Читать книгу: «Philosemitische Schwärmereien. Jüdische Figuren in der dänischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts», страница 7

Шрифт:

2.4 Der Künstler als Heiland
2.4.1 Erkennen

Als sich Philip Moses augenscheinlich von seiner Krankheit erholt hat, möchte er das Haus der Christen verlassen und zurück in die jüdische Gemeinde kehren. Doch Benjamine ist nun gefangen zwischen der Loyalität zum alten Glauben/dem alten Mann und der Liebe zum neuen Glauben/dem jungen Mann. Wann immer Benjamine selbst spricht, das heißt ihr Sprechen im Text als Figurenrede markiert ist, sind es fast ausschließlich Worte, mit denen sie ihren Großvater schützt und verteidigt. So hat sie auch in diesem, ihrem eigenen, inneren Konflikt zunächst weder eine Stimme noch Handlungsmacht. Bei ihrer bevorstehenden Trennung ist es Veit, der erkennt und an ihrer Stelle ausspricht, dass sie ihn liebt:

[D]a saae de unge Mennesker smertelig paa hinanden, og Taarerne styrtede dem begge af Øiene.

„Ja, Benjamine! nu seer jeg det – du elsker mig, som jeg længe har elsket dig“ – sagde den unge Veit plutselig og greb hendes Haand, og førend Benjamine kunde besinde sig, laae de begge for de Gamles Fødder og bade om deres Velsignelse. (IngemannIngemann, Bernhard Severin 2007: 118)

Da sahen die jungen Menschen einander schmerzvoll an, und Tränen stürzten ihnen beiden aus den Augen.

„Ja, Benjamine! Nun erkenne ich es – du liebst mich, wie ich dich lange schon geliebt habe“ – sagte der junge Veit plötzlich und griff ihre Hand, und ehe Benjamine sich besinnen konnte, lagen sie beide zu Füßen der Alten und baten um ihren Segen.

Um mögliche Einwände des Rabbiners oder seines Vaters gleich zu entkräften fügt Veit hinzu: „Benjamine er Christen i Hjertet [Benjamine ist Christin im Herzen]“ (IngemannIngemann, Bernhard Severin 2007: 118). Diese beiden entscheidenden Bekenntnisse kann Benjamine nicht selbst aussprechen, sie bedarf auch im Ausdruck ihrer intimsten Gefühle und Gedanken der Worte des jungen Christen. Erst in dem Moment, als sie sich zwischen Veit und Großvater, Christ und Jude, Herkunft und Zukunft entscheiden muss, spricht sie schließlich selbst und offenbart dem Großvater, indem sie seine Knie umfasst, „det var Christi Ord, jeg læste for dig [es waren Christi Worte, die ich für dich gelesen habe]“ (Ingemann 2007: 118). Doch ist dies kein Glaubensbekenntnis, sondern vielmehr ein Schuldgeständnis. Auf die tiefe Erschütterung des Alten kann Benjamine nur reagieren, indem sie ihm Gehorsam verspricht und ihm zurück in die jüdische Gemeinde folgt, wo für sie nur noch der Tod vorstellbar ist: „[T]ag mig med dig og lad mig døe i dine Arme! men fordøm mig ikke i min Dødsstund! hvad der er skeet i min Sjæl var den Høiestes Villie [Nimm mich mit und lass mich in deinen Armen sterben! aber verfluche mich nicht in meiner Todesstunde! Was in meiner Seele geschehen ist, war der Wille des Höchsten]“ (Ingemann 2007: 119). Und doch gibt es für Benjamine kein Zurück zum Judentum, denn sie ist bereits übergetreten, in die Sphäre des christlichen Mannes.

Veit stellt eine Ausnahme unter den Hamburger Christen dar. Als Maler ist er kürzlich aus der deutschen Künstlerkolonie in Rom zurückgekehrt. Die Stadt Rom ist vielfältig symbolisch aufgeladen: als religiöser und kultureller Gegenpol zur Stadt Jerusalem, als Sehnsuchtsort dänischer und deutscher Literaten und Künstler im späten 18. und frühen 19.Jahrhundert und darüber hinaus auch ganz konkret als Ort, an dem die sogenannten Nazarener wirkten und arbeiteten. Diese Künstlergruppe orientierte sich stilistisch an der Malerei der italienischen Renaissance und stellte vor allem religiöse Motive in den Mittelpunkt ihres Kunstschaffens. Äußerlich ähnelt Veit selbst einem Renaissancegemälde, denn er ist gekleidet „i gammeltydsk Dragt og med lange gule Lokker om den hvide Krave [in altdeutscher Tracht und mit langen goldenen Locken über dem weißen Kragen]“, wie es in Rom „almindelig blandt Konstnerne [üblich unter den Künstlern“] ist (IngemannIngemann, Bernhard Severin 2007: 112). Veit, dessen Berufung das Malen ist, ist derjenige, der sehen und das Gesehene in ein Kunstwerk umsetzen kann. Diese Fähigkeit zu sehen zeigt sich bereits, als er als einziger der Hausgäste im Hause Isaaks den alten Juden in seiner Ecke wahrnimmt und sich ihm gegenüber angemessen respektvoll zeigt. Es drückt sich aus, indem er Benjamines Gefühlsregungen erkennt und körpersemiotisch liest, ohne dass sie sie formulieren muss (oder darf oder kann). Am deutlichsten zeigt es sich aber, als Benjamine am Krankenbett ihres Großvaters sitzt und Veit sie und ihren Großvater malt:

Tidt, naar Benjamine havde læst den Gamle til Ro og sad stille med den hellige Bog i sin Haand ved hans Leie, medens han slumrede, og det herlige Oldingsaasyn smilede beroliget til hende i Drømme – sad Veit med sin Pensel ligefor dem og afbildede dem begge. For Benjamines Sjæl gik et underfuldt Lys op ved hvad hun læste for den Gamle og hvad hun talede med den fromme Maler om den hellige Bog, som indeholdt Kilderne baade til hendes og til hans forskjellige Troesbekjendelse. (IngemannIngemann, Bernhard Severin 2007: 116)

Oft, wenn Benjamine den Alten durch ihr Lesen zur Ruhe gebracht hatte und still mit dem heiligen Buch in der Hand an seinem Lager saß, während er schlummerte und das herrliche Greisengesicht ihr im Traum beruhigt zulächelte – saß Veit mit seinem Pinsel gleich vor ihnen und bildete sie beide ab. Vor Benjamines Seele ging ein wundervolles Licht auf durch das, was sie dem Alten vorlas und was sie mit dem frommen Maler über das heilige Buch sprach, das die Quellen ihrer beider unterschiedlicher Glaubensbekenntnisse enthielt.

Die Quellen ihres eigenen Glaubensbekenntnisses liegen gedruckt auf vielen Seiten in ihrer Hand und stellen seine Grundlage dar. Jedoch liest sie aus dem Neuen Testament vor. Die Worte durchdringen ihre Seele, und dies ist just der Moment, in dem Veit das Porträt von ihr anfertigt. Diese Szene ist der Schlüsselmoment, in dem Sehen und Gesehenwerden, Erkennen und Erkanntwerden kulminieren. Der an sich unfassbare und unkörperliche Moment der religiösen Erleuchtung wird durch den Künstler auf Leinwand festgehalten, sichtbar gemacht, in Materie gefasst. So wiederum lässt sich die Szene literarisch fassen und erzählen, indem erzählt wird, was der Maler sieht. Doppelt festgehalten, in Öl auf Leinwand und in Druckerschwärze auf Papier, gefasst in den Holzrahmen der Leinwand und in den Einband der Novelle, gelingt es dem Künstler – dem Maler Veit ebenso wie dem Autor IngemannIngemann, Bernhard Severin –, den Moment göttlicher Erweckung festzuhalten und nachvollziehbar zu machen. Gemeinsam mit Veit und dem Erzähler betrachtet der Leser Benjamines Erweckung. Benjamine selbst wiederum zeigt kein Bewusstsein gegenüber diesem Gesehenwerden, reagiert nicht aufs Gemaltwerden. Sie ist ganz erfüllt von Gottes Wort und dem Heiligen Geist, der sie in diesem Moment durchdringt. Es ist eine intime Situation, die bei aller räumlichen Distanz, die zwischen dem Malenden und der Gemalten besteht, auch erotisch konnotiert ist. Benjamine gibt sich Veits Blick hin, sie empfängt, was Veit ihr anbietet: erst die Zeichenstunden, nun den geschützten Raum und die christliche Bibel – und gibt sich vertrauensvoll in seine Hände. So treibt Veit ihre Entwicklung voran und kann sie dabei in Ruhe betrachten und seinen Blick in Benjamines Seele für immer auf Leinwand festhalten.

Gänzlich außerhalb dieses Moments des Sehens und Erkennens, den Veit auf seinem Porträt archiviert, befindet sich der alte Rabbiner, der im Fieberschlaf weder die entflammende Liebe zwischen Veit und Benjamine wahrnehmen noch die Worte, die Benjamine ihm aus dem Neuen Testament vorliest, verstehen kann. Auch ihn porträtiert Veit, und auch Philip Moses ist sich des Porträtiertwerdens nicht bewusst, doch liegt das nicht am Zustand der seelischen Entrückung, sondern am Fieberschlaf, in dem sich bereits sein naher Tod ankündigt. Veit jedoch ist in der Lage, auch Philip Moses in die Seele zu blicken. Denn dies ist, so legt es der Text nahe, die vornehmste Fähigkeit des Künstlers: das wahre Wesen der Welt zu erkennen und darzustellen. Veit sieht, dass die Worte des Evangeliums auch auf den schlafenden Juden beruhigende Wirkung haben, sieht, wie sie aus dem verzweifelten Hiob einen aufgerichteten Simeon1 machen. Er erkennt damit mehr, als es Philip Moses selbst in diesem Moment vermag, und so nimmt der Pinsel des Künstlers den Ausgang der Novelle und die Hinwendung des Juden zum Christentum prophetisch vorweg. Die jüdischen Figuren dienen als poetischer Nährboden für die literarische Darstellung des Künstlers und die literarische Reflexion über Kunst. Die Novelle schreibt sich damit deutlich in den kunstreligiösen Diskurs der deutschen Romantik ein, den Hartwich folgendermaßen beschreibt:

Die romantische Weltanschauung baut einen polemischen Gegensatz zwischen dem göttlich begabten Künstler und den das Weltliche vergötzenden Philistern und Juden auf. Die kunstreligiöse Frontstellung wird aber immer wieder in Bildern der hebräischen Bibel exponiert und verrät so ihre religionsgeschichtliche Herkunft aus der ‚Mosaischen Unterscheidung‘. (Hartwich 2005: 23)2

Im Verständnis der Romantik ist Veit als Künstler mit göttlichem Genie begabt. Benjamines und Philip Moses’ Weg ins Christentum ist an die Figur des Künstlers Veit gekoppelt. Doch auch umgekehrt sind Veits religiöser Weg und seine literarische Darstellung von den beiden jüdischen Figuren bestimmt. Veits Genie drückt sich in seiner Gabe zu sehen und zu schaffen aus, und für die literarische Darstellung dieses Genies bedarf es in dieser Novelle der beiden jüdischen Figuren. Veit sieht (= erkennt) Benjamine und Philip Moses und er erschafft Bildnisse von beiden, verdoppelt und bestärkt ihr Dasein in der Welt und wird auf diese Weise ihr Schöpfer.

2.4.2 Erschaffen

Der Literaturwissenschaftler Hans Mayer hat in seiner bahnbrechenden Untersuchung Außenseiter die Gemeinsamkeiten der gesellschaftlichen Außenseiter, zu denen Juden ebenso wie Frauen gehören, herausgestellt. Mayer zufolge sind Juden und Frauen (und als dritte Gruppe [männliche!] Homosexuelle) gleichermaßen „existenzielle[…] Außenseiter“, die „immer wieder insgeheim miteinander verbunden werden“ (Mayer 1981: 21; vgl. auch Braun 1992; Schnurbein 2006; Schößler 2009). Der Erzähler der Novelle Den gamle Rabbin nimmt einen dezidiert christlichen (und männlichen) Standpunkt ein und richtet den Blick von außen auf „die Juden“. Dabei kontrastiert er das romantisch-religiöse Idealbild „des Juden“ mit verschiedenen anderen jüdischen Lebensentwürfen, in denen die jüdischen Figuren den Weg der Säkularisierung gehen und sich von der althebräischen Mythologie entfernt haben. Der Text entwirft mit Philip Moses ein Bild vom perfekten (oder wünschenswerten) Juden, ebenso wie mit Benjamine ein Bild von der perfekten (oder wünschenswerten) Frau. Diese ist zwar aufgrund ihres Geschlechts und ihres Judentums gleich doppelt als Außenseiterin markiert, jedoch wird sie im Moment ihres innerlichen Glaubensübertritts porträtiert, das heißt, dass sie ihr Jüdischsein im Moment des Gemaltwerdens überwindet. Die literarischen Bilder werden durch die Gemälde Veits verdoppelt, und die Novelle verweist so auf ihren eigenen Verfasser, der als Autor ebenfalls ein Künstler ist. Er entwirft das Bild eines ‚edlen Juden‘, einer ‚schönen Jüdin‘ und eines christlichen Künstlers, der wiederum das Bild dieses ‚edlen Juden‘ und dieser ‚schönen Jüdin‘ malt. Wie der Maler Gemälde herstellt, produziert auch der Text, beziehungsweise dessen Autor, literarische Bilder. Die Bilder des Malers bilden das Innerste der beiden jüdischen Figuren ab und stellen diese Bilder im Text zur selben Zeit erst her. Die fiktive Leinwand wird zur Projektionsfläche des Malers und zugleich des Autors.

Als Veit nach der vorläufigen Trennung von Benjamine nach Rom abzureisen plant, legt er seinem Gepäck die beiden Porträts bei:

To uforglemmelige Billeder vare fremtraadte i hans liv, som hans Skjæbnes underfulde dobbelte Herolder; de vare de kjæreste og kostbarste Klenoder, han havde pakket ind for at medtage, og de vare den skjønne Benjamines og den gamle Philip Moses’s Portraiter. (IngemannIngemann, Bernhard Severin 2007: 121)

Zwei unvergessliche Bilder waren in sein Leben getreten, als die wunderbaren doppelten Herolde seines Schicksals; sie waren die liebsten und kostbarsten Kleinode, die er zum Mitnehmen eingepackt hatte, und dies waren die Porträts der schönen Benjamine und des alten Philip Moses.

Obwohl die Bilder also „unvergesslich“ sind, sind sie doch erst durch den Akt des Malens entstanden und unvergesslich geworden. In ihnen ist die Vergangenheit als Grundlage des eigenen, christlichen Glaubens archiviert: das Judentum in Gestalt des Philip Moses, dessen Glaubenskonzept als längst vergangen und überholt markiert wird. In Benjamines Porträt ist jedoch der Moment archiviert, in dem sie selbst ihre eigene religiöse Vergangenheit hinter sich lässt und sich innerlich dem Neuen zuwendet. Diese Bilder sind zugleich Projektionen des Künstlers, die zeigen, wie er Benjamine und Philip Moses sieht und deren Jüdischsein interpretiert. In der Thematisierung des Kunstschaffensprozesses selbst reflektiert der Text den Herstellungsprozess derjenigen Bilder und Projektionen, die er selbst verwendet und (re-) produziert.

Der Künstler nimmt also nicht allein die Gemälde mit in sein Reisegepäck, sondern gewissermaßen einen Teil der Abgebildeten selbst. Der Kunstkritiker, Schriftsteller und Maler John Berger, der 1972 das englische Fernsehpublikum mit seiner BBC-Reihe Ways of Seeing das Sehen lehrte, schreibt in seinem kurz darauf erschienenen gleichnamigen Essay-Band Ways of Seeing [1972], der als Sehen. Das Bild der Welt in der Bilderwelt 1974 ins Deutsch übersetzt wurde, über die Ölmalerei zwischen 1500 und 1900:

Auf Gemälden werden häufig Gegenstände dargestellt, die man erwerben kann. Hat man einen Gegenstand gemalt und auf eine Leinwand gebracht, ist das nicht anders, als habe man ihn gekauft und mit nach Haus genommen. Kauft man nämlich ein Gemälde, kauft man auch das Aussehen des Gegenstands, den es abbildet. (Berger 2016: 78)

Nun sind Benjamine und Philip Moses keine Gegenstände, die Veit besitzen könnte, er muss sie auch nicht kaufen, sondern hat die Gemälde für sich selbst gemalt. Nichtsdestotrotz befinden sie sich in seinen Besitz. Berger hat radikal aufgezeigt, wie Frauen in der bildenden Kunst traditionell die Funktion eines Objekts zukommt, das durch die Darstellung auf dem Gemälde zum Besitz des Künstlers oder Kunstsammlers wird:

Auf der einen Seite der Individualismus eines Künstlers, Philosophen, Gönners und Kunstbesitzers, auf der anderen das wie eine Sache oder eine Abstraktion behandelte Objekt ihrer Aktivitäten – die Frau. (Berger 2016: 59)

Zwar bezieht sich Berger mit diesem Befund vornehmlich auf die Aktmalerei. Dennoch befinden sich die beiden Gemälde als „Kleinode“, also als Schmuckstücke, als schmückende Objekte, in Veits Besitz. Veit eignet sich durch das Malen und das Besitzen der beiden Porträts nicht nur Benjamine, sondern auch Philip Moses an. Zeigt die Tatsache, dass er nicht nur die von ihm geliebte Benjamine porträtiert hat, sondern auch Philip Moses, auf der einen Seite den Respekt und die Achtung an, die Veit dem alten Juden entgegenbringt, so macht dessen Porträt in Veits Besitz auch deutlich, dass nicht nur Benjamine als Frau und ‚schöne Jüdin‘ Objektcharakter hat, sondern auch Philip Moses als Jude. Dagegen mag sich einwenden lassen, dass das Bild eines geliebten Menschen mehr darstellt als ein Objekt, das einfach nur besessen wird. Es ist vielmehr ein kostbares Erinnerungsstück, ein Trost für das sich sehnende Herz. Trotzdem ist der Blick auf das Machtverhältnis zwischen Sehendem (christlicher Mann/Künstler) und Gesehenen (Frau/Jüdin und Jude), zwischen Aktivität und Passivität, zwischen dem Schaffendem und den beiden Abgebildeten aus dieser Perspektive fruchtbar. Denn mit ihrer Hilfe lässt sich aufzeigen, dass die Blickrichtung, mit der der Text auf die Frau sieht, derjenigen ähnlich ist, mit der er auf den Juden sieht, nämlich durch die Augen des christlichen Mannes, der sich sowohl von der Frau und Jüdin als auch vom Juden ein Bild macht und dieses Bild über seine Kunst weiterverbreitet. Als christlicher Mann hat Veit die Deutungsmacht sowohl über die Frau als auch über den Juden. Als Jüdin und Frau, also als zweifache Außenseiterin im Sinne Mayers (vgl. 1981: 33–41), bietet Benjamine eine doppelte Projektionsfläche für Zuschreibungen durch den christlichen Mann. Als gottbegnadeter Künstler stellt aber auch Veit einen Außenseiter der Gesellschaft dar, der sich durch seine äußere Erscheinung ebenso wie durch sein inneres Wesen von der Mehrheitsgesellschaft unterscheidet. So vermag er als Einziger die Liebe der schönen Benjamine zu gewinnen und schließlich sogar den strengen Philipp Moses für sich einzunehmen und beide als ihr Retter auf eine höhere Glaubensstufe zu führen.

Anders als beispielsweise in der Zauberflöte (1791) von Wolfgang Amadeus MozartMozart, Wolfgang Amadeus (und Emanuel Schikaneder, der das Libretto zur Oper schrieb), um das vielleicht prominenteste Beispiel zu wählen, oder in LessingsLessing, Gotthold Ephraim (2001) bürgerlichem Trauerspiel Emilia Galotti (1772), um ein Beispiel mit fatalen Folgen für die Porträtierte zu nennen,1 verliebt sich hier der junge Mann nicht in das bereits vorhandene Porträt einer schönen Frau, sondern fertigt das Bildnis im Handlungsverlauf selber erst an. Es wird auch folgerichtig gar nicht beschrieben, da Erscheinung und Aussehen Benjamines bereits zuvor aus der Perspektive des Künstlers (Malers/Autors) geschildert werden. Gleichzeitig ermöglicht das Auge des fiktiven Malers zu beschreiben, was nur ein Künstler zu sehen und zu begreifen in der Lage ist – nämlich den Moment, in dem Benjamine vom Heiligen Geist ergriffen wird und auch Philip Moses ihn in seiner Seele schon spürt, obwohl sein Verstand ihn noch nicht begriffen hat.

Einmal mehr lässt sich feststellen, dass es sich bei den Figuren der Benjamine und des Philip Moses um (literarische) Bilder handelt, um Vorstellungen davon, wie Juden und Jüdinnen seien oder im Idealfall zu sein haben. IngemannsIngemann, Bernhard Severin Text nimmt die Möglichkeiten der Literatur (noch) nicht wahr, die Bilder, die der Text aufruft, zu modifizieren und zu unterwandern und lässt seine Hauptfiguren ungebrochen ihren glücklichen Weg ins Christentum und die Ehe gehen. Während die ‚schöne Seele‘ Emilia Galotti keine Möglichkeit hat, ihrem traurigem Schicksal zu entkommen, stellt für Benjamine die Konversion den Weg zur Errettung dar. Zwingende Voraussetzung für diese glückliche Wendung ist jedoch ihr Jüdischsein, das sie überwinden muss.

In Kapitel 3 werde ich aufzeigen, wie eine andere, nur ein Jahr später veröffentliche Novelle, BlichersBlicher, Steen Steensen Jøderne paa Hald, ihre literarischen Möglichkeiten einsetzt, die Bilder, die der Text zunächst selbst aufruft, zu unterminieren. Dennoch ist es bemerkenswert, dass der erste dänische Erzähltext, der jüdische Figuren auftreten lässt und ihnen eine so zentrale Rolle zuweist, zugleich die Konstruiertheit des Bildes von „dem Juden“ und „der Jüdin“ in sich aufnimmt und thematisiert.

2.4.3 Erlösen

Über die Beziehung zwischen Benjamine und den beiden männlichen Figuren Philip Moses und Veit ist die Frage nach der Religion in den Diskurs von Leben und Tod eingeschrieben. Die Entscheidung, die Benjamine zu treffen hat, bedeutet zunächst, dass sie einen der beiden Männer verlieren muss: entweder ihren jüdischen Großvater, der ihre Vergangenheit und Herkunft repräsentiert, ihr jedoch als Perspektive nur den frühen Tod zu bieten hat, oder Veit, der ihre Zukunft sein könnte und mit dem sie auch sexuell eine fruchtbare Verbindung eingehen würde. Da in der Logik der Novelle Benjamines Anziehungskraft eben genau in ihrer vollkommenen Bereitschaft zur Aufopferung und ihrer Hingabe für das Wohlergehen ihres Großvaters besteht, entscheidet sich Benjamine trotz ihrer fruchtbaren Liebe zu Veit für die unfruchtbare Liebe zu ihrem Großvater. Und derselben Logik folgend fügt sich Veit in dieses Schicksal, nachdem er den alten Rabbiner noch einmal für ein Gespräch aufgesucht hat (IngemannIngemann, Bernhard Severin 2007: 119). So entschließt er sich, endgültig zurück nach Rom zu reisen, in die Künstlerkolonie, aus der er erst kurze Zeit zuvor in seine Heimatstadt zurückgekehrt war, und damit auch ins religiöse Zentrum des Christentums. Für Benjamine hingegen scheint das Gebundensein an Philip Moses in jedem Fall den Tod zu bedeuten. Sein Tod bedeutet ihren Tod, denn auch wenn der alte Rabbiner stirbt, wird sie sich nicht von ihrem Treuegelübde entbinden. „[H]endes Hjerte vil maaske briste derved; men hun vil ikke være den Døde mindre tro, end den Levende [Ihr Herz mag vielleicht daran zerbrechen; aber sie würde dem Toten nicht weniger treu sein als dem Lebenden]“ (Ingemann 2007: 120). Aber die Novelle findet schließlich doch noch ein glückliches Ende. Philip Moses, der bald wieder erkrankt und auf dem Totenbett von Benjamine gepflegt wird, empfängt noch im letzten Moment seines Lebens durch das weit geöffnete Fenster den Heiligen Geist und prophezeit mit letztem Lebenshauch seiner Enkelin, dass sie an seinem Grab ihre Erlösung finden werde:

Han havde bedet Benjamine aabne Vinduet, at han endu engang kunde see den lyse Himmel, og da var det ligesom et helligt Syn hadve viist sig for ham i den venlige Morgenrøde. – „Skuffe mig ikke mine bristende Øine“ – havde han sagt – „saa kom til min Grav, Benjamine! og min Aand skal vise dig din Frelse“ – her var hans Stemme bleven utydelig; men hans Aasyn havde smilet forunderlig saligt. Med den stivnende Haand havde han endnu gjort et Tegn paa sit Dødsleie som et Kors, og rolig havde han opgivet Aanden i Benjamines Arme. (IngemannIngemann, Bernhard Severin 2007: 122)

Er hatte Benjamine gebeten, das Fenster zu öffnen, damit er noch einmal den leuchtenden Himmel sehen konnte, und da hatte sich ihm gleichsam eine heilige Erscheinung in der freundlichen Morgenröte gezeigt. – „Täuschen mich meine brechenden Augen nicht“ – hatte er gesagt – „so komm an mein Grab, Benjamine! und mein Geist wird dir deine Erlösung zeigen“ – hier war seine Stimme undeutlich geworden; doch sein Gesicht hatte wundersam selig gelächelt. Mit der steifen Hand hatte er noch ein Zeichen auf seinem Totenlager gemacht, wie ein Kreuz, und ruhig hatte er seinen Geist in Benjamines Armen aufgegeben.

Anders als Benjamine, deren religiöse Erkenntnis durch den Blick des Künstlers eintritt, ereilt Philip Moses die Erleuchtung am und durch das Fenster. Wie bei Veit dient es auch hier als Metapher der Erkenntnis. Das heißt wiederum, dass Religiosität und Erkenntnis erneut mit der Kategorie Geschlecht verschränkt und hierarchisiert werden. Während beide Männer durch das Fenster Erkenntnis erlangen, ist Benjamines Erkenntnis an das Gesehenwerden durch einen christlichen Mann gebunden. Allerdings ist wiederum die Vorbedingung für Philip Moses’ Erleuchtungsmoment, dass dieser zuvor die Worte des Neuen Testaments aus dem Mund seiner Enkelin Benjamine gehört hat, wodurch Benjamine als Mittlerin zwischen Alt und Neu, Judentum und Christentum hierarchisch eine Zwischenposition einnimmt, die jedoch nicht unabhängig vom christlichen Mann gedacht werden kann.

Am Grab des Großvaters tritt Benjamines Erlösung in Gestalt Veits auf, der gekommen ist, in der Hoffnung, Benjamine dort vorzufinden und von ihr Abschied nehmen zu können. Er wartet „den fromme Piges Bøn [das Gebet des frommen Mädchens]“ ab und tritt ihr dann „stille og høitidelig [still und feierlich]“ entgegen.

I hans Haand lyste et Kors af glindsende Perlemor, som hans afdøde Moder fordum havde givet ham som Barn, til Den, han engang gav sit Hjerte. […] Det skinnede nu smukt i de klare venlige Maanestraaler. (IngemannIngemann, Bernhard Severin 2007: 121)

In seiner Hand leuchtete ein Kreuz aus schimmerndem Perlmutt, das seine verstorbene Mutter ihm als Kind ehemals gegeben hatte, für diejenige, der er einmal sein Herzen schenken würde. Es leuchtete nun schön in den klaren freundlichen Mondstrahlen.

Damit erfüllt sich die letzte Prophezeiung des Rabbiners, denn, so erklärt Benjamine:

„Ved denne Grav skulde jeg skue min Frelse – det var hans sidste Ord til mig, da en Engel forklarede hans Aasyn i Døden. Og see! hans Aand har ledet dig hid med det hellige Tegn i din Haand, som nu forener mig med din Frelser for evig.“ (IngemannIngemann, Bernhard Severin 2007: 122)

„An diesem Grab sollte ich meine Erlösung schauen – das waren seine letzten Worte zu mir, als ein Engel ihm seinen Blick im Tode verklärte. Und siehe! sein Geist hat dich hierher geleitet, mit dem heiligen Zeichen in der Hand, das mich nun auf Ewig mit deinem Erlöser vereinigt.“

Auf diese Weise erzählt die Novelle den romantischen Idealweg der Überwindung des Judentums. Das Judentum in seiner mythisch überhöhten Darstellung hat dabei Teil an seiner eigenen Überwindung. Es zeigt den Weg zurück in eine religiöse Vergangenheit, auf deren Grundlage der Aufbruch in ein neues Christentum geschieht. Über das Grab hinweg reicht Benjamine Veit die Hand „og sank med stille Taarer til hans Hjerte [und sank mit stillen Tränen an sein Herz]“ (IngemannIngemann, Bernhard Severin 2007: 122). So bildet das Grab des Alten die Grundlage für das Neue.1 Das Judentum wurde überwunden, doch es stellt die Grundlage für eine tiefe Religiosität dar, die das Judentum in sich aufnimmt. Diese Religiosität soll Hartwich zufolge nicht nur das Judentum, sondern auch die säkulare Welt überwinden:

Die Erlösung vom Judentum vollzieht sich nicht als Vernichtung des Judentums, sondern als Transformation der säkularen Welt nach dem Urbild des jüdischen Mythos, der auch die aktuellen Gestalten des Judentums überwindet. (Hartwich 2005: 28)

Gemeint ist also eine Hinwendung zum Judentum, wie es von den deutschen Romantikern als „ursprünglich“ imaginiert wurde, und zugleich dessen Überwindung durch ein erneuertes Christentum. IngemannsIngemann, Bernhard Severin Novelle zeigt in ihrer Darstellung und Bewertung des Judentums und ihrer Auflösung des religiösen Konflikts eine offensichtliche Ambivalenz, die ganz in der Tradition HerdersHerder, Johann Gottfried steht, der in seinen Schriften zum Judentum „die christlichen, national-mythologischen und orientalischen Stereotypen des Judentums aufgreift und poetisch überformt“ (Hartwich 2005: 39). Einerseits muss das Judentum überwunden werden, denn nur seine Überwindung bedeutet Leben statt Tod für Benjamine, nur seine Überwindung weist in die Zukunft. Andererseits bildet es die Basis, auf der Benjamine und Veit einander die Hände reichen. Die junge Jüdin, in der sich die mythologisch-jüdische Vergangenheit und die christliche Zukunft vereinen, ist auch für Veit die Grundlage für seine Zukunft und sein Leben. Ohne Benjamine hätte er seine Heimatstadt verlassen „for bestandig og begrave sig med sin haabløse Lidenskab blandt de gamle Roms Ruiner [für immer und sich mit seiner hoffnungslosen Leidenschaft zwischen den Ruinen des alten Rom begraben]“ (Ingemann 2007: 121). Nur aus der Verbindung zwischen dem christlichen Künstler und der jüdischen Frau kann ein neues religiöses Ideal erwachsen. Was einer der reichen Freunde des Juwelenhändlers Samuel als pragmatische Lösung gegen die Ausgrenzung der Juden vorgeschlagen hat, dass nämlich die Frauen und Töchter der Juden sich zugeneigt und willig gegenüber den Söhnen der Christen zeigen sollen, wird hier in der veredelten Form vollzogen: mit Achtung vor der alten Religion und innerlicher Hingabe an die neue Religion, mit Liebe zur Vergangenheit, aber unbedingtem Verlangen nach der Zukunft. Die imaginierte Szene im Hause Samuels stellt das säkulare Zerrbild der Vereinigung zwischen Judentum und Christentum dar. Die Szene am Grabe des alten Rabbiners ist ihr religiöses Idealbild.

Die idealisierte Vereinigung zwischen Judentum und Christentum ist bereits in den Namen Philip Moses selbst eingeschrieben. Moses lässt sich selbstredend als Name erkennen, der den Ursprung des Judentums und dessen ersten Propheten repräsentiert. Philip – oder Philippus – jedoch ist der Name eines der Jünger Jesu, der Gott in Jesus zunächst nicht zu erkennen vermag und daher um einen Beweis bittet:

Spricht zu ihm Philippus: Herr, zeige uns den Vater, und es genügt uns. Jesus spricht zu ihm: So lange bin ich bei euch, und du kennst mich nicht, Philippus? Wer mich sieht, der sieht den Vater. Wie sprichst du dann: Zeige uns den Vater? Glaubst du nicht, dass ich im Vater bin und der Vater in mir? (Joh. 14,8–11)2

Der Name des alten Rabbiners ist also selbst Prophezeiung und nimmt seine späte Erkenntnis des christlichen und somit „richtigen“ Glaubens vorweg. Zugleich macht bereits der Name der Figur deutlich, dass es sich nicht um die realistische Darstellung eines jüdischen Rabbiners und um die Auseinandersetzung mit dem Judentum handelt, sondern dass die Figur von vornherein einzig darauf angelegt ist, im Christentum die Wahrheit zu erkennen. Dass die Namen der Figuren keineswegs zufällig sind, sondern im Gegenteil besondere Beachtung verdienen, darauf macht der Text selbst aufmerksam, wenn Benjamine ihrem Großvater in Aussicht stellt, er könne den kleinen Kindern von Isaak die Geschichten erzählen „om Joseph og hans Brødre og om den lille Benjamin, min Navne, ligesom du lærte mig hos Moder Rachel, da jeg var lille [von Joseph und seinen Brüdern und von dem kleinen Benjamin, meinem Namensvetter, wie du es mich bei Mutter Rachel gelehrt hast, als ich klein war]“ (IngemannIngemann, Bernhard Severin 2007: 107). Benjamin war der liebste Sohn Jakobs, der jüngste Nachkomme des letzten Patriarchen. Die Figur der Benjamine gibt also selbst eine Anleitung zum Textverständnis. Sie ist die letzte Nachfahrin des Rabbiners. Zwar hat er jüngere Enkelkinder, doch haben die sich bereits von der jüdischen Tradition entfernt. Sein geistiges Erbe tritt allein Benjamine an. Sie nun überführt dieses Erbe direkt ins Christentum. Und sie ist eben kein Benjamin, sondern eine Benjamine und kann sich als jüdische Frau mit einem Christen vermählen und das Judentum überwinden. Auch der Christ trägt einen sprechenden Namen. Zwar sind Herkunft und Bedeutung des Namens Veit sprachwissenschaftlich nicht eindeutig geklärt, doch lässt sich ‚Veit‘ unter anderem als Ableitung des lateinischen Vitus von Vita – Leben – lesen (vgl. Torsy/Kracht 2002: 184).3

Возрастное ограничение:
0+
Объем:
571 стр. 2 иллюстрации
ISBN:
9783772001352
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают