Читать книгу: «Philosemitische Schwärmereien. Jüdische Figuren in der dänischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts», страница 6

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2.3 Jüdische und christliche Welten
2.3.1 Ausgrenzung I: Im Hause des reichen Juwelenhändlers

Als die Erzählung einsetzt, befindet sich Philip Moses im Haus eines seiner beiden Söhne, dem reichen Juden Samuel, einem Juwelenhändler. Hier suchen viele Juden Schutz, wobei doch Samuel es vor allen anderen ist, gegen den die Aggression der aufgebrachten Masse sich richtet. Samuel ist „den rigeste Juveleer i Hamborg [der reichste Juwelier in Hamburg]“ (IngemannIngemann, Bernhard Severin 2007: 99) und verkörpert somit die altbekannte Vorstellung vom reichen „Geldjuden“, der für seine Profit notfalls bereit ist, über Leichen zu gehen. Zumindest klingt diese Vorstellung in der Figur an, wenngleich diese Leiche „nur“ seine Religion ist. Er befürwortet die Konversion zum Christentum und erklärt: „Mig er det s’gu ligegyldigt, enten man kalder mig Jøde eller Christen […] naar jeg kun kan bjerge Gods og Liv [Mir ist es doch gleichgültig, ob man mich Jude oder Christ nennt, solange ich nur Besitz und Leben retten kann]“. Ob er sich nun Wasser über die Stirn gießen lasse oder nicht, mache für ihn keinen Unterschied. „Det er jo kun lumpne Ceremonier, som kan være ligesaa gode som alle vore Fixfaxerier. I vore Tider er den Tro s’gu den bedste, som giver Sikkerhed og Fred i Handel og Vandel [Das sind ja nur lumpige Zeremonien, die ebenso gut sind wie unser ganzer Firlefanz. In unseren Zeiten ist der Glaube der beste, der Sicherheit und Frieden im Handel und Wandel gibt]“ (Ingemann 2007: 100). Und so drückt sich nicht nur seine Missachtung gegenüber der christlichen, sondern auch gegenüber der eigenen, der jüdischen Religion aus. Von ihr hat sich Samuel längst abgewandt, auch seine Sprache drückt dies aus. Das umgangssprachliche „s’gu“ verwendet vor allem Samuel in seiner Figurenrede – außer ihm nur ein weiterer reicher Jude aus seinem Umkreis – und das auffallend häufig. „S’gu“ ist eine umgangssprachliche Interjektion und zu Beginn des 19.Jahrhunderts ein Modeausdruck (vgl. Det Danske Sprog- og Litteraturselskab 1939). Seine Verwendung zeigt also an, wie Samuel seine Sprache der Sprache der Mehrheitsgesellschaft angepasst hat. Gleichzeitig steht sie im Kontrast zur altmodischen und von religiösen Motiven durchzogenen Sprache des Rabbiners. Im Gegensatz zu den jüdischen Figuren auf der Theaterbühne, deren Rede häufig durch eine Sondersprache gekennzeichnet ist (vgl. Brandenburg 2014: 106–110), zeichnet sich die Sprache Samuels also gerade durch die auffällige Verwendung moderner Alltagssprache aus. Ironischerweise ist „s’gu“ eine Verkürzung von „saa Gud hjelpe mig“ („so wahr mir Gott helfe“), die Samuel also auch dort verwendet, wo er die religiöse Zugehörigkeit auf ihre assimilierende Funktion reduziert. Der Modeausdruck verweist somit zum einen auf den gesamtgesellschaftlichen Säkularisierungsprozess, dem der Text selbst kritisch gegenübersteht, zum anderen zeigt er an, dass Samuel und dessen soziales Umfeld unkritisch an diesem Säkularisierungsprozess teilhaben. Samuels Vater, der Rabbiner, erinnert ihn mit seinen mahnenden Worten und seiner Frömmigkeit stets und ständig an die Religion seiner Vorfahren und wird seinem Sohn dabei immer lästiger. Die reichen Juden im Hause des noch reicheren Samuel schlagen unterschiedliche Strategien vor, sich ihrem christlich dominierten Umfeld anzupassen, um weiterer Verfolgung zu entgehen. Sei es die Taufe, als scheinbar einfache Formalität, oder der Wunsch, die Taufe könnte durchgeführt werden mit „ætsende Vand, som kunde gjøre vore sorte Haar lyse [ätzendem Wasser, das unsere schwarzen Haare hell machen könnte]“ (Ingemann 2007: 101). Ein Anderer bringt an, dass es nicht die Religion sei, wegen der die Juden verfolgt würden, sondern ihr Reichtum. Ein Jude sei doch ohnehin immer als Jude zu erkennen, ob getauft oder nicht. So sei es besser, den Reichtum nur im eigenen Heim auszuleben, „men bærer ikke eders Veldfærd til Skue! saa er det Ingen, som misunder og forfølger Eder [aber stellt nicht euren Wohlstand zur Schau! dann neidet und verfolgt euch auch niemand]“ (Ingemann 2007: 103). Dem entgegnet „en af de rigeste [einer der Reichsten]“ (Ingemann 2007: 103) mit dem Vorschlag von Anbahnungen interkonfessioneller erotischer Verhältnisse zwischen den eigenen Töchtern und den Söhnen der christlichen Geschäftspartner. Sogar die eigenen Ehefrauen werden hier als willfährige Vermittlerinnen in Betracht gezogen: „[V]i vil bede alle de unge Grosserersønner til Bords hos os – vore Døttre og Koner skal være milde og føielige imod dem og ikke agere saa knipske og ærbare [Wir werden all die jungen Söhne der Großhändler an unseren Tisch bitten – unsere Töchter und Frauen sollen ihnen gegenüber mild und fügsam sein und nicht so schnippisch und ehrbar agieren]“ (Ingemann 2007: 103).

In dieser ökonomisch und zweckorientiert argumentierenden Gemeinschaft erscheint der Rabbiner Philip Moses als ein Fremdkörper. Seine Rede ist stets auf die Hebräische Bibel bezogen, vermischt sich immer wieder mit direkten Zitaten aus dem Alten Testament,1 zumeist aus den Prophetenbüchern, und seine eigenen Worte klingen selbst wie Prophetie, in denen bereits das Donnern des Jüngsten Tags anklingt, wenn er zum Beispiel ausruft:

„Elendige Søn […] fordømt være den Aand, som taler gjennem din Mund! […] Fordømt være det Gods og det Liv, hvorfor du vil sælge dine Fædres Tro […]! – Fordømt være den Sikkerhed og Fred, hvorfor du forraader Jehova! – fordømt den Handel og Vandel, som har gjort Guds Folk til Slaver af Mammon og til Guldkalvens afsindige Tilbedere!“ (IngemannIngemann, Bernhard Severin 2007: 100)

Elender Sohn, verflucht sei der Geist, der durch deinen Mund spricht! Verflucht sei das Habe und das Leben, für das du den Glauben Deiner Väter verkaufen willst! Verflucht seien die Sicherheit und der Frieden, für den du Jehova verrätst – verflucht der Handel und Wandel, der Gottes Volk zu Sklaven des Mammon und zu wahnsinnigen Anbetern des Goldenen Kalbes gemacht haben!

So herrscht Samuel ihn unbeeindruckt und ungeduldig an: „Du taler over dig, Gamle! […] og forstaaer dig ikke paa at føie dig i Tiden. Du er gammel og hænger ved det Gamle; men dine Propheters Tider ere s’gu forbi [Du bist außer dir, Alter! und verstehst es nicht, dich in die Zeit zu fügen. Du bist alt und hängst am Alten; aber die Zeiten deiner Propheten sind nun vorbei]“ (IngemannIngemann, Bernhard Severin 2007: 100), und so fordern auch die anderen Juden: „Bort, bort med den gamle Prophet! [Weg, weg mit dem alten Propheten!]“ (Ingemann 2007: 104). Philip Moses erfährt also innerhalb seiner eigenen Gemeinschaft eben jene Ausgrenzung, vor der die anderen Juden sich zu schützen suchen. Was Philip Moses in seiner eigenen Familie zum Objekt des Spotts macht, schützt ihn wiederum, als er inmitten der Hep-Hep-Krawalle das Haus seines Sohnes verlässt, weil der innerjüdische und innerfamiliäre Konflikt, der im Moment der Bedrohung von Außen seinen Höhepunkt findet, für ihn nicht mehr zu ertragen ist. Dem steinewerfenden Pöbel auf der Straße gilt Philip Moses hingegen als „ærlig Mand – ham er det Synd at røre ved eller spotte [ehrlicher Mann – ihn anzurühren oder ihm zu spotten ist Sünde]“ (Ingemann 2007: 105). So lassen sie ihn unversehrt passieren.

2.3.2 Ausgrenzung II: Im Hause des assimilierten Juden

Begleitet wird Philip Moses von Benjamine, seiner fürsorglichen und frommen Enkelin, die ihm als einzige ihre ungebrochene Loyalität und Liebe entgegenbringt. Benjamines Mutter Rahel, die Tochter des alten Rabbiners, ist früh verstorben, und da Benjamine auch keinen Vater mehr hat, lebt sie abwechselnd bei ihren beiden Onkeln Samuel und Isaak. In der Novelle wird nicht ausdrücklich erwähnt, dass der Vater ebenfalls verstorben ist, doch ist davon auszugehen, da Benjamine „fader- og moderløs [vater- und mutterlos]“ ist (IngemannIngemann, Bernhard Severin 2007: 106). Bemerkenswert ist diese unkommentierte Leerstelle insofern, als dem Vater offenbar keine Bedeutung beigemessen wird. Die Figur des weisen Patriarchen ist durch den alten Rabbiner abgedeckt, die negativen jüdischen Figuren durch die beiden Söhne des Rabbiners. Die verstorbene oder abwesende Mutter ist Teil des Narrativs von der ‚schönen Jüdin‘ und findet sich in fast allen anderen Texten dieser Analyse wieder.1 Der abwesende Vater, der weder als negativ konnotierter „Geldjude“ noch als alter Patriarch dargestellt werden muss, da diese Figuren bereits besetzt sind, hat keinen literarischen Kontext, in den er sich einschreiben könnte, und bleibt somit unerzählt.

In der Kälte der Herbstnacht überredet Benjamine ihren Großvater, mit ihr zu Isaak zu kommen, mit dem ihr Großvater seit fünf Jahren kein Wort mehr gesprochen hat, seit Isaak eine Christin geheiratet hat. Da Philip Moses und Benjamine sonst keinen Zufluchtsort haben, suchen sie nun Schutz bei Isaak und seiner Frau. Die Ehe zwischen einem Juden und einer Christin ist in der Literatur, im Gegensatz zu der umgekehrten Konstellation, ein äußerst seltenes Ereignis. Wo angedeutet, zum Beispiel in LessingsLessing, Gotthold Ephraim Die Juden, findet sie keine Erfüllung (vgl. Lezzi 2006: 61–62, 2013: 67–72). Vor allem aber ist bemerkenswert, dass der jüdische Mann vor der Eheschließung nicht zum Christentum konvertiert ist. In der umgekehrten und weitaus üblicheren literarischen Konstellation, der Liebesbeziehung zwischen einer jüdischen Frau und einem christlichen Mann, ist dies nämlich nahezu immer Vorbedingung (vgl. Krobb 1993; Lezzi 2013). IngemannIngemann, Bernhard Severin orientiert sich in diesem Fall also offenbar am damals geltenden dänischen Recht, das für die Eheschließung zwischen Jüd*innen und Christ*innen keine Konversion voraussetzte (vgl. Schwarz Lausten 2012: 192–193). In Den gamle Rabbin ist jedoch wahre Liebe an wahre Religiosität gekoppelt, was beides in der Ehe zwischen Isaak und seiner Frau nicht gegeben ist. So ist diese Ehe weder erfüllt von Liebe, noch stellt sie eine wahrhaft interreligiöse Verbindung dar, denn beide Eheleute haben sich, wie ich im Folgenden zeigen werde, von ihrer Religion ab- und dem Säkularismus zugewandt.

Die Assimilation des Juden in die christlich-säkulare Mehrheitsgesellschaft scheint bereits vollzogen; von der jüdischen Religion und Tradition hat Isaak sich weitestgehend entfernt. Seine fünf Kinder sind allesamt blond und blauäugig, als hätte der Grad der Assimilation sich bereits in die Körper der Folgegeneration eingeschrieben und jegliche Verbindung zu den leiblichen Vorfahren väterlicherseits auch biologisch abgebrochen. Isaak lebt das assimilierte Leben, das die Juden im Hause Samuels in ihrer Not erst zu entwerfen versuchen. Als Kleiderhändler lebt er einen bürgerlichen Wohlstand, ist aber nicht reicher als viele andere auch. Er unterhält freundschaftliche Kontakte zu Juden wie Christen, die in seinem Haus ein- und ausgehen – wenngleich die Novelle, als die Handlung im Haus von Isaak spielt, tatsächlich nur von Christen erzählt, die dort zu Gast sind. Isaak hat seine Religion weitestgehend abgestreift, ohne eine andere angenommen zu haben. Kurz: Er verkörpert ein säkularisiertes, in der Auflösung begriffenes Judentum. Seine bürgerlich etablierte Lebenssituation stellt scheinbar eine Alternative und einen Kontrast zum ausschließlich an ökonomischen Gewinn interessierten Bruder dar. Doch das Problem ist hier ebenfalls ein Mangel an Nächstenliebe, welcher sich aus einem Defizit an gelebter und empfundener Religiosität ergibt. Isaak nimmt seinen Vater zwar bei sich auf, doch schnell stellt Philip Moses auch hier einen Fremdkörper dar, dessen Anwesenheit den Anderen bald lästig wird. Auch die Freunde des Hauses verhalten sich Philip Moses gegenüber respektlos und äußern sich in seiner Anwesenheit gar zustimmend und verharmlosend über die judenfeindlichen Ausschreitungen, die noch immer nicht ganz abgeklungen sind. Schließlich stellt sich sein fünfjähriger blonder Enkel vor den alten Rabbiner hin, um seinen demütigenden Spaß mit ihm zu treiben: „[H]ar jeg en skægget Smaus til Bestefader, som ikke tør spise Flesk? nei, ham skal vi lege Hep Hep med, som de andre Drenge [Hab ich einen bärtigen Schmautz (Schimpfwort für ‚Jude‘, KB) zum Großvater, der nicht wagt, Schweinefleisch zu essen? Nein, mit ihm wollen wir Hep Hep spielen, wie die anderen Jungen]“( IngemannIngemann, Bernhard Severin 2007: 113). Benjamine, tief getroffen von den Schmähungen gegen ihren Großvater, hält ihrem kleinen Cousin weinend die Hand vor den Mund, Isaak unternimmt einen vagen Versuch, seinen Vater zu verteidigen, doch seine Frau nimmt „det unskyldige Barn [das unschuldige Kind]“ in Schutz und beklagt: „[H]erefter tør Ingen af os mere lukke Munden op i vort eget Huus [Hiernach wagt keiner von uns mehr, den Mund in unserem eigenen Haus aufzumachen]“ (Ingemann 2007: 114). So sieht sich Philip Moses erneut gezwungen aufzubrechen und auch das Haus seines zweiten Sohnes zu verlassen. Begleitet wird er wiederum von Benjamine, die ihn nicht aus den Augen und aus ihrer Obhut lässt, und die im Hause ihres Onkels und der angeheirateten Tante ohnehin nicht mehr als einen Platz zum Schlafen und eine Menge Hausarbeit zur Aufgabe bekam.

Auch im Haushalt seines zweiten Sohnes Isaak fehlt es also an Wärme und Liebe ebenso wie am Glauben an Gott, auch hier wird Philip Moses gewaltvoll von seiner eigenen Familie und Gemeinschaft ausgegrenzt. Während draußen vorm Hause Samuels der „hamborgske Pøbel [hamburgische Pöbel]“ (IngemannIngemann, Bernhard Severin 2007: 105) die geschäftstüchtigen Juden bedroht, sind im Hause Isaaks Christen und Juden in ihrer areligiösen Gefühlskälte miteinander vereint. Obwohl „Christen“ genannt, ist mehr als deutlich, dass diesen Christen jegliche Form der Nächstenliebe fremd ist. Auch der Respekt vor dem alten Rabbiner fehlt ihnen, als sie einander spöttisch fragen: „Hvem er den underlige Gamle? – han taler jo som en Bibel [Wer ist der wunderliche Alte? – Er redet ja wie eine Bibel]“ (Ingemann 2007: 113). So stellt sich in der Novelle der Konflikt nicht zwischen Juden und Christen dar, sondern zwischen aufrichtigem Glauben und Gottesferne. Gottesferne führt stets zu Ausgrenzung, die in der Novelle durch die wiederholten Ortswechsel erzählt wird, zu denen Großvater und Enkelin genötigt sind. Kritik richtet sich nicht gegen eine der beiden Religionsgemeinschaften, sondern gegen die Säkularisierung. Die Jüdin und der Rabbiner als idealisierte Figuren in diesem philosemitischen Konstrukt sind die Opfer dieser Verweltlichung, die Opfer einer Gesellschaft, die seit der Aufklärung einen rasanten Wandel vollzieht.

Konfessionelle Beliebigkeit und Konversion aus Kalkül sind Vorwürfe, die auch aus späteren Werken IngemannsIngemann, Bernhard Severin herauszulesen ist. So weist Mogens Brøndsted darauf hin, dass die Konversion zum Christentum, wie sie „Heinrich Heine og konsorter [Heinrich Heine und Konsorten“] (Brøndsted 2007b: 16) vollzogen haben, von Ingemann in seinem Drama Renegaten [Der Renegat; 1838] (1853a) kritisch karikiert wird. „Derimod havde Ingemann respekt for den gammeljødiske ånd, som det ses af fortellingen ‚Den gamle Rabbin‘ [Hingegen hatte Ingemann Respekt vor dem altjüdischen Geist, wie an der Erzählung ‚Den gamle Rabbin‘ zu sehen ist]“ (Brøndsted 2007b: 16). Doch dieser „altjüdische Geist“ ist ein Phantasma, der einer christlichen Wunschvorstellung vom Judentum entspringt. Die Texte Ingemanns schreiben sich in die vorherrschende Religionsauffassung der deutschen Romantiker ein, wie der Germanist Wolf-Daniel Hartwich in seiner Monografie Romantischer Antisemitismus (2005) dargelegt hat:

Die Romantiker beklagen in der Gegenwart den allgemeinen geistig-religiösen Niedergang der westlichen Kultur durch ihre Säkularisierung, Kapitalisierung und Industrialisierung. Das Judentum habe diesen Prozeß nicht bewirkt, fördere diesen aber und profitiert [sic!] von ihm. Die romantische Apokalyptik vollzieht keine dualistische Konfrontation mit dem Judentum. Vielmehr wird in der jüdischen Überlieferung selbst[,] als der ältesten göttlichen Ursprungs[,] das genetische Potential der Erlösung gesehen. Die jüdische Urgeschichte wird dabei in die christliche Kunstreligion transformiert. (Hartwich 2005: 27)

Neben den opportunistischen Juden dieser Novelle sind es also einzig Philip Moses und Benjamine, die eine aufrichtige Nähe zu Gott und damit „das genetische Potential der Erlösung“ repräsentieren. In ihren Figuren verschränken sich Konzepte von Religiosität, Geschlecht und Alter hierarchisch: Während Philip Moses’ Handeln stets auf Gott bezogen ist, ist Benjamine mit ebensolcher Innbrunst auf ihren Großvater bezogen. Während Philip Moses Gott gegenüber absolut loyal ist, ist Benjamine ihrem Großvater gegenüber vollkommen loyal. Doch bietet die Novelle Benjamine noch einen anderen religiösen Weg an, der sie zunächst in große Gewissensnöte bringt: den jungen christlichen Maler Veit.

2.3.3 Ankommen: Im Hause der guten Christen

Veit hat seinen Weg als Sohn des Hausarztes in die Familie von Isaak gefunden und unterrichtet dort als „Tegnemester; men hvad der drog ham did var især Benjamines skjønne Ansigt, der havde et særdeles Interesse for ham som Kunstner [Zeichenmeister; doch was ihn dorthin zog, war insbesondere Benjamines schönes Gesicht, das für ihn als Künstler von besonderem Interesse war]“ (IngemannIngemann, Bernhard Severin 2007: 112). Auch ihr gibt er hin und wieder Zeichenstunden und steht nun, während Philip Moses in einem Sessel in der Ecke sitzt,

ved Vinduet og talte med Benjamine om den gamle ærværdige Bedstefader, som han strax havde bemærket og hilset med den Ærbødighed, hans Alder og ædle Udseende opvakte, og over hvis skjønne patriarkalske Oldingshoved han ret havde glædet sig. (IngemannIngemann, Bernhard Severin 2007: 112)

am Fenster und sprach mit Benjamine über den alten ehrwürdigen Großvater, den er sogleich bemerkt und mit der Ehrerbietung gegrüßt hatte, wie sein Alter und edles Aussehen es verlangten, und über dessen schönes patriarchalisches Greisenhaupt er sich recht gefreut hatte.

Als einziger der Hausgäste begegnet Veit ihm mit Freundlichkeit und Wärme und empfindet ihm gegenüber schnell eine ebenso große Zuneigung wie gegenüber Benjamine. Das Fenster, an dem er mit Benjamine steht, fungiert hierbei als Erkenntnismetapher, die den jungen Maler gegenüber den anderen Gästen, die sich in der Tiefe des Raumes befinden, aber auch gegenüber Philip Moses, der allein in einer Ecke sitzt, auszeichnet.

Als Philip Moses und Benjamine auch das Haus des zweiten Sohnes verlassen, weil Philip Moses die Kälte und Respektlosigkeit dort nicht mehr erträgt, und Benjamine „fulgte grædende efter ham [ihm weinend folgte]“ (IngemannIngemann, Bernhard Severin 2007: 114), erweist sich Veit als ihr Retter. Er schützt sie vor weiteren judenfeindlichen Übergriffen durch gewaltbereite Christen und bringt sie in das Haus seines Vaters, wo Philip Moses noch auf der Türschwelle zusammenbricht und in ein langes Fieber und einen tiefen Schlaf fällt. Die Türschwelle zum Haus des Christen ist ein Ort des symbolischen Übergangs, den Benjamine vollziehen kann, den Philip Moses jedoch nur in einem ambivalenten Zwischenzustand passiert. In dieser körperlich-geistigen Übergangssituation verbleibt er lange Zeit. Oft schreckt er aus seinen Fieberfantasien hoch, „hvori han ofte med Job forbandede sin Fødselstime og med Propheterne saae sit ulykkelige Folks Undergang og Jerusalems ødeleggelse [in denen er oft mit Hiob seine Geburtsstunde verfluchte und mit den Propheten den Untergang seines unglücklichen Volkes und Jerusalems Zerstörung vorhersah]“ (Ingemann 2007: 115). Seinen hiobgleichen Qualen begegnet Benjamine, in dem sie an seinem Bett sitzt und betet oder ihm aus der Bibel vorliest. Die Worte der Heiligen Schrift beruhigen den Kranken, ohne dass ihm jedoch bewusst ist, dass es sich um die Evangelien handelt. Benjamine selbst ist von den Worten tief bewegt und geht aus der Krankheitsphase ihres Großvaters als ‚Seelenchristin‘ hervor.1 Während für Philip Moses Veits Haus Symbol für ein Übergangsstadium zwischen Leben und Tod, zwischen Judentum und Christentum, zwischen Tod und Ewigem Leben bleibt, wird es Benjamine, deren Leben bisher durch Rastlosigkeit und Unzugehörigkeit gekennzeichnet war, zur geistigen und geistlichen Heimat.

Veit, der Künstler, und sein Vater, „den gamle Doctor Veit [der alte Doktor Veit]“ (IngemannIngemann, Bernhard Severin 2007: 116), bieten Benjamine und Philip Moses erstmals in der Novelle einen sicheren und geschützten Raum, aus dem sie nicht gewaltsam ausgeschlossen werden. Veits Vater tritt in der Novelle jedoch kaum weiter in Erscheinung. Als Arzt ist es sein Beruf und seine Berufung zu helfen, so dass sein freundliches Handeln gegenüber Philip Moses und Benjamine keiner weiteren Begründung bedarf.2 Der junge Maler Veit vor allem ist es, dessen Handeln als wahrer Christ in die Zukunft weist. Das Gebot der Nächstenliebe wird als christliches Alleinstellungsmerkmal inszeniert, das nun, da es den beiden jüdischen Figuren endlich entgegengebracht wird, zwangsläufig zu deren Konversion führen wird. Im Wechsel mit Benjamine wacht Veit am Bett des kranken Juden. Anders als Philip Moses redet er nicht nur von Gott, sondern handelt nach göttlichem Gebot. Somit werden in diesen beiden Figuren zwei religiöse Konzepte einander gegenübergestellt: starres Wort vs. gute Tat. Bereits in der Figurenkonstellation ist festgelegt, welches Konzept hier das zukunftsweisende ist. Der Text macht das Judentum als ein krankendes religiöses Prinzip aus. Es ist zwar als Vorläuferreligion des Christentums inszeniert, wird aber zugleich totgesagt. Denn für Benjamine stellt das mit der Figur des Philip Moses verbundene Prinzip keine Zukunftsperspektive dar. Weder ihr verwandtschaftliches Verhältnis zu ihrem Großvater noch dessen Form der Religiosität weisen Benjamine einen Weg in die Zukunft. In Veit hingegen vereinen sich das Versprechen einer bürgerlichen Ehe samt Nachkommenschaft und das Versprechen auf religiöse Erlösung. Der Erfüllung dieses Zukunftsversprechens stehen jedoch die tiefe Religiosität des Rabbiners und die Loyalität der Enkelin zu ihrem Großvater im Weg. Denn er erfasst die Botschaft des Evangeliums zunächst nicht. Sein ambivalenter Zustand zwischen Leben und Tod, aus dem er sich nur kurz erholt, verweist auf einen Zustand religiöser Ambivalenz.

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