zähne bewaffneten Tiger erlegt und eine Weddinger Schule errettet. Du bist ein Held, mein Lieber. Außerdem erinnern sie an die aufrechte Überführung eines meuchelmordenden Kollegen vor zwei Jahren. Da sage noch einer, Ihr hättet zu viel Korpsgeist. Und jetzt sitzt Du hier bei mir in der Küche, toller Mann.«

»So war das natürlich nicht.«

»Sicher, aber laß Hanna das Vergnügen, die hebt das alles auf.«

Jakob sah sie ungläubig an.

»Liebesbriefe wären natürlich besser. Um die angefangene Vorstellung fortzusetzen, ich bin Grete und wohne bei Hanna.«

»Als Ersatzmutter, die um vier Uhr früh nach Hause kommt und fast den Liebhaber ihrer Ziehtochter über den Haufen rennt?«

»Unerhört, nicht wahr? Ich war so dynamisch, weil ich mit meinem süßen Dealer die Bullerei übers Ohr gehauen habe. So was erlebt man in meinem Alter nicht alle Tage.« Ihre Augen funkelten. »Du solltest Dich mal sehen, richtig die Kinnlade ist Dir runtergefallen.« Sie kicherte wie ein Backfisch.

»Immerhin bin ich bei der Kripo.«

»Die Details heben wir uns für unsere erste Pfeife auf.« Die Alte stützte die Ellbogen auf, legte den Kopf in die Hände und sah ihn an. »Wolltest Du was Bestimmtes von Hanna, oder nur mal so allgemein wieder in die Glut pusten?«

»Nützt das denn noch was?«

»Du scheinst wenig von Deiner Wirkung auf Frauen zu wissen. Aber das wird Dich einiges an Luft kosten, immerhin hast Du drei Monate nichts von Dir hören lassen.«

»Ja, tut mir leid, Entschuldigung.«

Grete verdrehte die Augen.

»Ich hatte sie vergessen.«

»Das verschweig’ lieber. Unentschuldbar.«

»Immerhin habe ich auch fast alles andere vergessen seitdem.«

Grete deutete auf den Tagesspiegel, Jakob nickte. »Außerdem sehe ich Sternschnuppen aus Mündern fallen, erkenne meinen Duschkopf nicht wieder und denke, daß im Toast die Moleküle tanzen.«

»Das tun sie. Die Ruhe der Dinge ist eine Illusion. Hast Du in der Schule nicht aufgepaßt?«

»Vorwiegend bei den Geisteswissenschaften."

»So siehst Du aus, Kommissar, mit Deinen verträumten Erinnerungslücken und Deinem gründelnden Blick.« Sie nahm schlurfend einen Schluck Kaffee. »Aber bist Du sicher, daß Du nicht ein bißchen viel gekifft hast? Klingt irgendwie nach Bewußtseinserweiterung.«

Jakob überlegte. »Bisher dachte ich, ich hätte etwas verloren.«

»Was denn zum Beispiel?«

»Den Zugriff auf die Welt. Alles ist verschoben, fremd. Entweder die Welt ist verrutscht oder ich bin es. Entfernungen stimmen nicht mehr, alles ist weiter weg oder dichter dran als ich glaube. Für Bewegungen brauche ich mehr Aufmerksamkeit, um sie auszuführen.«

»Klingt nach dem Alter, was Du da erzählst.«

»Wirklich? Das ist aber mühsam.«

»Kann man so sagen. Und keine Aussicht auf Besserung.«

»Die Gerüche, Farben und Geräusche sind auch anders?«

»Du hörst wie durch einen Tunnel, siehst durch einen Schleier, riechst wie bei Schnupfen.«

»Also keine Bewußtseinserweiterung?«

Grete lachte.

»Dann ist es bei mir doch anders. Ich nehme Dinge wahr, die gar nicht da sind.« Jakobs Blick versank. »Glaubst Du an Geister?«

Grete pfiff durch die Zähne. »Das hat nichts mit Glauben zu tun. Mancher spürt sie. Es entscheidet sich, wenn Du jemanden verloren hast. Für die meisten ist er dann weg, für einige bleibt er.«

»Sieht Dir über die Schulter, lächelt Dich an.«

»Geht Dir auf die Nerven, stellt sich in den Weg.« Sie lachten.

»Hattest Du mal mit Epilepsie zu tun?«, fragte Jakob leise.

»Sicher«, antwortete Grete. »Laß mich überlegen. Vorm Krieg ein Mädchen im Haus, das wurde abgeholt und getötet. Die saubere, arische Rasse steht aufrecht, Du weißt schon. Dann hatte ich eine Schülerin, das muß in den Siebzigern gewesen sein. Hat kaum noch dem Unterricht folgen können, so dune war sie durch die Medikamente. Wir haben sie durch die Mittlere Reife gezogen, dann aus den Augen verloren, wie das so ist.« Sie seufzte und versank in den Siebzigern.

»Weißt Du was über Halluzinationen bei denen?«

»In den Siebzigern fühlte man sich eher von der Realität belästigt und war froh, ab und an ein paar Geistern zu begegnen. Und in den Dreißigern, Vierzigern fand man es noch viel selbstverständlicher, mit anderen Welten zu leben. Es ist die Gegenwart, die alles schön in Reih und Glied haben will. Komische Zeit. Hast Du etwa Epilepsie?«

»Vielleicht.«

»Was heißt das, das kann man doch feststellen, oder nicht?«

Jakob zuckte mit den Schultern.

»Du traust Dich nicht, Kommissar? Macht nix, warte einfach ab. Oder macht es Dir Angst? Die Geister vielleicht?«

Jakob schüttelte den Kopf. »Es ist, wie Du sagst, als meine Mutter starb, blieb sie.«

»Und hat sie Gesellschaft bekommen?«

»Das liegt an meinem Beruf. So viele Tote.«

»Und die besuchen Dich?«

»Sie wollen, daß ich mich um ihre Tode kümmere. Wenn der Täter mir sagt, wie genau es war, als sie starben, dann gehen sie.«

»Schöner Beruf. Es ist, als ob Du den Raum schaffst, daß die Geschichte zuende erzählt wird.«

Jakob lächelte. »Das stimmt. Du bist die Erste, die das versteht.«

»Das ist kein Kunststück. Ich bin eine alte Frau und wenn ich jetzt immer noch nicht wüßte, worauf es ankommt, wann dann?«

»Hast Du viele Tote um Dich?«

»Eine niedliche Frage. Ich bin zu alt, mich mit Scharen von Lebenden zu umgeben. Die meisten Plätze in meiner Nähe sind besetzt. Außerdem habe ich als Kind schon so viele Tote gesehen.« Sie schwieg lange. »Deren Geschichten erzählt niemand zuende.«

»Aber es waren keine gewaltsamen Tode? Kein Aufeinandertreffen zweier Menschen, von denen nur einer weiterlebt?«

»Der Tod ist immer gewaltsam, junger Mann. Außerdem gibt es im Krieg keine natürlichen Tode, lebenssatt, wie es in der Bibel heißt. Lebensmüde höchstens, und ansonsten gewaltsam. Aber laß uns über anderes reden, meinen alten Geistern bin ich heute nicht gewachsen.«

»Tut mir leid, das wollte ich nicht.« Jakob legte seine Hand auf ihren Unterarm.

»Dafür kannst Du nichts, also entschuldige Dich nicht schon wieder. Und nimm Deine Augen von meiner Seele.« Sie zog sich frei. »Erzähl’ lieber von Dir, arbeitest Du wieder?«

»Mein Chef hat mir einen Fall gegeben.« Jakob zögerte. »Es könnte eine Falle sein. Er kann mich nicht ausstehen.«

»Na und? Ein Feind fordert Dich zum Duell auf. Du weißt, daß falsch gespielt wird, also warum nimmst Du den Kampf nicht an?«

Jakob starrte sie an.

»Was hast Du zu verlieren? Zu viel für die Waagschale?«

Jakob schwieg. Meine Arbeit, mein Leben, nicht viel.

Grete brachte die Kaffeetassen scheppernd zur Spüle, nahm aus dem Schrank zwei Schnapsgläser, aus dem Kühlschrank eine Flasche Eierlikör und kehrte zum Tisch zurück. Sie schüttelte die Flasche mit beiden Armen, daß ihr alter Körper bebte, schenkte ihnen ein, leerte ihr Glas mit nach hinten gebogenem Kopf und schleckte die Reste aus dem Glas von ihrem kleinen Finger.

»Weißt Du, was mich bei Deiner Generation nervt? Ihr lebt, als müßtet Ihr Euch schonen. Was immer Ihr tut, Ihr könntet es auch lassen, welchen Weg Ihr einschlagt, es könnte auch die Gegenrichtung besser sein. Sicher kann einen das kirre machen, aber wenn Ihr ewig überlegt, ist Euer Leben vorbei.« Sie bot Jakob an, aber der hatte sein Glas nicht angerührt. Stattdessen goß sie sich selbst ein. »Ihr seid wie Schachspieler, die alle Züge glauben überdenken zu müssen und deshalb nicht vorankommen. Hört Ihr die Uhr nicht ticken?« Sie kippte den Eierlikör in den Rachen, gefolgt von schmatzenden Aufräumarbeiten mit dem Finger. »Was ist, Jakob, wenn Du so alt bist wie ich und hast immer nur acht gegeben? Du wirst trotzdem schrumpelig werden und wie durch einen Tunnel hören.« Sie griff nach seinem Glas. »Daß Du ein besonderer Mensch bist, zeigen Deine Geisterbesucher. Das ist eine Ehre, aber ich sehe schon, das weißt Du. Werde dieser Gabe gerecht, greif’ mit beiden Händen ins Leben, riskiere alles, ruiniere Dich. Wirst sehen, fühlt sich gut an.«

»Ist Unentschiedenheit dem Herzen nah, so muß der Seele daraus Bitternis erwachsen.« Er lächelte. »Ich habe noch nie gezögert.«

Sie sah ihm forschend ins Gesicht. »Dann entschuldige. Falscher Adressat. Manchmal überkommt es mich einfach.«

»Und Hanna?«

»Sei gut zu ihr, sonst gibt es Probleme mit mir und meinen Toten.«

»Für sie ist noch Platz zwischen ihnen?«

»Und ob, sie hat den Thron.« Grete zog die Flasche heran und schenkte sich ein. »Ich werde ihr sagen, daß Du hier warst. Komm’ bald wieder, vielleicht brauchst Du für den Kampf um Deinen Beruf und die nicht zuende erzählten Geschichten einen Außenposten, wir haben Platz genug. Und jetzt mach’, daß Du rauskommst, ich glaube, die alte Grete will sich die Kante geben und für Zuschauer bin ich nicht mehr schön genug.«

IX

Schwer fiel es Jakob, die Tür in der Keithstraße aufzudrücken. Jedes Mal schien sie sich ihm mehr entgegenzustemmen. Aber der Zeitpunkt war gut gewählt, eine halbe Stunde vor Schichtende war der Flur bis auf verhuschte Einzelgestalten, die Blickkontakt vermieden, leer.

Er öffnete die Tür zu Oskars Büro, wie erwartet war sein Freund unterwegs. Wenn es jemanden gab, der die Arbeit anzog wie kurz vor Gewitter nervöse Pferde die Fliegen, dann Oskar Blum. Seine Jacke hing halb auf der Stuhllehne, halb lag sie am Boden. Jakob zog sie gerade und strich über die Schulterpartie. Er wusch den zu zwei Dritteln mit abgestandenem Kaffee gefüllten Becher aus, zog einen Apfel und eine Bäckertüte aus der Tasche und legte sie mitten auf den Tisch.

Vermutlich wären die Schrippen pappig, wenn er sie fände. Die bulgarische Mafia forderte Krusten als Tribut. Jakob goß die vereinsamten Pflanzen auf der Fensterbank und verließ das Büro. Den nächsten vorbeihastenden Kollegen grüßte er und fragte nach dem Zimmer der neuen Kollegin aus Westdeutschland. Man hatte sie in Schumans gesetzt, was naheliegend war, aber lieber nicht zum spargelstechenden Herthafan durchdringen sollte. Ausgerechnet eine Schranze. Jakob klopfte an und ging hinein, ohne auf Antwort zu warten. Tanja Wehland starrte ihn an, als hätte er sie beim Lesen von Pornos ertappt.

»Komme ich ungelegen?«

»Aber nein.« Sie raschelte mit Unterlagen. »Ich habe nur noch nicht mit Ihnen gerechnet.«

»Haben Sie denn nichts herausgefunden?« Jakob sah sich nach einem zweiten Stuhl um, fand einen Westberliner Hocker vor dem Aktenschrank und zog ihn zum Fenster.

»Ich habe mich in das Leben unseres Witwers eingegraben.«

Jakob setzte sich vorsichtig, schlug ein Bein über und lauschte.

»Er ist aus einem Kaff in der Nähe von Karlsruhe.«

»Daher das gute Gehör für den verborgenen Dialekt seiner Frau.«

»Abitur hat er in Karlsruhe gemacht. Studium der Physik erst erfolgreich in Aachen, dann im Hauptstudium der überraschende Wechsel an die FU. Wohl ein Abstieg, karriereplanungsmäßig gesehen. In Berlin hat er zunächst in einer WG in Kreuzberg gewohnt, nach zwei Semestern wechselte er in ein Zimmer bei einem älteren Paar in Dahlem. Ausgezogen ist er dort erst Jahre später.«

»Wie sind Sie an die Information gekommen?«

»Aus seinen Studienunterlagen ging hervor, daß er zwei Arbeiten gemeinsam mit einer Kommilitonin verfaßt hat.«

»Kannte sie unseren Witwer näher?«

»Keine Spur, was nicht an ihr lag. Sie beschrieb ihn als kriminell gutaussehend auf eine beunruhigende Weise. Sogar ein Photo von damals hat sie aufgehoben und mir gefaxt.«

»Und, sah er gut aus?«

»Kalt wie Hundeschnauze. Auf dem Photo hängt sie an ihm wie Kleister. Jahrelang hat sie ihn angebohrt. Deshalb konnte sie mir auch seinen Auszug aus der Villa beschreiben. Er war längst wissenschaftlicher Mitarbeiter, kurz vor der Hablilitation, da starben die Wirtsleute kurz nacheinander. Er zog in das Hochhaus am Roseneck. Was wie eine Notlösung aussah, wurde zur langjährigen Heimat.«

»Wohl eher zum Unterschlupf.«

»Erst recht, da er nicht etwa das mit bombastischer Aussicht gesegnete Penthouse, sondern eine piefige Zweizimmerwohnung mittendrin bewohnt hat.«

»Kein Anlaß zum Geldausgeben.«

»Er unternahm viele Auslandsreisen. Seine Reputation stieg, er bekam Gastprofessuren, schließlich die ordentliche an der Heimatuniversität. Hielt beachtete Vorträge auf Tagungen, wurde in Gremien berufen, übernahm Beratungstätigkeiten für die Politik.«

»War er jemals im Fernsehen?«

»Seine Stellung blieb die unauffällige Zweizimmerwohnung, wenig sichtbar. Ich weiß von einem Angebot der Regierungspartei, ihn offener in die Politik einzubinden, das er abgelehnt hat.«

»Er muß eine Menge verdient haben mit all dem.«

Tanja grub in ihren Unterlagen und zog einen zusammengehefteten Packen heraus. »Seine finanziellen Verhältnisse sind äußerst beruhigend. Monatliche Eingänge eines komfortablen FU-Gehalts, etliche fünfstellige Beträge für Gutachten und alljährliche Entlohnungen für Sitze in Aufsichtsräten und Stiftungen.«

»Ein angesehener Mann.«

»Seine wissenschaftliche Veröffentlichungsliste, sollte man meinen, müßte darunter gelitten haben, aber sie ist schier endlos.«

»Und sein Privatleben?«

»Ich bin zehn Jahre vor Sarah zurückgegangen. Keine Bindungen, nirgends. Erhebliche Kosten für berufliche Auslandseinsätze.«

»Und nach dem Nestbau für Sarah arbeitet er weniger und fliegt nicht mehr so oft aus?«

»Eben nicht. Bis heute hat er seine Tätigkeit in keiner Weise eingeschränkt. Was lukrativ, angesehen und weit draußen ist, nimmt er an.«

»Aber?«

»Er bleibt kürzer. Fliegt an zum Termin, reist ab direkt danach.«

»Und das war nicht immer so?«

»Ein paar Tage hier, ein paar Nächte da. Ich bin den Reisen nachgegangen, kann allerdings kein Muster erkennen.«

»Keine touristischen Ziele, keine angesagten Golfplätze, Verwandte in der Nähe?«

»Er hat nur noch einen steinalten Onkel in einem Karlsruher Altersheim. Nein, das einzig Auffällige ist die Größe der Städte. Nur sie hat ihn zum Bleiben veranlaßt, keine Provinz, keine schöne Gegend.«

»Also nur Orte mit Unterwelt?«

»Reichlich Angebote für unausgelebte Sadisten mit goldener Kreditkarte. Aber ich konnte nichts finden. Seine monatlichen Ausgaben sind einfach zu gering für seine Einnahmen. Grob gesagt, weiß er nicht, wohin mit der Kohle.«

»Keine kostspieligen Hobbys?«

»Eine Segelyacht wäre nicht schlecht gewesen, aber leider, seine Frau war wasserscheu.«

»Keine schicken Tennis- oder Golfklubs, rot- oder blauweiß, keine teuren Urlaube für das junge Paar?«

»Nichts.«

»Haben Sie sich bei den Nachbarn umgehört?«

»Keine Hundegänge, auf denen man sich hätte begegnen können, den Wagen fuhr er immer direkt in die Garage. Nur beim Joggen, das wußte jeder, da war er wie eine Funkuhr. Niemand hat Besucher bemerkt, auch kein Hauspersonal außer Maria, nicht mal Schneeräumer oder Rasenmäher. Alles hat Sarah gemacht.«

»Die Schießscharten sind kein Zufall.«

»Ein Nachbar erinnerte sich an den Umbau damals. Dessen größte Sorge war, was das alles gekostet haben mag. Man hätte dafür neu bauen können, vermutete er.«

»Sind Sie mit Kaufvertrag und Baugenehmigung schon weiter?«

»Leider nein, die Herrschaften bei den Baubehörden sind zäh.«

»Nicht drängeln, dann bocken sie.«

»Keine Sorge, ich bin einfach unendlich hartnäckig.«

Jakob sah Gummistiefel reglos in einer Pfütze stehen, schlammverkrustet bis oben hin.

»Der Nachbar hatte recht, übrigens. Der Umbau hat Unsummen gekostet. Das war das einzige Mal, daß sein Konto blank war.«

»Sieh an«, sagte Jakob, »der Traum des Lebens in Schlachtensee, verwirklicht von wartendem Geld.«

»Mit Schießscharten.«

»Sechsundvierzig mußte er werden und Sarah treffen.«

»Und eine Folterkammer bauen, dieser Scheißkerl.«

»Vorsicht«, warnte Jakob, »wir vermuten bloß. Bleiben Sie dran an der Baubehörde und suchen Sie den Notar. Vielleicht hilft es, den Witwer noch mal zu drängen wegen der Adresse der Baufirma.«

»Nicht nötig, der Nachbar hat Photos von den Baumaßnahmen.« Tanja grinste. »Morgen Abend hat er mich eingeladen. Er ist sich sicher, daß die Autos der Handwerker drauf sind.«

»Na, dann passen Sie auf sich auf. Nicht, daß Sie perspektivisch auch in so einer Villa landen.«

Sie lachte. »Lieber schlafe ich unter einer Brücke.«

»Wenn Sie die Handwerker haben, rufen Sie mich an. Ich möchte dabei sein, wenn Sie sie befragen.« Jakob stand auf, stellte den Hocker zurück, wandte sich zur Tür und zögerte.

»Wie klappt es mit Ihnen und den Kollegen? Werden Sie gut integriert?«, fragte er.

Tanja krauste die Stirn. »Ich werde nie gut integriert. Aber niemand will mir ans Leder, falls Sie das meinen.«

»Eigentlich nicht. Ich habe nur eine etwas heikle Aufgabe und weiß nicht, ob ich Sie da reinziehen soll.«

»Versuchen Sie es. Vielleicht lasse ich mich gerne ziehen.«

Jakob sah in ihr junges Gesicht. »Es gab eine Geiselnahme, kurz bevor Sie hier angefangen haben.«

»Seitdem sind Sie krankgeschrieben, ich weiß.«

Jakob schwieg.

»Falls Sie wissen wollen, was der Flurfunk über Sie erzählt ...«

Jakob hob abwehrend die Arme. »Lieber nicht.«

Tanja zuckte mit den Schultern.

»Es geht um die sichergestellten Beweismittel. Der Täter sagt, er hatte ein Handy, aber es steht nicht auf der Liste.«

»Ein Geschenk seiner Mutter oder warum will er es zurück?«

»Könnten Sie sich für mich umhören, wo dieses Handy ist? Vorsichtig natürlich, inoffiziell. Niemand darf merken, daß ich es suche.«

»Warum ist Ihnen das so wichtig? Vor allem, sind Sie sich sicher, daß er die Wahrheit sagt?«

»Sicherer als mir lieb ist«, sagte Jakob. »Wenn ich es allein machen könnte, würde ich es tun. Aber mir wird niemand was erzählen, schon für Sie wird es schwer genug, weil wir zusammenarbeiten.«

»Aber wenn ich es finde, erfahre ich, was es damit auf sich hat.«

Jakob nickte. »Und seien Sie vorsichtig, immerhin geht es um die Unterschlagung von Beweismitteln.«

»Mit kriminellen Kollegen kenne ich mich aus. An der Grenze hatte ich öfter zu tun als in meinem Alter gesund ist.« Sie grinste ihn an. »Aber das erzähle ich Ihnen, wenn ich das Handy habe.«

Grete warf die Post vor Hanna auf den Tisch. Sie zuckte nicht einmal.

»Es ist wieder einer von der Staatsanwaltschaft dabei«, sagte Grete. »Willst Du nicht wenigstens nachsehen, was sie Dir schreiben?«

Hanna sehnte sich nach Jakobs Händen. Nach ihrem Abgang aus dem Krankenhaus im Februar hatte sie im Flur auf ihn gewartet, starr und kalt, sieben Stunden lang. Als er zurückkam, kroch sie in seine Hände, so tief sie konnte. Er war warm, er wußte, wie man atmet, sie fiel in seine Atemzüge ein. Zum ersten Mal seit dem Verschwinden ihrer Mutter hatte sie sich geborgen gefühlt, heimgekommen.

Die ganze Nacht hatte er sie gehalten. Inzwischen wünschte sie, er hätte wenigstens versucht, weniger edel zu sein, vielleicht könnte sie sich dann nach mehr sehnen als seinen Händen. Aber immerhin fühlte sie irgendetwas. In den ersten Wochen nach dem Krankenhaus lag sie mit offenen Augen in ihrem Bett und schaffte es nicht, den Kopf zu heben. Ein von Sand bedeckter Feldstein, tonnenschwer, kalt und reglos. Nicht einmal Wind, Regen und Sonne drangen zu ihr durch.

Grete hatte ihr über den Kopf gestrichen, mit ihr geschimpft, die Fenster aufgerissen, Vorträge gehalten, Cellokonzerte abgespielt, sie gefüttert und schließlich einen Freund, den Psychiater Bertram Lostau gerufen. Hanna fühlte nichts, als er sie untersuchte, hörte nichts, als er wie ein Fisch aus dem Innern eines Aquariums die Lippen bewegte. Er ließ eine Anstaltspackung Medikamente da, aber Hanna preßte nur die Lippen aufeinander, als Grete sie ihr wie köstliche Pralinen darbot.

Бесплатный фрагмент закончился.

399
477,84 ₽
Жанры и теги
Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
Объем:
511 стр. 2 иллюстрации
ISBN:
9783945611012
Издатель:
Правообладатель:
Автор
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают