Читать книгу: «Philosemitische Schwärmereien. Jüdische Figuren in der dänischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts», страница 8

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Der Text belässt es nicht bei der Szene am frischen Grab des alten Rabbiners, sondern besiegelt das Ideal der religiösen Transformation mit einem Schlussbild. Ein Jahr später steht das junge Paar frisch verheiratet wieder auf dem Friedhof und reicht sich die Hände über den Grabstein des Rabbiners hinweg, „hvorunder den gamle Philip Moses stod opreist, med det blege ærværdige Aasyn imod Østen [unter welchem der alte Philip Moses aufgerichtet stand, das blasse ehrwürdige Angesicht gen Osten gerichtet]“ (IngemannIngemann, Bernhard Severin 2007: 122). Das Perlmuttkreuz an ihr Herz gedrückt spricht Benjamine, die im ersten Teil der Novelle, als Jüdin, noch so oft sprachlos war, nun, als Christin, die abschließenden Worte:

„Nu har han seet det store Østens Lys“ – sagde hun glad – „det lyste alt her med den sidste Morgenrøde i hans bristende Øie, og han stirrer nu ikke forgieves efter det i Graven. Det lyser over Gruset af Guds hellige Stad – og i dets Herligheds Glands skulle alle Slægter paa Jørden velsignes.“ (IngemannIngemann, Bernhard Severin 2007: 122)

„Nun hat er das große Licht des Ostens gesehen“ – sagte sie glücklich – „es leuchtete mit der letzten Morgenröte bis hierher in seine brechenden Augen, und er muss nun nicht vergeblich im Grabe danach starren. Es leuchtet über den Erdboden von Gottes heiliger Stätte – und im Glanz seiner Herrlichkeit sollen alle Geschlechter auf Erden gesegnet werden.“

Der Rabbiner in seiner Frömmigkeit und seiner überformt althebräischen Figurengestaltung ist sowohl die Grundlage für diese Ehe als auch das Hindernis, das überwunden werden musste. Seine Glaubenstransformation wiederum ist erst durch die Eheschließung seiner Enkelin mit dem jungen Christen abgeschlossen. Mit Benjamines nunmehr hörbarer Stimme wird dieser Wandel bezeugt. Erst mit der Ehe seiner Enkelin erhebt sich der Körper des alten Rabbiners zur Auferstehung in Jesus Christus. Dieses Schlussbild verdeutlicht gerade in seiner – nach heutigen Maßstäben – skurril anmutenden Überzogenheit, dass die bürgerliche Ehe integraler Bestandteil des romantischen, philosemitischen Bekehrungsdiskurses ist. Als Alternative zur Ehe scheint allein der Tod vorstellbar, das gilt für Benjamine, und das gilt ebenso für die Jüdin, um die es im folgenden Exkurs geht.

2.5 Exkurs I: Hans Christian Andersen: Jødepigen (1855)

IngemannsIngemann, Bernhard Severin Novelle Den gamle Rabbin lässt sich in ihrer Funktionsweise weiter erhellen, wenn man sie mit einem deutlich später verfassten Text des eine Generation jüngeren Hans Christian AndersenAndersen, Hans Christian in Beziehung setzt, dem Märchen Jødepigen [Das Judenmädchen], das 1855 veröffentlicht wurde. Die inhaltlichen Parallelen zwischen den beiden Erzählungen sind frappierend. In Andersens Jødepigen wird das jüdische Mädchen Sara bereits im Schulkindalter mit den Schriften des Neuen Testaments vertraut gemacht. Als einziges jüdisches Kind an seiner Schule folgt es aufmerksam dem christlichen Religionsunterricht, an dem es jedoch gar nicht teilnehmen darf, sondern stattdessen seine Schulaufgaben erledigen sollte. Doch bemerkt der Lehrer bald das ungewöhnliche Interesse des Mädchens, das „med sine sorte straalende Øine [mit seinen schwarzen leuchtenden Augen]“ dem Unterricht lauscht, „og da han spurgte ogsaa hende, vidste hun bedre Besked end Alle de Andre. Hun havde hørt, forstaaet og gjemt [und als er auch sie fragte, wusste sie besser Bescheid als all die anderen. Sie hatte gehört, verstanden und es behalten]“ (Andersen 2007a: 123). Der Lehrer stellt ihren Vater vor die Wahl, Sara entweder von der Schule zu nehmen oder taufen zu lassen und sagt zur Begründung: „Jeg kan ikke udholde at see disse brændende Øine, den Inderlighed og ligesom Sjæletørst efter Evangeliets Ord! [Ich kann es nicht ertragen, diese brennenden Augen zu sehen, diese Innigkeit und gleichsam diesen Seelendurst nach den Worten des Evangeliums!]“ (Andersen 2007a: 123). So entscheidet Saras Vater, sie von der Schule zu nehmen, denn er hat einst ihrer sterbenden Mutter am Totenbett das Versprechen gegeben, dafür Sorge zu tragen, dass Sara niemals den Glauben ihrer Väter verlassen werde. Dieses Versprechen sei ihm „som en Pagt med Gud [wie ein Pakt mit Gott]“ (Andersen 2007a: 123). Im Gegensatz zu Philip Moses und vielen weiteren jüdischen Männerfiguren, die in dieser Arbeit untersucht werden, stellt er selbst keinen Patriarchen dar, sondern steht der religiösen Entwicklung seiner Tochter vielmehr mit einer gewissen toleranten Indifferenz gegenüber, sieht sich jedoch durch sein Gelübde verpflichtet, die weitere Auseinandersetzung seiner Tochter mit dem Christentum zu verhindern. Die verstorbene Mutter nimmt hier die Funktion gegenüber Sara ein, die der alte Großvater gegenüber Benjamine hat. Doch im Gegensatz zum Rabbiner, der auf dem Sterbebett den Heiligen Geist empfängt und so seiner Enkelin gewissermaßen posthum den Segen zur Taufe und zur Ehe mit einem Christen geben kann, ist diese jüdische Mutter schon lange tot, ihre Rolle als religiöse Kontinuitätsgarantin damit unveränderlich festgeschrieben.1 Wo die Begegnung des alten Patriarchen Philip Moses mit dem Heiligen Geist die Erlösung für seine Enkelin Benjamine bringt, bleibt dieses Ereignis in der Mutter-Tochter-Konstellation dieser Erzählung unmöglich, und auch der Vater ist durch die Dominanz der toten Mutter und der Unwiderrufbarkeit ihrer letzten Wunsches handlungsunfähig. So findet diese Erzählung kein glückliches Ende. Sara wird ein Dienstmädchen im Haus einer christlichen Familie. Fleißig, still und fromm verrichtet sie ihren Dienst über Jahre, und auch als der Hausherr stirbt und die Hausdame in ärmlichen Verhältnissen leben muss, bleibt Sara bei ihr.

[H]un var Hjelpen i Nøden, hun holdt det Hele sammen; hun arbeidede til ud paa Natten, skaffede Brød i Huset ved sine Hænders Gjerninger, […] Sara vaagede, pleiede, arbeidede, mild og from, en Velsignelse i det fattige Huus. (AndersenAndersen, Hans Christian 2007a: 125–126)

Sie war die Hilfe in der Not und hielt das Ganze zusammen; sie arbeitete bis in die Nacht hinein, schaffte Brot ins Haus durch ihrer Hände Tat, Sara wachte, pflegte, arbeitete, mild und fromm, ein Segen in dem armen Haus.

Als die alte Frau sie bittet, Sara möge ihr aus der Bibel vorlesen – womit sie das Neue Testament meint – gerät Sara, die sich all die Jahre an das Gelübde gehalten und niemals mehr in die christliche Bibel geschaut hat, in Gewissensnot, ist jedoch durch den Wunsch der Kranken moralisch legitimiert, im Dienste der Nächstenliebe wieder aus den Evangelien zu lesen. Innerlich zerrissen gelobt sie im Stillen ihrer Mutter:

„Moder, dit Barn skal ikke tage de Christnes Daab, ikke nævnes i deres Samfund, det har Du forlangt, det skal jeg bevare Dig, derom ere vi enige paa denne Jord, men ovenover denne er – er Enigheden større i Gud, ‚han ledsager os over Døden‘ – ‚han besøger Jorden, og naar han har gjort den tørstig, gjør han den meget rig!‘ jeg forstaaer det! selv veed jeg ikke, hvorlunde det kom –! det er ved ham, i ham: Christus!“ (AndersenAndersen, Hans Christian 2007a: 126)

„Mutter, dein Kind soll nicht die Taufe der Christen erhalten, nicht zu ihrer Gemeinschaft zählen, das hast du verlangt, das verspreche ich dir, darüber sind wir uns einig auf dieser Welt, aber über diese hinaus ist – ist die Einigkeit in Gott größer, ‚er führt uns aus dem Tod‘ – ‚er besucht die Erde, und wenn er sie sehr dürstend gemacht hat, macht er sie sehr reich!‘ Ich verstehe das! Ich selbst weiß nicht, wie es kommt –! Es ist durch ihn, in ihm: Christus!“

Als sie den heiligen Namen ausspricht, durchfährt sie – wie die Jünger zu Pfingsten (Apg 2, 1–4) – „en Daab af Ildslue [eine Taufe durch eine Feuerflamme]“ (AndersenAndersen, Hans Christian 2007a: 126). Geschwächt von ihrer emotionalen Zerrissenheit bricht sie zusammen und wird ins Armenhaus gebracht, wo sie kurz darauf stirbt. Erlösung findet Sara – anders als Benjamine – nicht im Leben, sondern nur im Tod. Aber auch sie sitzt, wie Benjamine, am Bett einer kranken Person und liest aus dem Neuen Testament vor. Auch sie wird durch das gelesene Wort Gottes erfüllt vom Heiligen Geist. Doch bietet der Text durch das Gelübde, das sie nicht brechen kann, als Ausweg nur den Tod. Beigesetzt wird sie außerhalb der Friedhofsmauer, da sie als Jüdin nicht auf einem christlichen Friedhof ruhen darf. Sogar im Tod ist sie aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Als einziger Trost bleibt ihr nur dies:

Og Guds Sol, der skinnede hen over de Christnes Grave, skinnede ogsaa hen over Jødepigens Grav derudenfor, og Psalmesangen, der lød paa de Christnes Kirkegaard, klang ud over hendes Grav; ogsaa ud til den naaede Forkyndelsen: „Der er Opstandelse i Christo!“ ham, Herren, som sagde til Disciplene: „Johannes døbte vel med Vand, men I skulle døbes med den Hellig-Aand!“ (AndersenAndersen, Hans Christian 2007a: 126)

Und Gottes Sonne, die über die Gräber der Christen hinwegschien, schien auch über das Grab des Judenmädchens draußen, und die Psalmen, die über den Friedhof der Christen schallten, klangen auch über ihr Grab hinweg; auch zu ihm gelangte die Verkündigung: „Die Auferstehung ist in Christus!“ er, der Herr, der zu den Jüngern sprach: „Johannes taufte mit Wasser, doch Ihr sollt getauft werden mit dem Heiligen Geist!“

Mit seinem tragischen Ende steht das Märchen zwischen den Werken AndersensAndersen, Hans Christian nicht alleine da. Im Roman Kun en Spillemand, der 20 Jahre zuvor erschien, findet sich bereits das Motiv des jüdischen Grabes außerhalb der Friedhofsmauern, das am Ende des Romans noch einmal aufgenommen wird (vgl. Kapitel 7.8.3).2 Auch in seinem Roman At være eller ikke være, der zur selben Zeit wie Jødepigen entstand, wird am Ende eine junge Jüdin sterben, darauf beharrend, „dass es eine ausgleichende Gerechtigkeit nach dem Tod gebe“ (Wennerscheid 2013: 71; vgl. auch Kapitel 8.2).

Das Märchen Jødepigen hat in der Wissenschaft bisher kaum Beachtung gefunden. Das ist umso erstaunlicher, als AndersenAndersen, Hans Christian dieses Märchen selbst als eine seiner gelungensten Erzählungen beurteilt hat (vgl. Kirmmse 1991–1992: 62). Eine Ausnahme stellt der Historiker Bruce A. Kirmmse mit seinem Aufsatz Hans Christian og Jødepigen. En historisk undersøgelse af noget „underligt“ [Hans Christian und das Judenmädchen. Eine historische Untersuchung von etwas „Sonderbarem“] dar. Kirmmse fragt darin, warum Andersen trotz der „nedladende tolerance [herablassenden Toleranz]“ (1991–1992: 59), die in seinem Märchen zum Ausdruck kommt, in der dänisch-jüdischen Gemeinde so viele Freunde und Fürsprecher hatte. Die Funktion des jüdischen Mädchens in der Erzählung fasst er dabei ebenso knapp wie treffend zusammen:

I den lille historie er jøden i alt væsentlig en tabula rasa, en ubeskreven side af „anderledeshed“, som bliver udfyldt og beskrevet af det herskende og omgivende samfunds fordomsfulle fantasi. Holdningen til jøder er således en slags projektionsteater, hvori samfundets frygt og forhåbninger om sig selv bliver afbildet. (Kirmmse 1991–1992: 60)

In der kleinen Geschichte ist der Jude*die Jüdin3 im Wesentlichen eine tabula rasa, eine unbeschriebene Seite der „Andersheit“, die ausgefüllt und beschrieben wird von der vorurteilsvollen Fantasie der herrschenden und umgebenden Gesellschaft. Die Haltung gegenüber Juden ist somit eine Art Projektionstheater, in dem die Ängste und die Hoffnungen der Gesellschaft abgebildet werden.

Kirmmses Befund gilt bei Weitem nicht nur für diese Erzählung, und eine der Fragen, die ich in meiner Arbeit untersuche, ist, womit und wie diese unbeschriebene Seite des Andersseins beschrieben wird. Bei der Lektüre von AndersensAndersen, Hans Christian Jødepigen stellt sich jedoch außerdem die Frage, was genau eigentlich das genuin Märchenhafte dieser Erzählung ist, denn der kleine Text wird in aller Regel als Märchen rezipiert.4 Was macht das Märchen zum Märchen oder auf Dänisch: das Eventyr zum Eventyr?5 Ist es möglicherweise allein die jüdische Figur, die mit ihren Assoziationsräumen wundersam genug erscheint, um das Genre zu rechtfertigen? Um diese Frage beantworten zu können, lohnt der Blick zurück zu Den gamle Rabbin. Denn bereits in dieser Novelle sind märchenhafte Züge angelegt, die hier skizzenhaft und in aller Kürze dargestellt werden sollen und die zum Teil auch in Andersens Jødepigen Eingang finden. Einige Beispiele aus verschiedenen Märchen sollen zur Klärung beitragen.

2.6 Märchenhafte Novelle

Die Märchenbeispiele, die im Folgenden herangezogen werden, stammen sowohl aus der Sammlung von Kinder- und Hausmärchen der Brüder GrimmGrimm, Jacob und Wilhelm (2010) als auch aus anderen Märchensammlungen, die über Landes- und Sprachgrenzen hinweg bekannt waren und rezipiert wurden. Sie sind teilweise als Volksmärchen ausgewiesen, teilweise als Kunstmärchen. Aus der Sammlungsgeschichte der Grimm’schen Märchen geht hervor, dass die Trennung zwischen Volks- und Kunstmärchen weniger eindeutig ist, als ihre Einteilung suggeriert. So haben die Grimms nicht nur mündliche Überlieferungen, sondern auch schriftlich überlieferte Texte in ihre Sammlung aufgenommen und ihrerseits wiederum literarisch in die Märchen ihrer Sammlung eingegriffen. Andererseits enthielt die 5. Auflage von 1843 eine mündliche Überlieferung des AndersenAndersen, Hans Christian-Märchens Prinsessen på ærten [Die Prinzessin auf der Erbse; 1835] (1990a), hier unter dem Namen Die Erbsenprobe. Als die eindeutige Autorschaft Andersens bekannt wurde, wurde das Märchen in der nächsten Auflage aus der Sammlung entfernt. Entscheidend war jedoch nicht die Struktur des Märchens, sondern die eindeutige Autorschaft, die dem Ansinnen der Grimms, eine Sammlung von Volksmärchen herauszugeben, widersprach (vgl. Rölleke 2004: 94–102). Dieses Beispiel veranschaulicht exemplarisch die Zirkulation der im 19.Jahrhundert extrem populären Märchen und Märchenmotive zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit und über Landes- und Sprachgrenzen hinweg, so dass im Folgenden zum großen Teil auf deutschsprachige Märchen Bezug genommen wird. Aufgrund der uneindeutigen Grenzziehung zwischen den Gattungen, soll für diese skizzenhafte Zusammenstellung auf eine strenge Differenzierung zwischen Kunst- und Volksmärchen verzichtet werden.

IngemannsIngemann, Bernhard Severin Benjamine ist – wie AndersensAndersen, Hans Christian Sara – ein stilles frommes Mädchen, duldsam, fleißig, aufopfernd. Sie ist Waise und hat als einzigen geliebten Menschen ihren Großvater, der ihr jedoch weder Schutz noch Geborgenheit geben kann, um den sie sich im Gegenteil ganz allein kümmert und sorgt. Das fromme Mädchen, oft als Waise oder Halbwaise ganz auf sich allein und die Gnade Gottes gestellt, ist ein bekannter Märchentopos. Das arme von aller Welt verlassene Waisenmädchen im GrimmGrimm, Jacob und Wilhelm’schen Märchen Die Sterntaler erfährt diese Gnade Gottes in Form eines Goldregens, nachdem es buchstäblich sein letztes Hemd weggegeben hat. Auch Aschenputtel ist fromm und fleißig, ebenso wie Schneeweißchen und Rosenrot und wie Goldmarie, die ihren goldenen Lohn für ihre Tugendhaftigkeit von Frau Holle erhält. Viele dieser fleißig-frommen Märchenmädchen haben in einer anderen Frauenfigur ihre Kontrahentin: der bösen Stiefmutter.1 Benjamines angeheiratete Tante, die Frau ihres Onkels Isaak, lässt sich, wenn man der Spur der Märchen folgt, als Figur der bösen Stiefmutter lesen. Philip Moses zeigt Mitleid mit Benjamine, als er sagt: „Det er haardt nok, du er fader- og moderløs og dine christne Mosteres Tjenerinde [Es ist schwer genug, dass du ohne Vater und Mutter bist und die Dienerin Deiner christlichen Tante]“ (Ingemann 2007: 106). In ihrem Haus muss Benjamine von früh bis spät arbeiten, lebt in kargen Verhältnissen, bleibt dabei stets still, freundlich und bescheiden und ist der Hausherrin, „som vel ofte før havde givet hende haarde Irettesættelser [die sie wohl schon oft zuvor hart zurechtgewiesen hat]“ (Ingemann 2007: 109) doch lästig. Dieses Muster ist ebenfalls ein Motiv in verschiedenen Märchen wie Aschenputtel und Frau Holle.

Auch das Grab eines geliebten Menschen als magischer Ort ist ein Märchenmotiv. Aschenputtel erhält am Grab ihrer Mutter drei Gewänder, in die sie sich kleidet, um schließlich die Frau eines Prinzen werden zu können. Für Benjamine erfüllt sich am Grab ihres Großvaters dessen Prophezeiung und sie begegnet ihrem Retter, der mit einem beinahe überirdisch leuchtenden Kreuz auf sie zutritt. Nach Ablauf eines Jahres steht das jungvermählte Paar am Grab des alten Rabbiners, während unter ihren Füßen das Wunder seiner Auferstehung geschieht.

Sogar ein (volks-)märchentypischer Dreischritt lässt sich in der Novelle finden, wenn man die Ein- und Ausschlussmechanismen betrachtet, denen Benjamine und ihr Großvater ausgesetzt sind: Zuerst halten sie sich im Haus des reichen und materialistischen Samuel auf, suchen dann im Haus des assimilierten Isaak Unterkunft, um schließlich im Hause Veits und seines Vaters den Heiligen Geist zu erkennen und selbst erkannt (= gemalt) und somit erlöst zu werden.

Im Gegensatz zum populären Topos des Märchenprinzen, der aktiv in das Geschehen eingreift, womöglich auf einem Schimmel daher geritten kommt, um das arme Mädchen aus seinem Elend zu befreien und durch die Hochzeit in den Adelsstand zu erheben, verhalten sich die Prinzen in etlichen Märchen bei genauerer Lektüre verblüffend passiv. Aschenputtels Prinz erkennt seine Geliebte nur an ihren kleinen Füßen und bittet zunächst zwei falsche Bräute auf sein Schloss. Die Prinzessin auf der Erbse muss eine grausame Nacht auf einer harten Hülsenfrucht verbringen, bevor der Prinz sie als würdig erkennt, ihn zu heiraten. Schneewittchen wird eher zufällig erlöst, weil ein Diener des Prinzen mit dem schweren Sarg auf den Schultern stolpert und der scheintoten Prinzessin dadurch das vergiftete Apfelstück aus dem Hals rutscht. Der junge König in Brüderchen und Schwesterchen lässt sich durch einen Zauber täuschen und legt sich zur Tochter der bösen Stiefmutter ins Bett. Einen ähnlichen Trick durchschaut auch der Prinz in AndersensAndersen, Hans Christian Märchen Den Lille Havfrue [Die kleine Meerfrau; 1837] (1990b) nicht und nimmt daraufhin die falsche Prinzessin zur Frau. Mitunter muss der Prinz selbst von der Prinzessin erlöst werden, wie es Rapunzel tut, als sie ihrem Prinzen Tränen in seine blinden Augen fallen lässt und ihn wieder sehend macht. Die spätere Frau des Froschkönigs wirft die zudringliche Amphibie sogar beherzt an die Wand und erlöst dadurch den Prinzen von seinem Fluch. Selbst Dornröschens Retter denkt mehr an seinen eigenen Vorteil – nämlich die Ehe mit einer schönen Königstochter – als an die gute Tat, als er sich durchs Dornengestrüpp arbeitet und die Schlafende wachküsst, was ihm auch nur deshalb gelingt, weil der Zauber just zu dieser Stunde aufgehoben ist. Die Figur des Retters in Form eines Prinzen ist also nur scheinbar ein ungebrochener Märchentopos. Dennoch ist das Glück – und Unglück – der jungen Frauen in allen diesen Beispielen an einen adligen Mann und potenziellen Ehegatten gebunden. Der junge Künstler Veit stellt die Idealfigur dieses Retters dar, indem er Benjamines Innerstes erkennt und ihr (und somit implizit auch ihrem Großvater) dadurch Erlösung im allumfassenden Sinne bringt. Benjamines Glück ist – wie das Glück der Frauenfiguren im Märchen – an die Figur eines heilbringenden Mannes gebunden. Er unterscheidet sich aber nicht durch den Adelsstand von den anderen Figuren, sondern durch seine göttliche Begabung. Die Figur der Sara in Andersens Märchen Jødepigen hingegen hat keinen irdischen Retter, und so ist ihr auch kein irdisches Glück beschieden.2 Es lohnt die Überlegung, ob es nicht gerade der Religionsunterschied zwischen Jüdin und Christ ist, der die Darstellung einer solch ungebrochenen und idealisierten Erlöserfigur, wie Veit sie darstellt, überhaupt erst ermöglicht. Denn die ideale männliche Erlöserfigur ist in IngemannsIngemann, Bernhard Severin Novelle nur im Zusammenspiel mit der Jüdin Benjamine erzählbar. Erst durch den Christen Veit findet Benjamine zu ihrem Glück. Erst durch die Jüdin Benjamine kann Veit als Erlöserfigur erzählt werden. Die Figur des alten Juden Philip Moses dient hierbei der weiteren Idealisierung des jungen Christen, denn je widriger die Bedingungen für Veit sind, unter denen er dem Rabbiner seinen Respekt entgegenbringt, desto edler und idealisierter lässt ihn dies erscheinen. Der edle Retter ist kein schlaffer Prinz, wie ihn die Märchen anzubieten haben, sondern ein Künstler, der gottbegnadet in der Lage ist, zum Erlöser Benjamines, zum Erlöser der Juden und zum Erlöser einer säkularisierten christlichen Gesellschaft zu werden. Durch seine Fähigkeit zum Erkennen und zum Erschaffen ist er in der Lage, Religion mit neuem, tiefen Sinn zu füllen und somit in die Nachfolge Christi zu treten.

Wenn man nun also den Blick erneut auf AndersensAndersen, Hans Christian Märchen Jødepigen richtet, wird plausibel, warum diese Erzählung als Märchen veröffentlicht werden konnte. Offenbar lassen sich märchenhafte Strukturen auf jüdische Figuren übertragen oder anders gesagt: Die jüdischen Figuren eröffnen Assoziationsräume zu märchenhaften Topoi. Diese wiederum sind, wie ich in den folgenden beiden Kapiteln 2.7 und 2.8 anhand des Ahasverusmotivs zeigen werde, anschlussfähig an das (volks)religiöse Genre der Legende (vgl. Rosenfeld 1982: 5–17). In beiden Textsorten, dem Märchen und der Legende, geschehen Wunder, und „[d]urch Wunder kommt es zur Begegnung zwischen dem Göttlichen und der Welt der Menschen“ (Burdorf/Fasbender/Moennighoff/Schweikle, G./Schweikle, I. 2007: 424). Das Märchen Jødepigen3 ist aufgrund der wundersamen Bekehrung der Jüdin zum Christentum märchenhaft genug, um keine weiteren märchenhaften oder phantastischen Elemente hinzufügen zu müssen. Zum Topos der ‚schönen Jüdin‘ gehört diese innere Zuwendung zum Christentum, die entweder im Scheitern der Figur, oftmals sogar in ihrem Tod endet oder in die Konversion samt Ehe mündet.4 Die religiöse Erleuchtung ist also Teil des Topos, die märchenhafte Begegnung mit dem Heiligen Geist ist in der Figur der ‚schönen Jüdin‘ angelegt, die ‚schöne Jüdin‘ ist somit selbst ein Märchen.

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