Читать книгу: «Philosemitische Schwärmereien. Jüdische Figuren in der dänischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts», страница 5

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2 Bernhard Severin Ingemann: Den gamle Rabbin (1827)

Die erste Textanalyse dieser Arbeit stellt einen Auftakt für die folgenden Kapitel dar. Anhand der Novelle Den gamle Rabbin [Der alte Rabbiner] von Bernhard Severin IngemannIngemann, Bernhard Severin (1798–1862) aus dem Jahr 1827 sollen hier Themen, Motive und Topoi aufgezeigt werden, die für die Untersuchung der darauffolgenden Erzähltexte im weiteren Verlauf der Arbeit notwendig zu kennen sind. Zunächst einmal sind das die Topoi ‚die schöne Jüdin‘ und ‚der edle Jude‘ ebenso wie die Figur des ‚ewigen Juden‘ Ahasverus. Das sind aber auch Fragen nach Religion, jüdischer Emanzipation und Judenfeindschaft, nach der Säkularisierung der Gesellschaft und der Rolle der Kunst und des Künstlers in diesem Diskursgeflecht. Ergänzend werden zwei weitere Erzähltexte in die Analyse einbezogen und dort mit der Novelle in Beziehung gesetzt, wo diese Kontextualisierung zum Verständnis der Novelle beiträgt. Beides sind Texte von Hans Christian AndersenAndersen, Hans Christian: sein fast 30 Jahre später erschienenes Märchen Jødepigen und sein Debütroman Fodreise fra Holmens Canal til Østpynten af Amager i Aarene 1828 og 1829, kurz: Fodreise, der 1829 erschien.

Bei der Untersuchung von Texten mit jüdischen Figuren ist es kaum vermeidbar, immer wieder Stereotype aufzugreifen, sie explizit zu benennen und dadurch wiederum zu perpetuieren und zwar auch dort, wo Texte analysiert werden, die diese Stereotype selbst zu unterlaufen suchen (vgl. hierzu Sucker/Wohl von Haselberg 2013: 13–17). Dieses Paradox innerhalb der literaturwissenschaftlichen Antisemitismusforschung wird seit den 2000er-Jahren selbstreflexiv thematisiert und durch Analysemethoden, die sowohl die Flexibilität von Vorurteilen als auch das Verhältnis zwischen Selbst- und Fremdbild berücksichtigen, zu vermeiden versucht (vgl. Körte 2000: 12–14, 2007: 59–73; Schößer 2009: 32–36; Gutsche 2014: 43; Thurn 2015: 67–68). Jedoch: Um Stereotype zu entlarven, müssen sie benannt werden; jede Benennung verfestigt diese Stereotype wiederum. Ich werde in dieser Untersuchung also Stereotype dort benennen, wo sie für die Untersuchung aufgezeigt werden müssen, weil dies für die Analyse notwendig und fruchtbar ist. Jedoch nehme ich Abstand davon, dort explizit auf sie hinzuweisen, wo dies zu einer reinen Aufzählung führen würde, die über die Motivgeschichte hinaus keinen Erkenntnisgewinn brächte.

2.1 Den gamle Rabbin – Kontext und Einstieg

IngemannIngemann, Bernhard Severin wird oftmals als als einer der progressiven Autoren seiner Zeit bezeichnet, als derjenige, der „indfører tysk romantiks fantastik i Danmark [die Phantastik der deutschen Romantik in Dänemark eingeführt hat]“ (Lundgreen-Nielsen/Harding 2017). Insbesondere Ludwig Tieck und E. T. A. HoffmannHoffmann, E. T. A. waren prägend für sein Schreiben, aber auch die zeitgenössische englische Literatur beeinflusste ihn stark, vor allem Sir Walter ScottsScott, Sir Walter neue Gattung des historischen Romans und die Gothic Novel, beziehungsweise der Schauerroman (vgl. hierzu Müller-Wille 2016: 153–182). Dabei überschritt Ingemann in seinem eigenen Schreiben Gattungsgrenzen, er experimentierte mit Neumodischem, Populärliterarischem und Autofiktivem, dichtete auch etliche religiöse Psalmen und gilt nicht zuletzt als einer der einflussreichsten Autoren für den eine knappe Generation jüngeren Hans Christian AndersenAndersen, Hans Christian, mit dem Ingemann freundschaftlich verbunden war (vgl. Kofoed 1992). Im Gegensatz zu Andersen ist Ingemann jedoch recht wenig beforscht. In den 1980er und 1990er-Jahren sind einige Aufsätze erschienen, die sich mit Ingemanns Schreiben und den literarischen Einflüssen befassen, die in seine Dichtung Eingang fanden (vgl. z.B. Albertsen 1989; Eriksen 1999; Glauser 1987; Lundgreen-Nielsen 1989; Rossel 1990). Seit Beginn der 2000er-Jahre hingegen ist es in der literaturwissenschaftlichen Forschung stiller um Ingemann geworden, eine Biographie über ihn erschien gar zuletzt 1949 (Langballe, C. 1949). Hier nun soll es um eine Novelle gehen, die 1827 veröffentlich wurde und die erste in einer Reihe von Texten ist, in denen jüdische Figuren Eingang in die dänische Erzählliteratur finden.

Die Novelle Den gamle Rabbin von IngemannIngemann, Bernhard Severin scheint auf den ersten Blick wenig bemerkenswert. Dem Auge der heutigen Leserin stellt sich eine Figurenkonstellation dar, die stereotyper und klischeehafter kaum sein könnte. Ein alter Jude, der tiefreligiöse Rabbiner Philip Moses, und seine wunderschöne, fromme, duldsame und fürsorgliche Enkeltochter Benjamine haben bei den säkularisierten und zum Teil bereits fast vollständig assimilierten Juden ihrer Hamburger Gemeinde keine Heimat mehr. Sowohl geistig als auch räumlich sind sie innerhalb der jüdischen Gemeinde heimatlos. Benjamine hat weder Vater noch Mutter. Ihre Onkel, die beiden Söhne des alten Philip Moses, sind ein skrupelloser und reicher Juwelenhändler (Samuel) und ein in der bürgerlichen Ehe mit einer Christin assimilierter Kleiderhändler (Isaak), die ihre Herkunft und Religion weitestgehend abgestreift haben. Als Retter in mehrfacher Hinsicht erweist sich ein junger Christ und Künstler, Veit, der die beiden Heimatlosen bei sich aufnimmt, und den Benjamine mit dem posthumen Segen ihres Großvaters, der auf dem Totenbett endlich vom Heiligen Geist heimgesucht wird, ehelichen darf und dessen Religion sie im Herzen bereits längst angenommen hat.

So zusammengefasst stellt die Novelle tatsächlich eine idealtypische Anhäufung von Klischees dar, die kaum den Ruf IngemannsIngemann, Bernhard Severin als progressivem und experimentierfreudigem Autor zu rechtfertigen scheinen. In ihrer Schablonenhaftigkeit erscheint die Novelle vielmehr altbacken, bieder und vorhersehbar. Betrachtet man die literarische Landschaft der Zeit aber genauer und sucht nach den literarischen Vorgängern und Vorgängerinnen des alten Rabbiners und seiner schönen Enkelin in der dänischen Literatur, findet man – fast nichts. So verdient der Text als erster seiner Art in Dänemark eben doch Beachtung.

2.2 Prototypen

Obwohl die Novelle eine Neuerung in der literarischen Landschaft Dänemarks darstellt, sind die Topoi, auf die sie zurückgreift, keineswegs unbekannt. In der deutschsprachigen und auch der englischen Literatur finden sich literarische Vorbilder, die über die Landes-, Gattungs- und Epochengrenzen hinaus wirksam sind. In den folgenden beiden Abschnitten sollen die Topoi vorgestellt werden, die in allen hier untersuchten Novellen und Romanen eine zentrale Rolle spielen: die ‚schöne Jüdin‘ und der ‚edle Jude‘. Diese Figurentypen werden in den anderen Erzähltexten zitiert, variiert und manchmal auch auf überraschende Weise gebrochen. In Den gamle Rabbin aber sind sie als paradigmatische Prototypen in den Text geschrieben. An ihrem Beispiel lassen sich die beiden Topoi, um die es in den späteren Kapiteln dieser Arbeit immer wieder gehen wird, anschaulich skizzieren.

2.2.1 Die ‚schöne Jüdin‘

Die schöne Benjamine wird als „ung sorthaaret Pige [junges schwarzhaariges Mädchen]“ in die Novelle eingeführt, das „skjælvende af Kulde, ved en gammel Jødes Side [gikk] og syntes at trøste ham med en venlig deeltagende Stemme [vor Kälte zitternd an der Seite eines alten Juden ging und ihn mit freundlich teilnahmsvoller Stimme zu trösten schien]“. Im Mondlicht sieht der alte Jude – es ist der Rabbiner – „Taarerne glindse i de lange sorte Øienhaar [die Tränen in den langen schwarzen Wimpern schimmern]“ (IngemannIngemann, Bernhard Severin 2007: 106). Wenngleich eine solche Figur erstmals in der dänischen Literatur auftritt, darf angenommen werden, dass sie einem großen Teil des Lesepublikum bereits vertraut war. Seit dem 17.Jahrhundert hat sich die ‚schöne Jüdin‘ in der deutschsprachigen Literatur zu einem Topos entwickelt, der bis in die Gegenwart hinein wirksam ist, und der zu Beginn des 19.Jahrhunderts einen Popularitätshöhepunkt erreichte. Florian Krobb stellt in seiner Untersuchung Die schöne Jüdin. Jüdische Frauengestalten in der deutschsprachigen Erzählliteratur vom 17.Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg fest:

Zumindest vom ersten Drittel des 19.Jahrhunderts an gehörte der Topos ‚Die Schöne Jüdin‘ im deutschen Sprachraum zum allgemeinen Sprachgebrauch und kollektivem Bewußtsein […]. Wenn ein bestimmtes Vorverständnis aber ganz selbstverständlich vorausgesetzt werden kann, so ergeben sich daraus Konsequenzen für die literarische Verwendung: die Gestalt braucht nicht mehr beschrieben, sondern nur noch benannt zu werden, um das Vorverständnis aufzurufen. Oder aber es genügt die Erwähnung weniger Merkmale, um die beschriebene Figur zuzuordnen und ihre stereotype Bezeichnung mit all ihren Konnotationen zu assoziieren. (Krobb 1993: 11)

Das bedeutet, dass die wenigen von IngemannIngemann, Bernhard Severin aufgerufenen Merkmale ausreichend sind, um beim Leser ein viel umfassenderes Bild zu erzeugen, mit dem all jene Assoziationen verbunden sind, die Krobb folgendermaßen zusammenfasst:

‚Rätselhafte Frauenschönheit‘ und ‚das Abenteuer der Assimilation‘ – das Zusammentreffen dieser beiden Attribute erotischer Ausstrahlung und bürgerlichen Emanzipationswunsches macht die Gestalt der ‚Schönen Jüdin‘ recht eigentlich aus. (Krobb 1993: 20)

So wird die bescheidene und fromme Benjamine zwar mit keinem Wort als erotisch dargestellt. Der Assoziationsraum, den sie mit dem Topos ‚schöne Jüdin‘ öffnet, ermöglicht es aber trotzdem, sie als erotisch aufgeladen zu denken. Mit ihrem Eintritt in die dänische Literatur zitiert Benjamine eine der populärsten ‚schönen Jüdinnen‘ des 19.Jahrhunderts: Rebecca von York aus Sir Walther ScottsScott, Sir Walter Roman Ivanhoe von 1819 (vgl. Krobb 1993: 123–124; siehe auch Kapitel 5.6.2.). Rebecca ist von außergewöhnlicher Schönheit und sexueller Attraktivität, dabei aber fromm, bescheiden und duldsam, wie auch Benjamine es ist. Und wie Benjamine, die während der Hep-Hep-Krawalle am Arm ihres Großvaters die dänische Erzählliteratur betritt, ist Rebecca durch einen Tumult verängstigt und klammert sich „fest an den Arm ihres bejahrten Vaters“ (Scott 1971: 90). Der viel zu alte jüdische Mann an Rebeccas wie an Benjamines Seite signalisiert dem Leser unmittelbar, dass diese Frau einen jungen Beschützer und Retter benötigt. Und auch Benjamines Körper selbst ist lesbar: Ihre Schönheit, ihre Tränen, ihr Zittern signalisieren Reinheit, Unschuld und Verletzlichkeit und verlangen nach einem Mann – und zwar einem Christen. Ohne ihn wird sie am Arm des alten Juden zugrunde gehen.

Die ‚schöne Jüdin‘, das zeigt dieses kurze Beispiel, nimmt das ebenfalls um 1800 an Popularität gewinnende Konzept der ‚schönen Seele‘ in sich auf, das Friedrich SchillerSchiller, Friedrich 1793 in seiner philosophischen Schrift Über Anmut und Würde in Auseinandersetzung mit Immanuel Kants ästhetischen Schriften und vor ihm bereits Jacob Friedrich AbelAbel, Jacob Friedrich in seinem Werk Einleitung in die Seelenlehre von 1786 (1985) formuliert haben. Eingeschrieben in dieses Konzept ist die Lesbarkeit der ‚schönen Seele‘ anhand ihres Körpers. Äußere und innere Schönheit werden in ein Abhängigkeitsverhältnis zueinander gestellt, äußere Zeichen von Schönheit als Beweis von Tugendhaftigkeit gedeutet. In Heinrich von KleistsKleist, Heinrich von Lustspiel Der zerbrochene Krug von 1811 (2001), uraufgeführt bereits 1808, dient diese vermeintliche Lesbarkeit des Körpers sogar als Beweis vor Gericht.1 Und so wird auch der Körper der ‚schönen Jüdin‘ Benjamine im Handlungsverlauf immer wieder gelesen werden – durch den christlichen Mann, der schließlich ihr Retter wird (vgl. Kapitel 2.4), und durch den Leser selbst, der gleich zu Beginn die Tränen und die langen Wimpern der Jüdin als sichtbare Zeichen ihrer schönen Seele erkennt und unmittelbar begreift, dass sie zwar bei dem alten Juden keine Zukunft hat, dass sie ihn aber unter keinen Umständen verlassen kann.

2.2.2 Der ‚edle Jude‘

Der alte Rabbiner, der erste Jude in der dänischen Erzählliteratur überhaupt, betritt nicht als Nebenfigur die literarische Szene. Er ist im Gegenteil als tragende Figur gestaltet und sogar titelgebend für die Erzählung. Die Novelle beginnt direkt mit seiner Figurenrede:

„Er din Forfølgelsesdag nu kommen igjen? fortabte, ulykkelige Israel!“ – sagde den gamle Rabbin Philip Moses og rystede sit hvide graaskæggede Hoved, da en Efteraarsaften 1819 Stenene fløi ind ad Vinduerne til ham, medens den hamborgske Pøbel raabte: „Hep! Hep!“ (IngemannIngemann, Bernhard Severin 2007: 99)

„Ist der Tag deiner Verfolgung nun wieder gekommen? verlorenes, unglückliches Israel!“ – sagte der alte Rabbiner Philip Moses und schüttelte sein weißes, graubärtiges Haupt, als an einem Herbstabend 1819 die Steine durch die Fenster zu ihm flogen, während der hamburgische Pöbel „Hep! Hep!“ rief.

Bereits mit diesen ersten Sätzen sind die wesentlichen Eigenschaften des Rabbiners skizziert. Seine Figurenrede und sein Äußeres kennzeichnen ihn als streng religiös, sein weißes Haar und der graue Bart markieren ihn als fromm und würdevoll, gleich einem biblischen Erzvater. Auch er ist also durch sein Äußeres lesbar, wenngleich unter seinen literarischen Vorgängern ihm keineswegs alle ähnlich sind. Anders als Benjamine, die mit wenigen Worten als ‚schöne Jüdin‘ erkennbar wird, gibt es für den ‚edlen Juden‘ Philip Moses nämlich verhältnismäßig wenig vergleichbare Vorbilder. Jüdische Männerfiguren waren in der Literatur bislang überwiegend mittels judenfeindlicher Stereotype gestaltet (vgl. Gutsche 2014; Schumacher 2000). Ihre prominentesten und literarisch produktivsten Vertreter sind jedoch zumindest ambivalent und verweisen immer auch auf die Christen, die den Juden gegenüber schuldig geworden sind, wie es IngemannsIngemann, Bernhard Severin Novelle mit diesen ersten Sätzen gleich zu Beginn tut. So steht beispielsweise der Vater der schönen Rebecca, Isaac von York, in ScottsScott, Sir Walter Ivanhoe, der durch judenfeindliche Zuschreibungen charakterisiert ist, in der Tradition des äußerst ambivalenten ShylockShakespeare, William aus Shakespeares Kaufmann von Venedig [1598] (2014). Dessen „blutiger Handel ist die Folge endloser Kränkungen“ (Körte 2007: 63) und wird mit der Judenfeindschaft, die ihm als Juden allenthalben entgegenschlägt, nachvollziehbar gemacht, so dass „Shakespeares Jude manchmal sympathisch ist“ und „seine Christen es manchmal nicht sind“, wie David Nirenberg (2015: 279) in seiner Betrachtung des Dramas im Rahman seiner Monografie Antijudaismus. Eine andere Geschichte des westlichen Denkens anmerkt. Dennoch reichen diese Erfahrungen von Judenfeindschaft und Gewalt nicht aus, um Shylocks Handeln moralisch zu rechtfertigen und ihn als „gut“ erscheinen zu lassen. Als Vorbild für einen ‚edlen Juden‘ kann sich Ingemann fast ausschließlich auf die Figur des NathanLessing, Gotthold Ephraim in Lessings Drama Nathan der Weise [1779] (2000) beziehen, wobei auch er literarische Vorgänger hat.1 Von Lessings (2002) Hand selbst ist ein solcher Vorgänger der namenlose Jude in seinem Lustspiel Die Juden, das bereits 30 Jahre vorher, 1749, uraufgeführt wurde. Seinen ersten Auftritt in der deutschsprachigen Literatur hatte der ‚edle Jude‘ ein Jahr zuvor in Christian Fürchtegott GellertsGellert, Christian Fürchtegott Roman Leben der schwedischen Gräfin von G*** [1748] (2015). Entscheidend für das großmütige Handeln von Gellerts ‚edlem Juden‘ ist, dass dieser zuvor die Erfahrung gemacht hat, von einem Christen aus der Gewalt anderer Christen gerettet worden zu sein. Diese Erfahrung, die vor dem Zeitraum der erzählten Handlung liegt, teilen auch Lessings edle Judenfiguren, und wie diese verdankt schließlich auch der erste dänische ‚edle Jude‘ in HeibergsHeiberg, Peter Andreas Komödie Chinafarerne von 1792 „seine Ehrenhaftigkeit […] im Grunde der noch edleren Tat eines Christen“ (Räthel 2016: 123). Gewalt gegen Juden ist Teil des literarischen Topos vom ‚edlen Juden‘. Anders als in den Vorgängertexten liegt in Ingemanns Novelle die Gewalterfahrung jedoch nicht in der Vergangenheit, sondern die Erzählung beginnt unmittelbar mit ihr. Der Leser wohnt also der Rettung durch den Christen und somit einem wesentlichen Teil des „Veredelungsprozesses“ bei.

Der ‚edle Jude‘ ist – wie auch die ‚schöne Jüdin‘ – ohne christliche Figuren als deren Resonanzraum weder zu denken noch zu verstehen. Obwohl die Gewalt in diesen ersten Passagen der Novelle von Christen ausgeht, findet die Novelle jedoch, in Form der Figurenrede des Rabbiners, die Schuld zunächst nicht bei den Steine werfenden Christen, sondern bei den Juden selbst. Denn Philip Moses fährt fort:

„Ja, I har Ret“ – vedblev han – „Jerusalem er lagt i Gruus og forstyrret. Stener os kun, I Jehovas Morderengle! I hans Vredes hylende Udsendinge! Hans Langmodighed var stor; men hans Folk forglemte ham i sin Udlændigheds Smitte: de foragtede Loven og Propheterne i de Fremmedes Porte; de have bladet deres Blod med de Vantroes – see! derfor skal Guds Folk udslettes af Jorden og bortstenes af de Levendes Land.“ (IngemannIngemann, Bernhard Severin 2007: 99)

„Ja, Ihr habt Recht“ – fuhr er fort – „Jerusalem ist in Schutt gelegt und zerstört. Steinigt uns nur, Ihr Mordengel Jehovas!2 Ihr heulenden Abgesandten seines Zorns! Sein Langmut war groß; doch sein Volk vergaß ihn, angesteckt in seinem Exil: sie verachteten das Gesetz und die Propheten unter den Toren der Fremden; sie haben ihr Blut mit denen der Ungläubigen vermischt – seht! darum soll Gottes Volk von der Erde ausgelöscht und aus dem Land der Lebenden hinfortgesteinigt werden.“

Die Bewegung, die der Text in den ersten beiden Abschnitten unternimmt, ist extrem ambivalent: Zunächst wird die jüdische Figur durch ihr Äußeres als würdevoll, respektabel und somit als edel markiert. Aus der Figurenrede wird deutlich, dass dieser Jude sich selbst durch seine tiefempfundene Religiosität moralisch unangreifbar macht. Damit wird die physische Gewalt, der er gerade ausgesetzt ist, als ungerechtfertigt verurteilt. Zugleich wird mittels seiner Figurenrede ein Erklärungsangebot gemacht, das die Gewalt zumindest gegenüber einem Teil der jüdischen Bevölkerung legitimiert. Nicht nur wird die Schuld für die Gewalt bei den Juden selbst gefunden, dieser Schuldspruch geschieht überdies durch die jüdische Hauptfigur selbst, die durch ihre eigene religiöse Integrität mit besonderer Autorität ausgestattet ist. Im weiteren Textverlauf zeigt sich, dass gerade jene Figuren, die diese Autorität anerkennen, nämlich seine Enkelin und der Christ Veit, schließlich diejenigen sind, welche die religiösen Gewissheiten des alten Rabbiners ins Wanken bringen. So wird schließlich tatsächlich das Judentums des alten Rabbiners zum Verschwinden gebracht – allerdings nicht mit körperlicher Gewalt, von der sich der Text weiterhin distanziert, sondern mit einer als dezidiert christlich dargestellten Religiosität. Damit wird zugleich die anfängliche Figurenrede von Philip Moses infrage gestellt. Zwar wird sie in ihrer Konsequenz bestätigt, denn das Judentum wird zum Verschwinden gebracht. Doch nicht durch „Jehovas Zorn“ wird „Gottes Volk von der Erde ausgelöscht“, sondern durch die Überzeugungskraft des Christentums, in dem das Judentum aufgeht (vgl. Kapitel 2.4). Anders als LessingsLessing, Gotthold Ephraim Nathan arbeitet IngemannsIngemann, Bernhard Severin Novelle nicht mit dem Postulat, dass alle (monotheistischen) Religionen denselben Wahrheitsgehalt verkörpern. Vielmehr führt die physische Rettung des gläubigen Juden zu seiner religiösen Bekehrung und somit zur Überwindung des Judentums. Das Judentum wird nicht als eine lebendige zeitgenössische Religion dargestellt, sondern als Mutterreligion, die vom Christentum als Tochterreligion abgelöst wurde und deren Entwicklung seit der Entstehung des Christentums stagniert ist.3 Der Text braucht und benutzt die Figur des ‚edlen Juden‘, um über eine Erneuerung des Christentums sprechen zu können. Der alte Rabbiner Philip Moses stellt ein philosemitisches Phantasma dar, dessen Religiosität als ein Idealbild jüdischer Frömmigkeit fantasiert wird, gleichzeitig aber überwunden und ins Christentum inkorporiert werden muss. Damit dient der ‚edle Jude‘ schließlich der Veredelung des Christentums und fungiert allein „als moralischer Appell an die Christen“. Eine „spezifisch jüdische Identität“ der Figur ist dabei „letztlich gleichgültig“ (Surall 2008: 313). Die in der Figur des alten Rabbiners repräsentierte Vorstellung eines idealisierten Judentums wird in der Novelle mit verschiedenen Varianten der Akkulturation kontrastiert, die in den folgenden Abschnitten untersucht werden soll. Dabei nimmt der Text auch eine kritische Haltung gegenüber der sich säkularisierenden christlichen Mehrheitsgesellschaft ein.

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